Ich sollte mich beruhigen. Ich war im Fitnesscenter und wurde angebrüllt, es kam aus den Boxen an der Decke. Keine Flucht möglich. Die Ohropax hatte ich vergessen. Dann ging ich auf den Christkindlmarkt in Schönbrunn. War ich noch betäubt, oder hatte sich seit letztem Jahr alles verändert? Der überdimensionale, vielzackige Leuchtstern am Eingang zum Christkindlmarkt. Der sollte mir einleuchten. Größer als jeder Mensch, größer als jedes Weihnachtsfest. Massen strömen hindurch. Mein Blick starrt. Angewidert gehe ich zur Mitte, die es nicht mehr gibt. Der Markt hat an Form verloren. Ich verliere mich in unzähligen Budenzeilen mit fahlbeiger Außenwand, schmucklos und gleich. Der Christkindlmarkt, der Weihnachtsmarkt heißt, hat an Platz gewonnen oder gekauft und füllt alle Hoffnung der InvestorInnen. Der ganze Ehrenhof des Schlossareals wird bespielt. Bespielt höre ich oft, wenn demonstrative Größe sich mit Musik verbindet, der man nicht entkommt. Lieder tönen aus dem Lautsprecher über dem Platz. Kinderstimmen aus Riesenboxen, blechern und gleichzeitig metallen scharf. Die Eltern mit hochgehaltenen Handys filmen sie. Nunmehr ist es keine kleine Runde, die ich unter grün behangenen Standln gehe im Schlenderschritt. Keine Fäustlingshand, die das selbstgebastelte Holzsternchen oder die Strickmütze reichen wird, denke ich. Selbstgestrickt sind sie schon lange nicht. Unaufmerksam gehe ich weiter, dabei stoße auf einen Stand mit Hauben, ich streichle sie. Die fernen Orte, über die Wolle scheinen sie heimelig und nah, sage ich. Die Studentin im Verkaufsstand lächelt mich an, Nepal, sagt sie. Ihre Zuwendung tröstet mich. Vergeblich suche ich meine Bäckerei in den Reihen der Hütten aus überstrichenen Wänden, die gelbe Farbe wie ein Abglanz des Schlosses. Ich frage mehrmals nach, ob es sie noch gäbe und wo ihr Standort sei, nach dem dritten Abschreiten sehe ich die Lebkuchen. Der Eigenname der Bäckerei ein kleines Schild seitlich, während wie an den meisten Ständen eine grüne Zierleiste die einzige Überschrift bildet. Sie erinnert an die schneckenförmigen Armlehnen der Schönbrunner Parkbänke. Ein Emblem als Zeichen der größeren Einheit, oder der Austauschbarkeit, Wiederverwertbarkeit?
Ein Eisstockplatz ohne Eis, mehrere Karusselle, mit Scheinwerfern und tönenden Knöpfen. …
Das Riesenrad darf nicht fehlen
Der kaiserliche Touch wirkt auf mich wie ein Artefakt aus dem Prater. Alles hat Platz. Ein Eisstockplatz ohne Eis, mehrere Karusselle, mit Scheinwerfern und tönenden Knöpfen. Rotblinkend. Das Pferdchen oder Auto hebt sich, senkt sich, blinkt und tutet. Das Riesenrad darf nicht fehlen. Die gelben Gondeln, nostalgisch verziert mit Kaiser und Sissi in gemalten Bilderrahmen, bewegen sich weihnachtlich langsam, wie alte Kutschen muten die Gondeln an, sie steigen hoch zum Zenit und senken sich auf der anderen Seite, während Sinatras «New York, New York» Schleifen zieht und Excitement verspricht. Das Rad im Metallgestänge ist beleuchtet von einer Kette aus Glühbirnen. Es ist nicht höher als der Stern am Eingang. Riesenrad, sage ich zu einer Frau neben mir, das Wahrzeichen von Wien wie der Kaiser und der Mozart. In den Kriegen zerstört, mehrmals wiederaufgebaut. Für den Prater ist es zu langsam, darum gibt es neuerdings einen Ausstieg auf eine Stahlrampe mit Glas. Ein Adrenalinblick aus 64m Höhe. Brauchen wir Adrenalin? Wäre nicht ein Ringelspiel wie dieses zur Beruhigung, zum Spiel nötig? Ein Retrokarussell?
Ohne Punsch lehne ich am Geländer und schaue auf eine grün leuchtende Fläche. Eine aus Plastikplatten künstlich geschaffene Kunsteisbahn. Plastikschuhe mit zwei Schnallen, die mit ihren Kufen eine kurze Bahn schaffen. Das matte Klappern. Das stumpfe Anfahren gegen den Widerstand. Manche lassen sich auf einem Sessel über die Fläche schieben. Den Kindern macht das nichts, sie passen sich an. Das Eingravieren in die Platte. Die Spuren bleiben. Das Schleifen erzeugt Mikrofasern, die nicht vergehen. Polyethylen. Skate for the Planet, heißt der Werbeslogan. Dabei denke ich an einen zugefrorenen Teich, den, «leise rieselnden» Schnee, den die Kufen zur Seite schoben, wie es schabte an der dunklen Eisplatte, die Schlangenlinien aus Schnee, die sie zurückließen, wie Messerschleifen war der Ton, wenn eine scharfe Kurve gezogen wurde und kratzig, holprig, wenn die Fahrspuren sich überschnitten, und Eiskristalle zurückließen, der dicke Mantel, Handschuhe und Haube, nass geworden vom Schnee, und der Glühwein, der später kam mit den Standln. Ist es fantastische Nostalgie? War ich überhaupt je auf einem Teich? Oder waren es bereits die Spanplattenwände, gegen die ich prallte, waren es die Popsongs aus den Megaboxen über dem von Strahlern beleuchteten Eislaufplatz, die mich beglückten? Rote Wangen gab es, die gab es noch. Erhitzt vom stundenlangen Kreisen, der äußere Fuß über den inneren gesetzt, die Schräglage in den Kurven und das Überholen, bis ich stürzte oder ein anderer mich schnitt und ich stolperte. Dann waren es die scharfen Kufen der weißen Eiskunstlaufschuhe mit Stern im Eislaufverein. Das Gleiten über poliertes Eis. Die Muster auf der Fläche wie ein Mandala. Elegant kam ich mir vor, wenn ich auf einem Bein stehend, das andere in die Luft hob, und vorwärts oder rückwärts setzte, mit einer Pause dazwischen, oder wenn ich aus der Grätsche einen Mond zog.
Die vielen beleuchteten Christbäume, die den Platz begrenzen. Noch sind es echte Bäume, die man aus dem Wald schneiden kann für das Christkind
Vom Eislaufplatz mit Eisbearbeitungsmaschine zum Plastikglas, das keinen Schnee braucht.
Vom Weihnachtsbaum im Garten zur Tanne im Wasserständer zum Plastikbaum mit verketteten Glühbirnen. Die vielen beleuchteten Christbäume, die den Platz begrenzen. Noch sind es echte Bäume, die man aus dem Wald schneiden kann für das Christkind. Der Christus ein Kind, das Kind ein Kindl, und das jedes Jahr vermarktet. Das «Kinderliche» mochte ich nie. Du Kinderl du. Die romantische Verkleinerung bis ins Lächerliche, Kitschige. Und war doch auch zärtlich, zierlich. Nun sehe ich kein Kindlein mehr. Nur kleine Hütten, in denen Kinder sitzen können, mit Strohballen daneben. Und die geschmückten Hütten, die einzeln stehen, unter deren Giebel ein Bankomat erscheint, der von einem blauen Heiligenschein umrahmt ist. So mancher mag beten, wenn die Karte eingezogen wird, weil zu viel auf der Sollseite des Kontos steht. Am Ende des Tages müssen wir alle Rechenschaft ablegen.
Ich lache. Das Beißen am Hals reißt mich aus den Gedanken. Die Ekzeme. Der Rollkragen juckt an meiner Haut, das Etikett kratzt am Nacken. Ich reiße es heraus, es bleibt ein Loch. Mein Adrenalin steigt. Synthetische Welt, rufe ich, es gibt keine Socken in Baumwolle, die Unterwäsche ist synthetisch, die Trainingswäsche, die Bettwäsche, wo sind die Leintücher aus Leinen von meiner Großmutter? Ich infiziere mich an der Plastikwelt, oder rutsche ich ab? Die Allergien vergehen nicht. Sie kennen keine Grenze. Ich bin gegen alles allergisch. Wut steigt hoch. Auch die Politiker, rufe ich, sind aus Plastik. Sie müssen sich nicht recyceln, sie sind unverwundbar. Verurteilt oder nicht, das berührt sie nicht. Es gibt kein Vergehen. Sie vergehen nicht. Sie verteilen sich in der Luft und kommen wieder, eingeatmet von der Menge, wie Partikeln, wie Plastik. Das Christkind aus Plastik lächelt, immer. Nächstes Jahr bin ich eine KI, sagt es.
Ein Stand mit rotem Tuch behangen, in dem wohlangeordnete Strohsterne wie Lichter brennen. Ein Blickfang.
Am nächsten Tag bin ich friedlich. Ich gehe über die Freyung zum Hof. Freue mich über lackiertes, helles Holz mit Tannenleisten über dem Verkaufstisch, ein Stand mit rotem Tuch behangen, in dem wohlangeordnete Strohsterne wie Lichter brennen. Ein Blickfang. Es gibt sie noch, die manuell und selbst hergestellten Produkte, erfahre ich, VerkäuferInnen, die in fair trade Verbindung zu rumänischen, polnischen u.a. HandwerkerInnen stehen, in deren Ländern sie selbst gearbeitet haben. Holzgefäße, Bastelware, Wollkleidung, Zirben, Strohsterne, Glaswaren, italienischer Schinken, Lebkuchen, ich nehme alles auf und ziehe weiter über den Graben zur Stephanskirche. Die Glühbirnendrähte, die wie Kronen über jeder Hütte aufragen, um den Touristenstrom anzuziehen. Bei genauerem Hinsehen sind es runde, einfache Blumen, die sie formen. Auch um die Stephanskirche herum sind Stände mit VerkäuferInnen, die ihre Waren nur für den Weihnachtsmarkt herstellen, sagen sie. Eine Stickerin, Honigwaren, Lavendel, Tannenkränze … ich plaudere und frage nach. Ich bin erfüllt von einem ruhigen Gefühl, langsam atme ich ein, atme aus, als ob es noch eine Heimat gäbe. Stets bin ich vorübergegangen und hatte die Häuschen nur gestreift, mäßig interessiert, Tand hatte ich gesagt, teurer als in einem Geschäft etc. … Diesmal schaue ich genau, befrage jeden. Es ist, als ob mir jemand die gestohlene Handtasche wiederbringt. Eine Handtasche, in der kein großer Wert zu finden war, deren Wert vielmehr in meiner Vertrautheit und Gewohnheit lag. Wie ich sie missachten würde, wenn sie nichts Neues bergen oder aus sich herausfallen ließe. Aber sie ist ein Teil von mir und ein Gegenüber. Als ob das Sich setzen in vertraute Umgebung Vertrauen erzeugt. Ich lächle eine Frau an, die am Graben unter einer Markise steht und von einem rotglühenden Strahler beleuchtet ist. Ihre Gesichtshaut ist fahl und die Augen liegen klein und umfaltet. Sie begegnet meinem Blick und für einen Moment kenne ich sie. Dankbar bin ich aus dem Hinausgeworfensein in die Masse, wenn die dunklen Wintermäntel und Jacken und Lärm auf mich zukommen und ich in kein Gesicht schaue, wieder hineingerutscht in mich. Du bist genug. Du warst immer genug, hat die Yogalehrerin am Ende der Stunde allen verkündet. Diesen Satz habe ich mir vorgesagt, während ich zur Stephanskirche gegangen bin. Aber wie lange kann ich so einen Satz halten? Warum haben heuer die Weihnachtsstände so eine Bedeutung für mich? Muss eine Enttäuschung, Befremdung vorausgehen, ein Gefühl des Verlusts, damit man sich wieder zuwendet? Diese Gedanken hatte ich noch, als ich an der Kolonne der stehenden, angeschirrten Pferde vorüberging, weiße und schwarze, die ihr Leben im Warten verbringen, wie Bettler, mit geringen Bewegungen der Augen Ohren und Schwänze, und die, wenn sie an die Reihe kommen, nur dieselbe Runde ziehen dürfen. Auch das nennt mancher Vertrautheit. Beim Weggehen lese ich auf einem Schild tear room statt tearoom.