Slowakische Lehrer_innen legen die Kreide nieder
Am 15. Februar traten in der Slowakei mehr als 500 Hochschulpädagog_innen in unbefristeten Streik. Damit haben sie die Grund- und Mittelschullehrer_innen abgelöst, die drei Wochen lang gestreikt hatten – ohne Unterstützung seitens der Gewerkschaft. Lívia Lukšicová und Ľuboš Kulan haben sich vor Ort umgehört.
Foto: Eva Schörkhuber
Wir betreten das Gebäude der Comenius-Universität in Bratislava Mitte Februar. Das Semester beginnt; sollte beginnen. Unser Stundenplan sieht aber anders aus. Überall sind Fernsehkameras und Medienmenschen. In der Aula werden Reden gehalten. Viele versammeln sich. Überall Plakate. Das Wort «štrajk» steht buchstäblich im Raum. In vielen Seminarräumen wird nicht unterrichtet – es wird diskutiert. Über das Schulwesen. Über mögliche Veränderungen. Über eine bessere Zukunft. An den Wänden sind Einladungen zu Streikveranstaltungen zu sehen. Warum hat das alles angefangen? Was steht dahinter? Unsere Neugier wächst. Wir versuchen, während der nächsten Wochen möglichst viel zu recherchieren und den Streik zu dokumentieren.
Endlich kommt die Zeit, sich zu erheben
Die ersten waren die Grund- und Mittelschullehrer_innen: Sie begannen Ende Jänner einen Bildungsstreik, dem sich landesweit etwa 15- von 89-tausend Lehrer_innen anschlossen. Nach drei Wochen, Mitte Februar, unterbrachen die Grund- und Mittelschullehrer_innen den Streik und kehrten wieder in ihr gewöhnliches Leben zu den Schüler_innen zurück. Sie bleiben aber weiterhin in Streikbereitschaft. Von diesem Moment an hat ein Teil der Hochschulpädagog_innen den Stab von den finanziell erschöpften Lehrer_innen übernommen. Die Initiative stammt von den Hochschulpädagog_innen, nicht von den Hochschulleitungen; sie bleiben auf Universitätsboden, aber sie lehren nicht.
«Was ich persönlich furchtbar finde, ist der soziale Status der Lehrer in der heutigen slowakischen Gesellschaft. Viele Leute sehen uns als Minderwertige an, als jemanden, der ‹nur› ein Lehrer ist», sagt eine streikende Hochschullehrerin. Sie entschied sich trotz des niedrigen Gehalts und trotz der skeptischen Haltung ihrer Umgebung dafür, Pädagogin zu werden, da sie diesen Job «nicht nur für einen Beruf, sondern auch für eine Berufung» hält.
Eine andere Hochschulpädagogin, die auch als Studienberaterin tätig ist und Student_innen bei verschiedenen außeruniversitären Aktivitäten hilft, meint: «Ich unterstütze den Streik, weil endlich auf wichtige Probleme unseres Landes hingewiesen wird und man nicht nur über Pseudoprobleme wie die ‹Bedrohung› der Slowakei durch Flüchtlinge spricht. Das Schulwesen in der Slowakei ist seit der Entstehung unserer Republik unterfinanziert. Es ist endlich die Zeit gekommen, in der wir uns alle im Protest erheben müssen und gemeinsam für die Zukunft unserer Kinder kämpfen.» Was sind die konkreten Probleme? «Man muss für bessere Bedingungen in den Schulen kämpfen. Nach der neuen Schulreform mangelt es in den Schulen an Schulbüchern. Die Lehrer müssen oft viel Zeit und Geld dafür einsetzen, um sie irgendwie zu ersetzen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Arbeiter in einer Fabrik das Material für die Herstellung selbst von zu Hause mitbringen muss. In unseren Schulen funktioniert es aber so.»
In der Slowakei gibt es insgesamt fünfunddreißig Hochschulen; neunzehn davon befinden sich in Streik. Mehr als fünfhundert Hochschulpädagog_innen haben sich dem Streik angeschlossen, rund die Hälfte davon allein an der Comenius-Universität in Bratislava, der größten Uni des Landes. An anderen Universitäten sieht die Situation wiederum ganz anders aus, die Lehrer_innen wurden von der Hochschulleitung eingeschüchtert. Zu streiken wurde ihnen zwar erlaubt, aber Streikveranstaltungen dürfen an der Uni nicht abgehalten werden.
Ruhe in Unfrieden
Die Initiative der slowakischen Lehrer_innen (ISU) hat 3 Forderungen vorgelegt: Erstens, höhere Löhne; zweitens, neue didaktische Lehrmittel; drittens, eine Gesetzesänderung im Hinblick auf das Bonuspunktesystem bei Weiterbildungen.
Diverse Streikinitiativen sind an den Protesten beteiligt: Die ISU ist als neuer Verband im Oktober 2015 entstanden. Sie organisiert den Streik, weil die Gewerkschaft diesen Protest nicht unterstützt, wenngleich sie die Forderungen für richtig und wichtig hält. Begründen lässt sich diese zwiespältige Haltung der Gewerkschaft damit, dass sie im vorigen Jahr mit der Regierung einen Kollektivvertrag ausverhandelt hat und sich dadurch gebunden fühlt und nicht in den Streik eintritt. Die Student_inneninitiative «Ďakujeme, že vieme» («Danke, dass wir wissen») wurde anlässlich der aktuellen Proteste landesweit an den Hochschulen gegründet. Ihr Ziel ist, mehr Menschen dazu zu bewegen, sich den Protesten anzuschließen: Flugblätter werden gedruckt, Onlinekampagnen, Konzerte und Demonstrationen organisiert. So versammelten sich am 18. Februar Studenten_innen, Pädagog_innen und Eltern zu einer «Demonstration der Lichter» am Hlavné námestie, dem Bratislavaer Hauptplatz. Sie leuchteten mit Taschenlampen und Handys. «Bringen wir wieder Licht in das Schulwesen!», lautete die Forderung. An diese Demonstration knüpfte ein Trommelmarsch an, der eine Woche später ebenfalls in Bratislava organisiert wurde. «Wenn sie uns nicht sehen, werden sie uns hören!», riefen die Protestierenden, schlugen die Trommeln und marschierten durch Bratislava. Am 3. März herrschte in vielen Schul- und Universitätsgebäuden eine sonderbare Atmosphäre: Überall hingen Trauerbriefe und Todesanzeigen; es war aber niemand gestorben. Durch die Straßen Bratislavas zog ein Leichenzug. Er stoppte vor dem Sitz der Regierung. Trauerreden wurden gehalten. Viele Leute trugen schwarze Kleidung, in ihren Händen brannten Kerzen. Im Kondolenzbuch mehrten sich die Einträge, auf dem Sarg die Blumen. Ein symbolischer Abschied vom slowakischen Schulwesen.
15.000 Einzelpersonen
Alle diese Aktivitäten bleiben von der Regierung jedoch scheinbar unbemerkt. Bildungsminister Juraj Draxler (SMER-SD, «Richtung – Sozialdemokratie») bezeichnete den Streik der Hochschulpädagog_innen als «symbolische Geste von Einzelpersonen». Die Zahl dieser sogenannten «Einzelpersonen» stieg bislang auf 15.000 an. «Weil diese Veranstaltung durch keine Organisation mit Rechtssubjektivität unterstützt ist, ist jeder Lehrer für sich selbst verantwortlich und übernimmt auf sich auch alle Rechtsrisikos», kommentierte Draxler.
Das Bildungsministerium, so monieren die Lehrer_innen, lege fehlerhafte Angaben zum Lehrer_innenlohn vor. Der Durchschnittslohn im Bratislavaer Bezirk liege laut Berechnungen des Ministeriums bei 964 Euro. Der ISU zufolge aber müssen junge Lehrer_innen auf diesen «Durchschnittslohn» Jahre oder gar Jahrzehnte warten. «Ich möchte echt den Lehrer sehen, der so viel verdient. Ich zum Beispiel muss trotz meiner Arbeit als Hochschullehrerin noch einen anderen Job haben, um genug Geld für einen angemessenen Lebensunterhalt zu haben», sagt eine der Streikenden. «Ein junger Absolvent des Lehramtsstudiums, der gerade mit seinem Lehrerberuf beginnt, bekommt netto ungefähr 500 Euro. Das ist auch für slowakische Verhältnisse sehr wenig. Sie müssen sich vorstellen, wenn jemand in Bratislava wohnt und eine Ein-Zimmer-Wohnung mietet, muss er mindestens mit 300 Euro Miete rechnen. Das heißt also, fürs Leben bleiben ihm etwa 200 Euro. Das hat dann zur Folge, dass dieser Beruf wenig attraktiv wird, die klügsten Schüler lieber ein anderes Fach wählen und oft auch die Slowakei verlassen», kommentierte Jozef Tancer, Germanist an der Comenius-Universität in Bratislava, in einem Gespräch mit dem Radiosender Deutschlandfunk.
Vor den Wahlen am 5. März vermehrten sich die Versprechen hinsichtlich einer besseren Zukunft für das Schulwesen. Mal sehen, ob sie während der Amtszeit der neuen Regierung tatsächlich in Erfüllung gehen oder nur leere Phrasen bleiben.
Lívia Lukšicová und Ľuboš Kulan studieren Dolmetschen und Übersetzung (Deutsch und Englisch) an der Comenius Universität in Bratislava. Mitarbeit in der Recherche: Katarína Hazdrová, Monika Trubačová, Monika Berešíková, Veronika Cedzová, Paula Pisárčíková, Michal Kalafut & Tomáš Floriš
* Cogito ergo štrajk (Ich denke, also streike ich) ist einer der Demosprüche des Lehrer_innenstreiks