„Da warten noch Hunderte“tun & lassen

Prekäre Arbeitsverhältnisse im Call-Center: Betroffene erzählen

Werner hatte mit Notstandshilfe und geringfügiger Beschäftigung zu wenig Geld zum Leben. Seither arbeitet er bis zu 68 Stunden in der Woche im Call-Center – je nach Arbeitsangebot. Krankheit oder Urlaubsbedürfnis sind in diesen Zeiträumen ein existenzielles Problem, weil sonst das Geld im nächsten Monat fehlt. Bei einem Stundenlohn zwischen 6 und 8 Euro Brutto mausert sich die Flexibilität zur Flexploitation.“Wenn am Wochenende gearbeitet wird, bin ich sieben Tage die Woche im Einsatz. Das sind 10,5 Stunden an Werktagen plus variabel bis zu 16 Stunden am Wochenende“, so umreißt Werner seine mehr als ausgefüllte Arbeitswoche bei guter Auftragslage. Wenn die Firma ihn braucht, ist er zur Stelle. Dem entsprechend muss Werner große Flexibilität in der Zeiteinteilung aufbringen. Auch Isabella berichtet: „Oft werde ich angerufen: `Hast du morgen Zeit?‘ “ Ich muss dann sofort das Handy nehmen und die anderen Institute anrufen und versuchen herumzuschichten. Sollte einmal die andere Firma ein dringendes Projekt haben, bin ich bereit, auch dort schnell einzuspringen.“

Rund 84 Prozent der Beschäftigten bei externen Call-Center in Österreich sind freie Mitarbeiter/innen (FORBA-Studie 2005). Aus Sicht der Arbeitgeber/innen besteht auch kein Grund zur Veränderung: Call Center Agents mit Freie-Dienstnehmer-Verträgen sind flexibel, stehen mitunter auf Abruf bereit und erhalten einen geringen Stundenlohn (Unterschiede bei den Branchen, insgesamt aber Niedriglohn). Zudem kann das volle unternehmerische Risiko an sie weitergegeben werden, wie Isabella erzählt: „Gerade vor Weihnachten war eine Krisenzeit. Da ist man drauf angewiesen, dass man zwischen den Firmen hin- und herspringt. Eine langfristige Planung ist dadurch nicht möglich. Es ist ganz einfach: Gibt’s keine Arbeit, gibt’s kein Geld.“

Der 42-jährige Werner kann einen HTL-Abschluss, eine Ausbildung im Verkauf und ein zum Teil absolviertes Studium an der Wirtschaftsuniversität Wien vorweisen. Nachdem er seine Anstellung und nach 6 Monaten den Anspruch auf Arbeitslosengeld verloren hatte, kam Werner in die Markt- und Meinungsforschung. Seit einem Jahr ist er in diesem Bereich hauptberuflich tätig und zwar ausschließlich im Rahmen freier Dienstverhältnisse. Damals boten ihm die flexiblen und unregelmäßigen Jobs bei mehreren Instituten eine rasche und unverbindliche Lösung, um seine Lebenshaltungskosten decken zu können – scheinbar ideal für die Übergangsphase.

Ähnliches gilt auch für Isabella. Die 30-Jährige hat ein Gymnasium absolviert und studiert Publizistik und Theaterwissenschaften in Wien. Für den Abschluss fehlen ihr einige Prüfungen und die Diplomarbeit. Um diesen letzten Teil finanzieren zu können, begann sie vor drei Jahren als Call Center Agent zu arbeiten. Doch das Provisorium dauert bei beiden an: Aufgrund des geringen Stundenlohns, der sozialen Unsicherheit und der geforderten zeitlichen Flexibilität sind Werner und Isabella bei der eigenen Arbeitssuche und dem eigenen Studium unflexibel geworden. Werner bringt sein Problem auf den Punkt: „Jetzt bin ich natürlich in einem Dilemma, weil durch die intensive Tätigkeit als Interviewer komme ich zu gar nichts anderem. Ich bin in einem Kreislauf drin, der mich gar nicht hinauslässt.“

Maximale Abhängigkeit durch soziale Unsicherheit

Trotz flexibler Arbeitsverhältnisse legen die Firmen oft Wert auf strenge Hierarchien. Das betrifft nicht nur die Kontrolle der Call Center Agents und ihrer Leistungen durch Aufsichtspersonen in den festgelegten Arbeitsräumlichkeiten, sondern auch die oftmals fix geregelten Arbeitszeiten. „Bei einer meiner Firmen sind die Pausen vorgegeben und müssen auf die Minute genau eingehalten werden. Am Abend haben wir bei 4 Stunden Arbeitszeit eine Viertelstunde bezahlte Pause. Tagsüber gibt es eine frei wählbare halbe Stunde Mittagspause, die aber nicht bezahlt wird. Bildschirmarbeitspausen sind kein Thema“, weiß Isabella zu berichten und bleibt damit nicht allein.

Der 37-jährige Manuel ist seit zwei Jahren als Call Center Agent im Telekommunikationsbereich tätig und hat im Rahmen eines freien Dienstverhältnisses die Erfahrung gemacht, dass bei gleichzeitigen strengen Vorgaben die Pausen nicht bezahlt und zur Privatsache gemacht werden: „Im schlimmsten Fall ist der Computer ausgefallen. Dann ist man da gesessen und wurde nicht bezahlt. Wenn man auf die Toilette gegangen ist, wurde das nicht bezahlt. Man musste dafür auf einen bestimmten Pausenknopf drücken, und das wurde nicht als Arbeitszeit gerechnet.“

Tatsächliche Flexibilität kann Manuel erst jetzt im Rahmen einer Teilzeitanstellung – ebenfalls im Call-Center – verwirklichen. Denn als Vater eines Kleinkindes muss er die Kinderbetreuung sicherstellen können. Dazu trägt nicht nur die große Freiheit in der Zeiteinteilung durch den derzeitigen Arbeitgeber wesentlich bei, sondern auch die soziale Absicherung durch das echte Dienstverhältnis, z. B.: der bezahlte Pflegeurlaub und das Krankengeld.

Davon allerdings kann Werner nur träumen, der bereits seit einigen Wochen an einer Entzündung des Halstraktes leidet. Solange er im Büro seiner „Stammfirma“ arbeitet, wird er sich nicht davon erholen: „Voll laufende Heizung und offene Fenster sind fatal. Wir haben sicher 6 bis 7 Leute außer mir, die deshalb gesundheitliche Schwierigkeiten haben. Dass der Arbeitgeber das in der Hand hat zu ändern, würde ich sehr wohl behaupten. Er müsste halt ein Interesse daran haben. Von dem merke ich nichts.“ Auch den Austausch des EDV-Programms, das laut Werner nach dem Arbeitnehmerschutz nicht mehr sein dürfte, werde die Firma seiner Einschätzung nach sicher nicht freiwillig in Angriff nehmen. Die Gesundheit der Mitarbeiter/innen sei offensichtlich nicht wichtig. Meine Frage, ob er den Vorgesetzten schon aktiv auf die Probleme angesprochen habe, kommentiert er mit einem wissenden Lächeln und erläutert: „Man erntet Bemerkungen wie: `Da warten Hunderte noch. Wennst nicht arbeiten willst, da ist die Tür. Auf Wiederschaun!'“

Den steigenden Druck erfährt Werner nicht nur anhand solcher Aussagen von der Arbeitgeberseite, sondern auch durch die Veränderungen im Arbeitsalltag. So bekam er in einem anderen Call-Center nach und nach eine neue Kollegen/Kolleginnenschaft: „Man hat Arbeitskräfte aus der Slowakei um einen geringeren Betrag dieselbe Arbeit leisten lassen, um einerseits Druck auszuüben und andererseits uns Arbeitskräfte zu substituieren.“ Zwar handelte es sich dabei um Dateneingabe und nicht ums Telefonieren, aber „vielleicht ist inzwischen ein komplettes Outsourcing in die Slowakei erfolgt?“ Werner ist allerdings nicht auf dem Laufenden, weil er das Unternehmen inzwischen verlassen hat. Ihm ist Geld nicht ausbezahlt worden, das ihm für erbrachte Leistungen zugestanden wäre. Nachdem Werner sich an die Gewerkschaft gewandt und um Interessensvertretung gebeten hatte, war seine Mitarbeit in dieser Firma nicht mehr erwünscht. Unterstützt wird er in seiner Kritik an vorsätzlicher Intransparenz bei leistungsbezogener Entlohnung von Manuel, der über einen seiner früheren Arbeitgeber Folgendes zu berichten weiß: „Ich habe mit Sicherheit nicht alle Provisionen erhalten, die mir zugestanden sind, und es bestand nie die Chance, das wirklich nachzukontrollieren. Es haben mehrere Computersysteme zusammen gespielt, und da fehlte mir einfach der Zugriff.“

Selbstorganisation braucht geeignete Strukturen

Warum lassen sich das mehrere tausend Call Center Agents gefallen? Warum organisieren sie sich nicht? Diese Fragen liegen auf der Hand, die Diskussion über allgemeine Antworten und Lösungsansätze für prekär Beschäftigte in aller Munde.  Werner betrachtet seine eigene Kollegen/Kolleginnenschaft und ortet bei diesen ungefähr 50 Arbeitnehmer/innen die unterschiedlichsten und einander widersprechenden Interessen: „Die Gruppe ist nicht homogen. Da sind einmal diejenigen, die das machen, weil sie Geld brauchen, also wirklich Geld brauchen. Die sind den ganzen Tag da. Dann gibt’s die klassischen Dazuverdiener und schließlich diejenigen, die maximal bis zur Geringfügigkeitsgrenze verdienen dürfen. Wenn ich in der Woche 2 mal 4 Stunden da bin, habe ich natürlich andere Interessen, als wenn ich die ganze Zeit da bin.“ Die Kontakte untereinander sind dementsprechend lose gehalten, wobei die Individualisierung durch eine hohe Fluktuation in den Firmen unterstützt wird.

Gemeinsam ist fast allen, dass sie den Call-Center-Job (lange Zeit) als Übergangslösung sehen: Die Identifikation läuft weder über das Beschäftigungsverhältnis noch über die Tätigkeit oder den gesellschaftlichen Status, der damit verbunden wird. Denn das Arbeitsverhältnis ist nicht nur in Hinblick auf die bekannten finanziellen und sozialen Rahmenbedingungen prekär; auch die Wertschätzung und Achtung für die Arbeit des Call Center Agents ist gering. Diese sogar doppelte „Negativdefinition“ (Susanne Pernicka) untergräbt auch die Selbstorganisation: eine große Herausforderung, hier etwas ändern zu wollen.

Das Zukunftsprojekt „CallGPA“ wandte sich im Mai 2006 speziell an die Zielgruppe der Call Center Agents und thematisierte öffentlich deren oftmals prekäre Situation, speziell in externen Call-Center. Die Forderungen der GPA (Kollektivvertrag, Gleichstellung Freier Dienstnehmer/innen im Arbeits- und Sozialrecht u. a.). wurden auf einer Pressekonferenz vorgestellt. Diese Maßnahmen sind durch Aktionstage und Gespräche direkt mit den Agents, eine Hotline sowie eine Website mit Forum und Newsletter begleitet worden. Im Mittelpunkt stand die Aufklärung über Arbeitsrechte und die Vernetzung. „Der nächste Schritt ist wichtig, nicht der erste“, lautet der emphatische letzte Satz im Projektbericht und klingt wie ein Versprechen im Ohr. Denn nachhaltige Strukturen sind keine Frage von Website, Forum oder Hotline.

Das hat auch die aktuelle branchenübergreifende Mindestlohn-Kampagne von „ver.di“ (Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft) in Deutschland unter Beweis zu stellen. Sie ging zunächst von einer klar eingegrenzten Zielgruppe aus: Es sollte nach dem amerikanischen „Organizing“-Vorbild eine öffentliche Kampagne mit Hamburger Sicherheitskräften durchgeführt werden. Dadurch würden sich langfristige Strukturen entwickeln können und eine starke regionale Verankerung gewährleisten. Das Rezept umfasste neben umfassender Öffentlichkeitsarbeit sehr viel Basisarbeit, also eingehende Gespräche mit den Arbeiter/innen („Get their story! Explore how they feel“), die laufende Einbindung der Kontaktpersonen, die Organisation von „Aktiven-Treffen“ und das Training der Arbeitskräfte, damit sie Ihre Kampagne selbst weiter führen können. „Mit einer Kampagne für Freie Dienstnehmer/innen könnte ebenfalls Druck gemacht werden“, schlage ich Werner spontan vor. Er ist skeptisch: „Das ist einfach ein Abwiegen aus Einsatz und Ergebnis. Denn was passieren kann, habe ich schon einmal erlebt.“