Claudia Märzendorfer und die Eisschallplatte
Kennen Sie das? Es gibt Menschen in meinem Bekanntenkreis, die ich selten sehe, die ich unfassbar mag, dennoch entsteht daraus keine Freundschaft. Ist das ein Zeichen von Älterwerden? Man mag und möchte. Aber man muss nicht mehr. Man liebt. Aber man muss nichts davon haben. Klingt wie aus einer Predigt. Ist aber ein schönes Gefühl. Ein Gefühl von Freiheit, von Reifung. Ja ich bin durch und durch prall und überreif.
Bald platze ich vor Reife und verstreue meine literarischen Liebes-Samen im virtuellen Raum. Ach was für ein Bild. Oder ich bleibe im Sinne einer Fruchtmumie am Baum hängen. Niemand pflückt mich.
Der kompromisslose Weg
Claudia Märzendorfer lernte ich in der von Eltern verwalteten Schule «Ätsch» kennen, wo unsere Töchter Anfang der 2000er-Jahre in häuslichem Unterricht die Volksschulzeit verbrachten und Freundschaft schlossen. Ich war damals noch Schauspielerin, Sängerin – sie war um einige Jahre jünger, bildende Künstlerin und am Weg sensationelle Arbeiten zu kreieren. Über Österreich hinweg sorgte sie in der Folge mit spektakulären Eisarbeiten für Aufsehen, einem völlig unbeständigem Material, flüchtiges Wasser, ein DJ-Set von Hunderten von Eisschallplatten zum Mozartjahr und mit den real großen handgestrickten LKW-Skulpturen, unter anderem ein original großer LKW-Reifen und Motorblock. Ich gebe es zu, ich bin auf ihren Erfolg regelrecht neidisch, traurig, dass mich das Schicksal nicht günstig nach oben befördert hat. Dass mir einschlägige Lehrer_innen gefehlt haben. Dass jenes Herausstechen, ja Herausstanzen, aus den vielen, vielen anderen genauso großartig inspirierten Künstler_innen, ein harter kompromissloser Weg ist, den ich nicht zur Gänze beschreiten konnte, da ich mich für zwei Kinder und Familie entschied. Das ist meistens der Punkt. Kunst ist mit Kindern nur möglich, wenn man sie abgibt – an Betreuungspersonal, was den Einsatz von ausreichend Kapital bedeutet oder die Hilfe der Großeltern.
Upsizingkapitalismus
Claudia Märzendorfer besuche ich in den Prater-Ateliers des Bundes, in einem übriggebliebenen Gebäude der Weltausstellung in Wien 1873. K.-u.-K.-Zeit. Schönbrunner-Gelb. Acht Meter hohe Räume. Nur ein Holzofen, vor dem wir in altem Mobiliar sitzen und uns einseitig wärmen im kalten Februar. Claudia ist extra für mich in ihr Atelier gekommen, das sie im Winter nicht benützen kann. Wie sie zu dem Atelier kam? Ein Freund riet ihr sich zu bewerben. Claudia dachte nicht daran, eine Chance zu haben. Doch das stellte sich glücklicherweise als Irrtum heraus.
Claudia und ich haben uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen und sprechen als Erstes über unsere Töchter. Und was seit der Volkschule passiert ist mit uns allen. Ich kenne Claudias Vater und besuchte ihn einst einmal in Graz, er hat dort ein Harmonikazentrum. Er ist bekannt in Österreich, ein musikalisches Unikat. Sein Vater war als steirischer Widerstandskämpfer im KZ in Oberösterreich. Es muss unfassbar sadistisch dort zugegangen sein, erzählt Claudia. Er musste im Winter draußen nackt arbeiten. Am Tag seiner geplanten Hinrichtung fiel sein Name, er erwartete seinen Tod, und – unvorstellbar – im gleichen Moment öffnen sich die Tore und die Amerikaner marschieren ins Lager. Es wurde nie darüber geredet.
Das Misstrauen in den Gemeinden war enorm. Sein Sohn Wolfram, Claudias Vater, war 1979 mit der Sängerin Marie-Therese Escribano und Aron Saltiel Mitbegründer der Gruppe Alondra; gemeinsam erforschten sie die Geschichte der sephardischen Musik und erarbeiteten zahlreiche Konzertprogramme. Das Harmonikazentrum Graz wurde 2017 in Castelfidardo bei Ancona für seine besonderen Verdienste von der UNESCO ausgezeichnet. Was für eine Familiengeschichte! Claudia erzählt mir, er lebt prekär, eine kleine Pension. Das macht mich nachdenklich. Claudia ist jünger als ich und ihr Vater 73 Jahre. «Ich bin ja als 68er-Kind aufgewachsen», sagt Claudia «was prägend war, ich habe nie gedacht, dass ich etwas anderes tun hätte können. Mein Vater war ein Wunderkind und hat schon als Dreijähriger Geld verdient, weil sein Vater nicht mehr arbeiten konnte. Und diese Sicherheit, dass es sich schon irgendwie ausgeht, mit dieser Sicherheit bin ich aufgewachsen. Mit vierzig habe ich dann aber eine Krise gehabt, das war kurz, bevor es mit dem Atelier hier etwas wurde und meine Arbeit in großem Rahmen publik wurde. Und seit ich hier im Prateratelier bin, arbeite ich ununterbrochen. Dadurch bin ich aus dem Schattendasein herausgekommen. Alle drei Jahre habe ich einen öffentlichen Auftrag. Dazwischen geht es durch kleinere Projekte weiter wie zum Beispiel das Gemeinschaftsprojekt, ein schwebender Skulpturengarten: Für die Vögel, frei nach dem Vorbild der Werkbundsiedlung, für ein zukunftsträchtiges Zusammenleben.»
Das Projekt setzt ein klares Zeichen für Vielfalt und Unkonventionelles. Es ist ein Gegenentwurf zu übersteigertem Individualismus und gesellschaftlichem Konformitätsdruck, Selbstausbeutung und in der Folge Krankheit. Ich erinnere mich, wie auch Claudia, gleichfalls an die Sichtweise der 60er- und 70er-Jahre – eine unbekümmerte Einstellung, das Leben werde es schon gut mit uns meinen. Das Leben besteht aber eben auch aus Menschen. Und die meinen es oft gar nicht gut. Der Upsizingkapitalismus drillte viele zur ununterbrochenen Selbstoptimierung, Entfremdung und zerstörte ganz direkt künstlerisches Leben. Mittlerweile haben sich einige Dinge zum Besseren gewendet, aber es bleibt nach wie vor faire Bezahlung aus und wir erleben es jetzt sehr deutlich, welche geringe Relevanz Künstler_innen von Politik und Gesellschaft entgegengebracht wird, anstatt sie emporzuheben und neu zu bewerten, als Seismograph_innen des Subtilen, als Wachhunde einer immer wieder zu bewahrenden Humanität.
Ich stricke einen LKW!
«Was ich oft verkauft habe, ist die Schönbergsche-Notenschreib-Maschine, aber eben in in Eis gegossen, Schönbergs unverwirklichtes Patent, weil ihm das Geld für die Stempelmarken gefehlt hat. Das habe ich so sinnbildlich gefunden für etwas wofür du brennst, was aber dann nicht zustande kommt, wegen Kleinigkeiten. Wobei ich die Schreibmaschine immer und immer wieder neu gieße.» Wie geht es anderen Kolleg_innen, frage ich Claudia. «Natürlich ist es immer noch männerlastig, aber es hört sich langsam auf, und heute arbeitet man medienübergreifend, wir tun ja nicht mehr Steine klopfen und Stahl schweißen. In der Ausstellungslandschaft gibt es immer noch den Drall nach Männlichkeit. Generell kommt es mir vor wie eine Art Menschheitstraum nach einem männlichem Erlöser.» Claudia lacht. Wie bist du zum LKW-Stricken gekommen, frage ich. «Die sind in einer Durststrecke entstanden, als meine Tochter in die Schule gekommen ist. Ich wurde als Mutter blöd angeredet von Kolleg_innen, so auf die Art Und was machst du jetzt so? Und ich habe was Banales geantwortet: Ich stricke einen LKW! Obwohl ich das Stricken hasse. Ich würde keinen Socken zusammenbringen. Aber das Brechen von Geschwindigkeiten war wichtig und die kühne Behauptung, einen LKW zu stricken. Und das habe ich dann auch gemacht.» Wir lachen sehr. Claudia strebt in eigenen Worten mit ihrer Kunst an «eine Welt neben oder parallel zu der Welt zu erzeugen, weil ich gesellschaftliche Vorgaben oder Konventionen zumeist als beengend empfinde. Ich wundere mich vielfach über die Angepasstheit und halte sie für ein Grundübel unserer Gesellschaft». Claudias Vision ist daher grundsätzlich die einer Abweichung oder Verschiebung von der «Normalsituation», lese ich in dem wunderbaren Folder ihres Projekts der «Vogel-Immobilien». Später führt mich Claudia durch ihr Atelier und erzählt mir von ihrer Liebe zu John Cage und dem Mushroom Book. «Ich konnte es nirgendwo kaufen. Es handelt von Tintlingen, Pilzen und ihrem Verhalten. Sie verhalten sich nämlich ähnlich wie meine Eisarbeiten. Ich gieße viel in Tinte, wie die Schönberg´sche Schreibmachine oder die Platten. Die Tintlinge haben eine kurze Lebenszeit, sind weiß und schmelzen schwarz ab. John Cage hatte zehn Lieblingsbücher aufgelistet und die habe ich dann noch dazu inszeniert. Als sein Mushroom Book aus New York geliefert wurde, war das Buch eigentlich eine Mappe mit einem Jeansstoff tapeziert! Es war so amerikanisch, richtig cool. Ich habe dann Pilzformen gemacht und zu seinen Büchern gelegt. Und ich hatte einmal einen Traum, nachdem ich in Seattle war, eine Stadt mit erstaunlicher Geschichte, alles sitzt dort, was die Welt quasi schlecht macht, Amazon usw. Ich träumte also von einem Walfisch, der den ganzen Bauch voll Plastikmüll hat. Das war unbewusst, parallel zu den Berichten in den Medien über die Wale. So entstanden die weißen keramischen Abgüsse von Plastikflaschen.» Ich verlasse aufgewühlt und mit warmen Herzen das Atelier. Wir wollen uns wiedersehen. Vielleicht schmilzt mein Misstrauen wieder einmal dahin wie Claudias Eisskulpturen. Das wäre so anders als die vielen Normalsituationen.