Corona trifft alle – aber Corona trifft nicht alle gleichtun & lassen

Ausgangsbeschränkungen, Maskenpflicht, Home-Office. Zwischen diesen Eckpfeilern bewegt sich für viele Menschen die schöne neue Corona-Welt. Doch wer keine eigene Wohnung hat oder armutsbetroffen ist, stößt auf große Schwierigkeiten. Auch die Sozialarbeit wird vor Herausforderungen gestellt
Text: Christian Bunke, Fotos: Carolina Frank (Mirko, Constantin), Lisa Bolyos (Charles, Susi)

«Es gelten für alle Bürger dieselben Vorschriften, die Polizei ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass diese Bestimmungen eingehalten werden.» So beantwortet die Wiener Polizei per E-Mail die Frage, ob es ihrerseits eine besondere Sensibilisierung oder Strategie im Umgang mit Wohnungs- und obdachlosen Menschen gebe. Die Frage wurde nicht ohne Grund gestellt. Denn auch wenn manche Wiener Sozialeinrichtungen von einer positiven Zusammenarbeit mit der Polizei berichten, sprechen andere davon, dass es dort überhaupt kein Bewusstsein über die besonderen Schwierigkeiten dieser Personengruppe gebe. Die Positionierung der Polizei jedenfalls kann deutlicher nicht sein: «Für Obdachlose hier eine Ausnahme zu machen würde natürlich die gesamte Idee der Beschränkungen ad absurdum führen, weshalb es auch bei unserem Einschreiten keinen Unterschied machen kann und darf.»

Soziales Netzwerk Straße.

Das Recht ist für alle gleich, egal ob jemand eine Villa mit großem Garten besitzt oder in einer Notschlafstelle Unterschlupf finden muss. Ein Villenbesitzer kann es sich jedoch trotz Corona gemütlich machen, sich im Freien sonnen und die Lebensmittel per Lieferservice nach Hause schicken lassen. Soziale Distanzierung ist da kein Problem. Für viele Obdach- und Wohnungslose ist das soziale Netzwerk jedoch die Straße. Die genutzten Knotenpunkte sind gegebenenfalls zu Fuß zu erreichende Sozialeinrichtungen oder öffentliche Treffpunkte. Laptops, Smartphones oder andere digitale Hilfsmittel stehen ihnen nur sehr eingeschränkt zur Verfügung. Das ist schon zu «normalen» Zeiten eine anstrengende Situation. Jetzt wird es zu einer extremen Herausforderung.
«Das Virus ist für uns alle sehr frustrierend», sagt AUGUSTIN-Verkäuferin Juliane. «Viele Treffpunkte, zu denen ich normalerweise gehe, sind nun geschlossen. Ich habe kaum Zugang zu Behörden, alles ist zu. Die Angestellten sind nicht dort. Ich habe zwar ein Handy, aber es ist gerade nicht aufgeladen. Hoffentlich finde ich eine Möglichkeit, dies zu tun.» Juliane lebt derzeit in der Gruft, der Notschlafstelle bzw. dem Tageszentrum der Caritas. «Es ist sehr hygienisch dort, es hat sich noch keiner infiziert. Nur Leute, die dort schon einen Schlafplatz haben, werden hineingelassen.» Daneben mischen sich Sorgen und viele Fragen. «Was ist der Stand der Dinge mit dem Virus? Ich erhalte darüber kaum Informationen. Wie weit hat er sich inzwischen weltweit verbreitet?» Und konkret: «Wie werde ich zukünftig meine Wäsche waschen? Wo kriege ich Nahrung und Spenden her? Die meisten Plätze haben ja geschlossen.»

Wer bezahlt uns?

Nina, die ebenfalls den AUGUSTIN verkauft, berichtet von wachsender Verzweiflung. Ihr Sohn wohnt in Rumänien. Sie verkauft die Zeitung in Wien, um sich ihr Leben und die Miete zu finanzieren. Die Situation in Rumänien sei ein Desaster. «Die Polizei kontrolliert alle», sagt sie. Die Straßenzeitung ist ihre einzige Einkommensquelle. «Ich esse nicht mehr und schicke das Geld meinem Kind, verstehen Sie? Man muss auch die Familie, auch das Kind unterhalten.»
Also bietet sie weiter die Zeitung vor einem Supermarkt an. «Das ist möglich, weil der AUGUSTIN uns eine Bestätigung gegeben hat, dass wir die Zeitungen verkaufen dürfen. Die Chefin vom Supermarkt und die Leute hier kennen mich auch schon seit 13 Jahren. Ich habe also keine Probleme hier, mir ist bislang nichts passiert.» Und doch spürt Nina die Auswirkungen der durch Corona erzwungenen neuen Verhaltensweisen: «Die Kunden weichen ab. Manche sehr stark. Sie stellen das Geld auf den Boden, also sie kommen mir nicht mehr nahe. Außer Freunde von mir. Die wollen auch meine Hand nehmen. Aber ich weiche dann ab, weil es nicht erlaubt ist. Ich muss einen Meter Distanz halten.»
Trotz aller Distanz würden Menschen auch weiter die Zeitung kaufen. Aber: «Viele, die sonst immer gekauft haben, kommen eigentlich von anderswo. Vielleicht wohnen sie in anderen Bezirken, vielleicht kommen sie sonst nur zum Arbeiten in diese Gegend. Und jetzt sind sie weg. Manche haben Urlaub genommen, manche bleiben zu Hause. Ich habe gehört, die Leute kriegen jetzt Geld vom Staat. Aber uns, wer bezahlt uns? Niemand. Nur diese Leute, die bei uns Zeitung kaufen. Möge Gott ihnen helfen, die an uns denken.»

Hunger und Angsstörungen.

In manchen europäischen Großstädten wie zum Beispiel Frankfurt am Main oder London wurde inzwischen begonnen, Hotels für Wohnungs- und Obdachlose zu öffnen, um ihnen für die Dauer der Krise eine Unterkunft sowie die Möglichkeit zum Einhalten körperlicher Distanz zu bieten. Für Wien fordert die Initiative Sommerpaket Ähnliches. Auch in Wien stehen die Hotels jetzt leer, ob man sich dieser Ressource zukünftig bedienen möchte, darüber wollte man bei der Stadt Wien auf Anfrage nichts sagen. Man verweist auf eine Reihe von Maßnahmen, die gesetzt wurden. Notschlafstellen wurden, wo es möglich ist, auf Ganztagsbetrieb umgestellt, das Winterpaket verlängert. Um Mindestabstände zwischen den Menschen einhalten zu können, wurden allerdings die Maximalkapazitäten vieler Einrichtungen reduziert, nicht alle ergattern einen Platz.
Auch Tageseinrichtungen wie die Josi an der Josefstädter Straße bleiben geöffnet, sagt Vera Howanietz, Bereichsleiterin von Obdach Wien: «Unsere Klientel dort hat sich seit Beginn der Krise verschoben. Zur Josi kommen nun Menschen, die sonst nichts mehr haben, teilweise sind sie in gesundheitlich schlechtem Zustand. Wir haben alles komplett umgestellt. Unsere Klienten und Klientinnen kochen nicht mehr selber, wir kochen jetzt alles zentral und geben Lunchpakete aus. Die Motivation unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist sehr hoch. Wir wollen so lange wie möglich geöffnet bleiben. Für viele sind wir der letzte Anlaufpunkt.»
Die Angebote der in Margareten beheimateten Sozialeinrichtung neunerhaus bestehen ebenfalls großteils weiter. Die Arztpraxis, welche Patient_innen auch ohne Sozialversicherungsnachweis versorgt, hat fünf Tage die Woche geöffnet. Tierarzt- und Zahnarztpraxis laufen als Notbetrieb. Das Café hat geschlossen. «Es kommen aber seit Beginn der Krise immer mehr Leute hungrig zu uns», berichtet Geschäftsführerin Elisabeth Hammer. «Wir versuchen mit Lunchpaketen gegenzusteuern.» Sie rechnet mit einer zunehmenden Verschärfung der Lage: «Es gibt große Besorgnis in unseren Teams. Zuhause bleiben ist für Wohnungslose nicht umsetzbar. Unsere Klient_innen werden auch zunehmend von der Polizei angesprochen, teilweise gibt es Verwaltungsstrafen. Angststörungen und Re-Traumatisierungen nehmen zu, vor allem unter Nutzer_innen, die selber Kriegserfahrungen machen mussten. Es müssen dringend mehr Schlafplätze geschaffen werden, egal wo.»

Belastung für Sozialarbeiter_innen.

Auch für die in der Wohnungs- und Obdachlosenhilfe arbeitenden Menschen ist die Situation eine große Belastung. Das ist sie auch in normalen Zeiten schon. Nicht umsonst war die Beteiligung an Demonstrationen und Streiks für die Durchsetzung einer 35-Stunden-Woche kurz vor Beginn der Coronakrise gerade hier besonders groß. Umso größer dürfte die Enttäuschung darüber sein, dass die Gewerkschaften nun ohne Rücksprache mit ihren Mitgliedern einen Kollektivvertrag auf drei Jahre abgeschlossen haben, der nicht einmal in die Nähe einer 35-Stunden-Woche kommt.
«Wir brauchen Arbeitszeitverkürzung, wir brauchen mehr Personal», sagt ein Mitarbeiter einer nun auf 24-Stunden-Betrieb umgestellten Notschlafstelle. Er will lieber anonym bleiben, berichtet von großen Improvisationsmaßnahmen seiner Kolleg_innen. Klare Anweisungen «von oben» habe es kaum gegeben. «Es kommen auch immer noch Menschen vorbei, die einen Schlafplatz suchen. Die müssen wir wegschicken.» Die Klienten, es handelt sich um eine Notschlafstelle für Männer, scheinen aber auch etwas Positives an der Lage zu sehen: «Sie freuen sich, dass sie jetzt tagsüber nicht mehr rausgeschmissen werden. Sie bleiben gerne auf ihren Zimmern.» Den Ernst der Lage zu vermitteln sei nicht immer leicht: «Viele haben keinen Zugang zu Medien. Die wenigsten hier sprechen Deutsch als Muttersprache. Wir haben aber Aushänge in verschiedenen Sprachen. Manche glauben, dass sie sich schon nicht anstecken werden. Wir versuchen derweil Mindestabstände einzuhalten und haben die Arbeit umgestellt. Essen geben wir nicht mehr im Gemeinschaftsraum aus, sondern bringen es fertig angerichtet auf die Zimmer.»

Politische Veränderung.

Die Mitarbeiterin einer anderen Einrichtung berichtet, dass vermehrt Kolleg_innen in den Zwangsurlaub geschickt würden: «Einerseits beklatscht man uns, andererseits nimmt man uns den Urlaub weg», sagt sie. Gerade jetzt sei es wichtig, dass Beschäftigte «weiter Widerstand leisten», um Verbesserungen für sich und Wohnungslose zu erreichen. «Sonst wird die Situation für alle bald schlechter werden», fürchtet sie.
Derweil ist Nina froh, trotz allem weiter den AUGUSTIN vor ihrem Supermarkt verkaufen zu können. «Wäre ich jetzt nach Hause gefahren, ich könnte kein Geld verdienen und ich würde verhungern.» Österreich ist ein reiches Land, aber die Existenz vieler hier lebender Menschen ist prekär. Corona macht diesen Zustand noch drängender, und die Notwendigkeit politischer Veränderung im Sinne der Betroffenen ebenfalls.

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