Christus kam nur bis TraiskirchenDichter Innenteil

In einem fensterlosen Bürocontainer im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen. Der Asylbeamte sitzt am Schreibtisch und vernimmt einen vor ihm stehenden Flüchtling. Hinter dem Beamten steht ein uniformierter Polizist in Bereitschaft. Durch die überlastete Infrastruktur, ein älteres Notstrom-Aggregat geringer Leistung, fällt alle zwei, drei Minuten das Licht im Container aus, wodurch es stockdunkel und die Vernehmung unterbrochen wird, bis der Generator nach einigen Sekunden von selbst wieder anspringt.

 

Grafik: Karl Berger

Asylbeamter: Fühlen Sie sich physisch und psychisch in der Lage, der nunmehrigen Einvernahme Folge zu leisten?

J: Ehrlich gesagt habe ich schon ganz andere Verhöre überstanden.

Asylbeamter: Auf die kulturellen Besonderheiten Ihres Herkunftslandes kommen wir später zu sprechen.

J: Das Merkblatt habe ich erhalten und gelesen. Habe ich keine Fragen dazu.

Asylbeamter (verblüfft): Woher wissen Sie, dass ich das als Nächstes fragen wollte?

J: Ich versuche, das Verfahren zu beschleunigen. Es warten jede Menge Leute.

*** (Stromausfall)

Asylbeamter: Sie behaupten, am 1. August 2015 eingereist zu sein.

J (lächelt): Ich behaupte das nicht nur.

Asylbeamter: Von woher sind Sie gekommen?

J: Über die March.

Asylbeamter: Mit einem Boot?

J: Nein.

Asylbeamter: Geschwommen?

J: Nein.

Asylbeamter: Dann über eine Brücke?

J: Auch nicht.

Asylbeamter: Mit einem Auto oder einem Lastwagen über die Brücke? Oder per Fahrrad?

J: Ich muss Sie leider schon wieder enttäuschen.

Asylbeamter: Unglaubwürdig! Komplett unglaubwürdig! Oder wollen Sie mir erzählen, dass Sie über das Wasser gegangen sind?

*** (Erneuter Stromausfall)

Asylbeamter: Sie haben erst am 2. August 2015 in der Außenstelle Traiskirchen einen Asylantrag gemäß Paragraph 3 Asylgesetz eingebracht. Wo waren Sie in der Zwischenzeit?

J: Ist das von Belang?

Asylbeamter: Das entscheide gefälligst ich! Also, wo waren Sie?

J: In einer schiefen, kleinen Kirche in der Nähe von Schwechat. Eine winzige, ausgetrocknete Frau, eine Gärtner-Gehilfin, hat diese Kirche jeden Tag besucht, 59 Jahre lang jeden Tag, nachdem ihr Verlobter seinerzeit in Estland gefallen ist. Dabei hat sie sich jeden Tag vor dem kurdischen Hilfsarbeiter in der Erwerbsgärtnerei, in der sie beide ausgebeutet wurden, elendiglich gefürchtet und hat ihn zutiefst verachtet. Ein paar tausend Mal hat sie diese Sünde gebeichtet. Ich wollte diese Kirche einmal sehen.

Asylbeamter: Na gut, wenn wir schon dabei sind … Religion?

J: Die Frau war gut katholisch, der Kurde gut alevitisch.

Asylbeamter: Religion?

J: An sich keine üble Sache, aber …

Asylbeamter (unterbricht ihn rüde): Wollen Sie mich frotzeln?

J: In der Hinsicht habe ich mich schon bei einer ganzen Reihe von Theologen und Despoten ausgetobt. Mittlerweile bin ich über das Alter hinaus.

*** (Dito)

Asylbeamter: Name?

J: Jeschua ben Joseph.

Asylbeamter: Wie schreibt man das?

J: Aramäisch oder hebräisch?

Asylbeamter: Wie man das schreibt, habe ich gefragt! Fixlaudon!

J: Ich weiß auch nicht, wie man Fixlaudon schreibt! Für Dialektwörter gibt es nämlich in der Regel keine standardisierte Schreibung.

Asylbeamter: Wollen S’ mich …?

J: Sie brauchen sich für Ihre dialektale Färbung nicht zu genieren. Sie haben ja schließlich nichts anderes gelernt. Dieses Fräulein Pumpernickel, na ja, sie war halt aus Atzgersdorf …

Asylbeamter (völlig verblüfft): Woher kennen Sie meine Volksschullehrerin??

J: Jetzt müsste ich lügen, aber ich tu’s nicht.

Asylbeamter (misstrauisch): Woher sprechen Sie überhaupt so gut Deutsch? Das ist ungewöhnlich, wenn nicht verdächtig!

J: Seit Babylon spreche ich alle Sprachen.

Asylbeamter (ungläubig): Alle?

Asylbeamter (hämisch): Und was ist mit den Dialekten?

J: Alle.

Asylbeamter: Unglaubwürdig! Komplett unglaubwürdig! – Aber eine Muttersprache werden Sie doch haben?!

J: Aramäisch. Westaramäisch, um genau zu sein.

Asylbeamter: Himmel, was ist das? Habe ich noch nie gehört!

J: Dann waren Sie noch nie in der Pizzeria in der Mariahilfer Straße, die wird von einer aramäischen Familie betrieben, die natürlich auch Aramäisch spricht.

***

Asylbeamter (barsch): Nationalität?

J: Humanität.

Asylbeamter: Welche Nationalität? Wird’s bald!

J: Jüdisch.

Asylbeamter: Jüdisch ist keine Nationalität!

J: Was ist es dann?

Asylbeamter: Also, so kommen wir nicht weiter! Israel oder Palästina?

J: Frankreich oder Belgien? Brasilien oder Portugal? Russland oder Weißrussland?

Asylbeamter: Israel oder Palästina?

J: Weder noch.

Asylbeamter: Weder noch?

J: Galiläa.

Asylbeamter (triumphierend): Galiläa ist kein Staat!

J: Warum?

Asylbeamter: Weil … weil … weil Galiläa nicht bei der Uno ist!

J: Das ist die Schweiz auch nicht.

Asylbeamter: Na ja, dann probieren wir es halt andersrum: Wo überall haben Sie seit Ihrer Geburt gelebt?

J: Auf Fischerbooten habe ich mich eigentlich immer wohl gefühlt. Wussten Sie, dass der See Genezareth in meiner Muttersprache Meer heißt?

Asylbeamter: Mein Gott, von wann bis wann haben Sie zuletzt in welcher Stadt gelebt?

J: Ich war in letzter Zeit leider mehr oder weniger ohne festen Wohnsitz. Die letzten Jahre war ich auf der Flucht. Ich hatte nichts – Sie können das bei Matthäus nachlesen –, «wo ich das Haupt hinlege». Aber in Bethsaida habe ich mich immer sehr wohl gefühlt, wenn Ihnen das was nützt.

Asylbeamter: Verfügen Sie über entsprechende Meldenachweise?

J: Glauben Sie tatsächlich an reguläre Meldeämter in Galiläa, Transjordanien?

Asylbeamter: Irgendwas muss es da ja geben!

J (milde): Sicher.

Asylbeamter: Na also! Also her mit den Meldezetteln! Her mit den Dokumenten!

J: Römische Straßensperren gibt es und einen lahmen Jupiter-Kult und hervorragende Datteln und Weine, von denen Sie sich überhaupt keine Vorstellung machen können, und ….

Asylbeamter: Gusch!

***

Asylbeamter: Über welche Ausweise, Dokumente, Legitimationen, Beweise verfügen Sie denn überhaupt?

J (zeigt seine Wundmale an den Händen): Über diese hier.

Asylbeamter: Das ist nicht ausreichend!

J. beginnt seine Oberbekleidung abzulegen.

Asylbeamter (wütend): Das ist kein Lichtbildausweis!

J. steht mit nacktem Oberkörper vor dem Schreibtisch des Vernehmungsbeamten und zeigt die Wunde in seiner Seite.

Asylbeamter: Das ist nicht amtlich! Diese ganzen Wunden beweisen gar nichts! Die könnten Sie sich auch selbst beigebracht haben!

Der Vernehmungsbeamte winkt dem Polizisten, der auf J. zutritt und ihm unter Zwang wieder die Oberbekleidung anlegt.

***

J: Ich habe Grund zu der Annahme, dass meine Eltern, meine Brüder und Schwestern in Jerusalem tot sind. Wenn die Römer, ohnehin keine zimperliche Besatzungsmacht, eine widerspenstige, eine aufständische Stadt erobern, benehmen sie sich nicht gerade besonders fein.

Asylbeamter: Der Jom-Kippur-Krieg sagt mir noch was, auch die Intifada, aber ich habe nie davon gehört, dass irgendwelche Römer sich in Jerusalem aufgeführt hätten!

J: Aber das ist eine geschichtliche Tatsache.

Asylbeamter: Sagen Sie!

J: Schon mal was von Flavius Josephus gehört?

Asylbeamter: Wer ist das schon wieder? Ein Freund von Ihnen?

***

Asylbeamter: Was haben Sie denn gepredigt? Den Kommunismus?

J: Das Ende der Welt.

Asylbeamter: Also doch den Kommunismus!

J: Ich glaube, die Römer haben mich für eine Art jüdischen Andreas Hofer gehalten. Dabei bin ich nicht einmal ein koscherer James Dean. Ich wollte eine neue Welt, aber keine neue Haar- und Jeansmode. Ich war gegen Fasten, gegen Opfern, gegen Schwören, aber ich habe mich halt nicht durchgesetzt.

Drei, vier Tempeldiener bewaffnet mit langen Messern stürzen in den Bürocontainer und laufen am Schreibtisch des Vernehmungsbeamten und an J. vorbei bis zur Rückwand.

Asylbeamter: Kein Wunder, dass die Traiskirchener Bevölkerung ein ungutes Gefühl hat …

Die Tempeldiener kommen im Trab wieder zurück und bremsen vor dem Schreibtisch des Asylbeamten und vor J. ab. Ihre Messer stecken sie weg. Ihr Anführer fragt den Asylbeamten höflich nach dem Weg.

Erster Tempeldiener: Wissen Sie vielleicht, wo der Ölberg ist?

Asylbeamter: Keine Ahnung, da bin ich leider überfragt. Aber in Wien gibt es eine Ölberggasse, wenn Ihnen das vielleicht weiterhilft.

Zweiter Tempeldiener (beiseite, für sich): Dabei haben wir nicht einmal ein Fahndungsfoto von dem Gotteslästerer.

Erster Tempeldiener: Von Exekutive zu Exekutive danke ich für die Auskunft.

Asylbeamter: Bitte.

***

Asylbeamter: Hinsichtlich Ihrer Ausführungen zu den Gründen für das Verlassen Ihres Heimatlandes wird Ihnen die Glaubwürdigkeit abgesprochen. Es konnte nicht festgestellt werden, dass Sie im Falle der Rückkehr Gefahr liefen, einer unmenschlichen Behandlung oder Strafe oder der Todesstrafe unterworfen zu werden.

J: Die Amtsführung des Präfekten Pontius Pilatus ist – ich zitiere – durch «Bestechungen, Beleidigungen, Raub, Gewalttätigkeit, Zügellosigkeit, wiederholte Hinrichtungen ohne juristisches Verfahren, konstante Ausübung von extrem leidvoller Grausamkeit» gekennzeichnet.

Asylbeamter: Wer sagt das?

J: Philo von Alexandria.

Asylbeamter: Der österreichische Konsul dort sagt aber ganz etwas anderes!

J: Na ja, der kommt ja auch über das Hilton nicht hinaus, wenn er einmal dort ist. Außerdem kann er nicht einmal eine Zeitung lesen. Er kann ja weder ein Wort Latein noch Aramäisch noch Hebräisch.

***

Asylbeamter: In der Gesamtbetrachtung gelange ich als erkennende Behörde zu dem Schluss, dass Sie keinesfalls einen Sachverhalt vorgetragen und glaubhaft gemacht haben, dem schlüssig die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft entnommen werden können und gehe ich als Behörde davon aus, dass es sich bei Ihrem Vorbringen um ein bloßes Konstrukt handelt und Sie nicht Ihre wahren Beweggründe für das Verlassen Ihres Heimatlandes dargelegt haben, womit festzustellen war, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung zulässig ist!

Asylbeamter: Mit anderen Worten: Schleich dich!

Der Polizist umrundet den Schreibtisch und führt J. ab.

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