Sommerende. Auf dem Karlsplatz, am Donaukanal und an der Alten Donau tummeln sich im Abendlicht Jugendliche, Erwachsene und ein paar Hilfssheriffs …
Text: Christian Bunke
Foto: Jana Madzigon
Rehlackenwiese, Alte Donau, Ende Juli.
Wenn der Lautsprecher des auf der anderen Seite des Gewässers liegenden Gänsehäufels das Lied Badeschluss anstimmt, dann schwingt in der Abenddämmerung auch immer etwas Wehmut mit. Ein weiterer Sommertag ist vorbei, krächzend fliegen die Krähen auf ihre Schlafbäume.
Und doch geht es mit dem Abend unter den Bäumen und an den Badestegen erst richtig los. Gruppen junger Menschen sammeln sich um ihre Boomboxen – tragbare Akkulautsprecher, erschwinglich, die Ghettoblaster unserer Zeit. Unterschiedlichste Sounds schwingen durch die Luft – Rap, Elektro, Schlager. Der zweite Corona-Sommer geht gerade seinem Ende zu. Ein Sommer, der draußen stattfindet, egal ob es windet oder regnet. Er findet draußen statt, weil drinnen zu ist. Was den kommerziellen Teilen der Nachtgastronomie nicht gefällt. Keiner trinkt mehr fast fünf Euro teure 0,33-Liter-Bierflaschen. Keiner lässt sich mehr von mehr oder weniger rassistischen oder sexistischen Securities bepöbeln. Und die Musik draußen gibt es für umsonst.
ABBA und ACAB.
Wien hat nicht erst mit diesem Sommer das «Cornern» neu entdeckt, das Abhängen an der Straßenecke, auf dem Karlsplatz, am Donaukanal oder an der Alten Donau. Die Eroberung der Ränder durch die Jugend, der Bordsteinkanten, die Beine frei baumelnd überm Wasser des Kanals, oder begleitet von Hip-Hop-Klängen vom Badesteg beim Strandbeisl springend. Selbstverständlich, all das gab es schon vor Corona. Doch mit der Seuche wurde es endgültig Mainstream. Und vielleicht wird es das auch im kommenden Sommer noch sein, sollten alle krampfhaften Versuche zur Rückkehr einer «Normalität», die eh nur für die gut Betuchten und Abgesicherten jemals eine war, wieder scheitern.
Der natürliche Feind aller Corner_innen ist Innenminister Nehammer. Nehammer, der Inbegriff des kleinbürgerlichen Spießers, der, mit seiner Partnerin im Park spazierengehend, das Diensthandy zückt, um «seine» Polizei gegen feiernde Jugendliche ins Feld zu schicken. Das war in der zweiten Junihälfte, nur wenige Wochen, nachdem am 5. Juni die Wiener Polizei erfolglos versuchte, den Karlsplatz zu räumen. Begleitet von Sprechchören: «Ganz Wien hasst die Polizei.» ABBA machten mit Dancing Queen dazu die Begleitmusik.
Wien wird heißer.
Wien wird mediterraner, sagen manche. Man könnte auch einfach sagen: heißer. Wien wird aufgrund seiner geografischen Lage eine der am stärksten von Klimakrise und Erwärmung betroffenen europäischen Großstädte sein. Die Pandemie liefert einen Vorgeschmack darauf, wohin das führen wird: zu einer stetig wachsenden Bedeutung des öffentlichen Raumes, der kein Luxus, sondern dessen Aneignung ein Grundrecht ist.
Das führt zu Konflikten. An der Reh-lackenwiese gibt es immerhin ein öffentliches WC. Eines – für hunderte Nutzer_innen täglich. Diesen Sommer ist aufgrund wachsenden Bedarfs ein einsames Dixiklo hinzugekommen. Und doch treibt es viele in die Büsche. «Das WC stinkt und ist eklig», so die immer wieder geäußerte Begründung. Am Donaukanal ist der Toilettennotstand altbekannt. Auf dem Karlsplatz stehen zwei Ö-Klos, die ab zehn Uhr abends überlaufen.
In ganz Wien gibt es zu wenige für alle zugängliche WCs. Vielerorts zahlt die Stadt Gastronom_innen dafür, dass sie ihre Toilettenanlagen der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Das ist eine folgerichtige Konsequenz daraus, dass die Stadt Wien fast jeden kommerziell verwertbaren Flecken vermarktet und an private Betreiber_innen verpachtet. Alternativkonzepte wie jenes der Architektin Gabu Heindl, das einen Vorrang für die nicht-kommerzielle Nutzung des Donaukanals vorsieht, wurden ausgebootet.
Als ein Beispiel dafür, wohin die Dominanz des Kommerziellen im Öffentlichen führen könnte, ein kurzer Ortswechsel zum Christine-Nöstlinger-Park, gegenüber vom Mistplatz an der Wattgasse in Hernals. Ein kleiner städtischer Park – mit WC-Anlage –, von vielen Menschen genutzt. Junge Leute spielen Tischtennis. Kids kicken im wöchentlich mit neuen Graffiti verschönerten Fußball- und Basketballkäfig. Skater_innen toben sich auf einer Rampe aus. Familien genießen an Holztischen ihre mitgebrachten Mahlzeiten. Auf der von Bäumen eingerahmten Liegewiese findet ein Kindergeburtstag statt. Nebenan spielen einige Studis ein elaboriertes Trinkspiel, während eine Yogagruppe nach dem inneren Frieden sucht. Genau hier wollte die Stadt Wien in der Hochphase des Sommerlockdowns eine von 23 sogenannten «Gastroinseln» errichten. Hinter diesem Begriff verbergen sich Pop-up-Schanigärten, komplett umzäunt. Sie sollten von Gastronom_innen betrieben werden, deren Lokale aufgrund von Corona-Beschränkungen nicht öffnen konnten. Letztendlich wurde der Plan nicht umgesetzt, zu schwierig war wohl einerseits die Umsetzung, andererseits wurden Gaststätten dann doch recht schnell wieder geöffnet. Es lohnt dennoch, diesen Vorstoß nicht einfach zu vergessen. Denn die Reaktion aus dem Büro des zuständigen Stadtrats Peter Hanke auf die Frage, ob hier nicht einer weiteren Kommerzialisierung des öffentlichen Raums Vorschub geleistet werde, ließ tief blicken. Idee der Gastro-Inseln sei es, «den Wiener_innen wieder eine kleine Form des normalen Lebens zu ermöglichen. Den Vorwurf, dass öffentlicher Raum dafür kommerzialisiert wird, können wir in dieser schweren Zeit nicht nachvollziehen.» «Normal» ist demnach, was hinter einer Bezahlschranke geschieht. Für alles andere ist die Existenzberechtigung prekär oder nicht vorhanden.
Achtung, Awareness!
Zurück zur Alten Donau. Inzwischen streifen zwei Männer mit weißen Warnwesten und der Aufschrift «Awareness-Team» zwischen den sitzenden Gruppen umher. Eine fröhliche Runde älterer Herrschaften, die sich an einem Tisch zu einem Glaserl mitgebrachten Weines versammelt haben, wird von ihnen darauf hingewiesen, die «Corona-Abstandsregeln zu befolgen». Ein größerer, zu einer Party versammelter Personenkreis junger Menschen wird ebenfalls entsprechend belehrt. Aus ersterer Gruppe schlägt den beiden Warnwesten freundliches Desinteresse, aus zweiterer schallendes Gelächter entgegen. Kein Wunder. Im Gastgarten eines nahegelegenen höherpreisigen Uferlokals einer Wiener Kaffeehauskette stapeln sich die Gäste auf engstem Raum, ungestört von jeglicher Corona-Polizei. «Dort kostet eine Weinflasche 45 Euro, meine mitgebrachte kostet nur 3 Euro. Und hier auf der Wiese ist es eh viel schöner», sagt eine junge Frau aus der Feierrunde. Und vom Tisch kommt die Rückmeldung: «In unserer Wohnung ist’s zu heiß. Da sitzen wir lieber an der Donau.»
Awareness-Team? Da war doch was. Als Reaktion auf den nächtlichen Tanz zwischen Polizei und Jugendlichen beauftragte die Stadt Wien «Awareness-Teams» aus den Reihen der IG Clubkultur. Die waren sechs Wochen lang unter anderem auf dem Karlsplatz und am Donaukanal unterwegs, «bewaffnet» mit Kondomen, Desinfektionsspray, Wasser und anderen Dingen, die Mensch auf einer Freiluftparty dringend brauchen könnte. «Aber die an der Alten Donau, das waren nicht wir», sagt _willi Hejda von der IG Clubkultur. «Wir arbeiten nicht mit Warnwesten. Wir arbeiten in Zivilkleidung. Das hier Beschriebene entspricht überhaupt nicht unserem Zugang.» Den Awareness-Teams sei es darum gegangen, eine solidarische Kultur im öffentlichen Raum zu schaffen. «Wir wollen erreichen, dass Leute sich gegenseitig helfen, wenn es Probleme gibt, dass unsere Arbeit letztlich überflüssig wird. So lange dem nicht so ist, helfen wir aus, wenn es zu sexistischen oder rassistischen Übergriffen kommt.» 14.000 Kontakte hätten die Teams gehabt, «und an jedem Abend ist was passiert, wo es gut war, dass wir da waren».
Und wer war nun an der Alten Donau unterwegs? Keiner weiß es. Oder keiner will es wissen. Weder der Bezirk Donaustadt noch die Stadt Wien noch die Polizei. Fakt bleibt, dass irgendwer im Sommer entlang der Alten Donau Hilfssheriff gespielt hat, um dann wieder zu verschwinden, in eine Nacht, die trotz oder wegen der Pandemie auch in Wien ein klein wenig wilder geworden ist.