Cherchez la Femme: Wohnen im Alter – Teil IDichter Innenteil

(Grafik: Jella Jost) Neue Planeten des Alterns

Wohnen wollen und müssen wir alle, ob wir können oder nicht. Die schockierenden Differenzen zwischen Penthouse mit Weitblick im wahrsten Sinne des Wortes und nacktem Beton unter der berühmten Brücke oder in den U-Bahn-Tunnels sind nicht mehr zu beschreiben. So wie man Sterben und Geborenwerden nicht beschreiben kann, denn es sind archaische Erfahrungen jenseits vieler Worte. Wobei die Penthouse-Wohnung mit Fernsicht nicht vom Sterben abhält. Das ist zumindest die Gerechtigkeit des Lebens an und für sich, weil wir kurzsichtig-denkende menschliche Lebewesen nicht in der Lage sind, Gerechtigkeit auf Erden zu schaffen. So wuchs in der 1960er-Jahren des letzten Jahrhunderts eine Baby-Boomer-Generation heran, die aufgrund des Aufschwungs der Nachkriegszeit aber später mangelnden politischen Willens der Regierenden, die ihre Wählerstimmen wie Dollarzeichen vor den Augen stehen haben (Dagobert Duck lebt in jeder:m Politiker:in), nun in die Jahre kommen und beginnen, alt zu werden. Wir können uns vorstellen, was das heißt für eine Generation, die Freiheit kennengelernt hat und Selbstbestimmung, die Kindergärten gegründet hat, Schulen gegründet hat und alternative soziokratische Organisationsformen etabliert hat. Das waren wichtige Zeiten in der 70ern und 80ern als reformierender Gegenpart zu versteinerten althergebrachten Schulkonzepten. Und nun ist die Pflege dran und das Überleben einer Generation von Frauen, die Kinder großgezogen hat, Care-Arbeit für Angehörige geleistet hat, nebenbei oder hauptberuflich auch noch gearbeitet hat und dennoch weniger als 1.000 Euro Pension bezieht. Das muss man als österreichische Schande bezeichnen und als nichts anderes. Keine dieser Frauen kann sich eine private Pflege zuhause leisten. Genug Pflegepersonal in den Heimen gibt es aber nicht, wie wir alle seit Jahren wissen. Die Verantwortlichen schauen weg. «Huch!» und «Ach!», schreit man hinaus, «Ja es ist wirklich schlimm, es fehlt uns ja das Personal und alle sind überfordert!» Und auch Gewalt in der Pflege ist selten ein öffentliches Thema, weil es sehr unangenehm ist, da hinzusehen. Selbst Missbrauch in den Kindergärten ist ein Thema, über das wir alle gerne hinwegsehen. Die Konsequenzen treten zutage. Alte und Junge. Alle sind sie wertvolle Mitglieder unserer sogenannten Wertegemeinschaft. Die Politik pfeift drauf. Ein paar nette Versprechen. Politik bewegt sich sukzessive zum Rand der Kriminalität. Ich sehe womöglich bald keinen wesentlichen Unterschied mehr.

 

Wohnen ohne Alterslimit

 

Seit einigen Jahren lässt mich das Thema Wohnen nicht mehr los. Ja, ich bin Boomerin und mache mir Gedanken, wie mein Alter in zehn, zwanzig Jahren aussehen könnte. Ich muss dem gedanklich vorgreifen, um nicht einer Situation ausgesetzt zu sein, die ich absolut nicht möchte. Ich sah das bei meiner Mutter, als sie ein halbes Jahr im Sterben lag. Auch sie, obwohl privilegiert, war völlig ausgeliefert, einer Pflegekraft, die kein Wort Deutsch sprach, jenen Ärzten, die zu mir sagten «Ja hier, probieren’s halt die Medikamente aus, ich weiß auch nicht, ob sie wirken», und uns Kindern, die maßlos überfordert waren. Das ist der Punkt, den viele Frauen nicht wollen. Auch Birgit Mollik und Ursula Tiefenbacher, Mitinitiator:innen von WOAL – Wohnen ohne Alterslimit –, mit denen ich ein Interview führe, sprechen diesen Punkt an: ihren Kindern keinesfalls zur Last fallen zu wollen, keinesfalls ein Pflegefall für sie zu werden, der Albtraum aller Boomer:innen, weil wir wissen was das heißt, weil wir es erlebt und durchlebt haben mit unseren Eltern, weil wir alleine gelassen wurden in diesen Extremsituationen, weil sich der Staat aus der Verantwortung gezogen hat. Beide Frauen, mit denen ich spreche, erzählen von ihrem einzigartigen Wohn- und Pflegekonzept. Das Konzept hat beim Infoabend unlängst im Amerlinghaus bei vielen Zuhörenden Erstaunen hervorgerufen. Auf meine Frage wie intern mit Machtstrukturen – die in allen Gruppen irgendwann Thema sind – umgegangen wird, erhalte ich die Antwort, dass die Pionierarbeit sicher ein Thema ist, sagt Ursula, aber sie haben Vorstellungen, wie sie innerhalb der Gruppe konkret daran arbeiten werden. Birgit erzählt von dem WOAL-Konzept, von zehn Clustern die jeweils zehn Zimmer (zu 25 m2 mit eigenem Bad) als Wohngemeinschaft bilden sollen. Sie spricht von ihrer persönlichen Erfahrung als ehemalige pflegende Angehörige und dem Wunsch, selber einmal in Würde und mit Wertschätzung gepflegt werden zu wollen, zuhause, bis zum Ende. Die Vision von WOAL ist die Etablierung einer Gemeinschaft von etwa hundert Personen, die sich gegenseitig kennen, und miteinander ein sinnerfülltes gemeinschaftliches Leben organisieren. Dann ist ein Sterben in einem vertrauten Kreis gut möglich. Man weiß, was die sterbende Person gerne hat, was sie mag und was nicht. Das sind kleine Details, die wichtig sind, da ein sterbender Mensch seine Bedürfnisse oft nicht mehr formulieren kann. Birgit geht davon aus, dass die Menschen dieser Wohngruppen, also die Wohngemeinschaft, sich gegenseitig unterstützen, eben weil sie sich kennen. Bei einer staatlichen Pflegeeinrichtung kann das durchaus auch gut gehen. Aber ich vermute, da wird der Zeit- und Arbeitsdruck zwischenmenschliches Wohlwollen eher zu kurz kommen lassen, bis gar nicht ermöglichen. Das sind Dinge, vor denen uns graust. Die keine:r von uns will.

 

Die Pflicht, sich um seine Bürger:innen zu kümmern

 

Zusätzlich in dem ersten groben Konzept sind natürlich dort wohnende Pflegekräfte angedacht. Es ist an eine solidarische Finanzierung gedacht, bei der jede Person 60 % ihrer monatlichen Einkünfte einbringen muss. Birgit nennt es Miete plus (Miete, Betreuung und Pflege), denn Pflegegeld ist personalisiert und das Pflegegeld gebe ich dann für mich aus, aber das ist zu wenig, deshalb haben wir ein Mehr an Betreuung. Bei 1.000-Euro-Pensionen ist das recht viel, da nur wenig übrig bleibt für Öffis, private Physiotherapie, Kleidung, Kultur, Reisen oder Restaurantbesuche. Da fehlt mir eine gerechtere Staffelung. Beziehungsweise muss genau hier an dieser Schnittstelle die Stadt Wien einspringen. Die Stadt Wien sollte das Potenzial all dieser Wohngruppen kennen und sie nicht parteipolitisch gegeneinander ausspielen. «Baugruppen»-Termini als grüne Warntrigger für alle Roten, ich bitte euch, Genoss:innen, nehmt diese Chancen wahr und greift danach! Weitere Vorteile bei WOAL: Man wird nicht auf eine Pflegestation abgeschoben, man bleibt in seinen eigenen vier Wänden, in seiner vertrauten Umgebung und kann «gut gehen». Birgit sagt, es gibt noch zu wenig Struktur, aber wir haben eine «Software» entwickelt, ein Betreuungs- und Pflegekonzept, denn wir wollen gute Arbeitsplätze schaffen für Pflegepersonal, Betreuung, Reinigung, Hausmeister:in. Mir erscheint das wie ein eigenes kleines Pensionssystem, wobei ja auch da jüngere Mitbewohner:innen nachrücken müssen, um dieses zu stützen. Sobald WOAL einen Baugrund und Bauträger hat, beginnt die konkrete Phase. Birgit erzählt, dass sie von der Wirtschaftsagentur eine Förderung erhalten haben, um ein Portfolio erstellen zu können, mit dem sie zu Bauträgern gehen können. Und weiter noch: wie ein Architekt auf sie zugekommen ist, der von dem Projekt begeistert ist. Leben im Alter soll in einer Gemeinschaft sein, wir unterscheiden uns aber darin, dass wir bis zum Sterben dortbleiben wollen. Wir organisieren auch Workshops wie Mein Bild vom Alter, damit die Leute sich konkretere Gedanken machen. Insgesamt also ein hochinteressantes neues Alters-Wohn-Konzept. Ich melde mich mal zum Newsletter an. Im übernächsten Cherchez la Femme berichte ich über Kolokation und Freya Brandl, eine weitere inspirierende und faszinierende Frau.

 

Info:

http://wohnen-ohne-alterslimit.at/

Nächster Infotermin: 5. Juli 19 bis 21 Uhr

15., Herklotzgasse 21/3

In den Räumen der Armutskonferenz

Anmeldungen ausschließlich unter: ulrike.kobrna@gmx.at