Otto Lechner ist die Decke auf den Kopf gefallen
Bei einem Baumsturz Ende Oktober kam der Akkordeonist Otto Lechner mit leichten Verletzungen davon, seine Familie mit dem Schrecken. Die Studiowohnung des Musikers verlor dabei ihr Dach. Seither fehlt es. Vom Leben und Planen unter Planen und Kübeln berichten Florin Mittermayr (Text) und Irmgard Derschmidt (Fotos).
«So ein Geräusch hatte ich zuvor noch nicht gehört: Wie eine Mischung aus Donnern und Bombeneinschlag. Ein Urknall. Und dann hat es Glasscherben geregnet. Zehn Sekunden lang – eine gefühlte Ewigkeit. Und verschiedene andere Gegenstände.» Den Ohren eines Otto Lechner ist getrost zu trauen: Seit Jahrzehnten ist der blinde Komponist und Akkordeonvirtuose fixer Bestandteil der internationalen Musikszene, seit 1987 ist die kleine Wohnung im zwanzigsten Wiener Gemeindebezirk für ihn zugleich künstlerische Keimzelle, Proberaum, Studio und Schlupfwinkel. Und nicht zuletzt auch ein Refugium für das Zusammensein mit Freund_innen und Familie. So auch an jenem stürmischen 23. Oktober 2018: «Es war so gegen fünf, wir hatten einen Rückzugsort-Gast auf Besuch und sind am Küchentisch zusammengesessen. Wie die Decke heruntergekommen ist, wollte meine Frau Anne gerade die Spaghetti auf den Tisch stellen. In die Stille nach dem großen Krach habe ich noch gesagt: ‹Des woar jetz‘ da Baam.›»
Eine unwirkliche Situation: Otto Lechner bleibt mangels Alternativen nichts, als unverändert an seinem Platz das Ende des Scherbenregens abzuwarten. Seine Frau Anne Bennent macht instinktiv einen Schritt in Richtung Flucht, um zu begreifen, dass sie schon zuhause ist – und jetzt niemanden alleine lassen kann und will. Die Heftigkeit der Erschütterung lässt den Gast an einen Hauseinsturz denken, er stellt sich in den naheliegenden Türstock. Und exakt dreißig Sekunden nach dem Einsturz betritt der gemeinsame Sohn Felix – von der Schule kommend – die Küche. Und weiß nicht, wie ihm geschieht: «Er sah mich da sitzen, den Kopf in Glasscherben und voller Blut. Er hatte Kopfhörer auf und überhaupt nicht kapiert, was los ist. Wir haben ihn dann fotografieren geschickt, allein schon damit er beschäftigt ist. Es waren einfach alle unglaublich geschockt.»
Glück im Unglück: Eine Medizinerin aus der Nachbarschaft sieht durch ihr Wohnungsfenster, dass ein massiver Hauptast eines Hofbaumes auf das Studio gefallen ist und dessen Dach samt Glasgiebel durchbrochen hat. Sie hört Schreie, kommt ohne Zögern zu Hilfe und versorgt Otto Lechners Schnittverletzungen am Kopf und im Gesicht, alle anderen sind so weit unverletzt. Im Weggehen bemerkt sie am Gangfenster, dass auch der zweite große Ast des Baumes nur noch von der Rinde in der Luft gehalten wird.
Wenn du weg bist, kommt der Regen. Nach dem ersten Schock rufen Otto Lechner und Anne Bennent die Feuerwehr, die überaus hilfsbereiten Einsatzkräfte erscheinen rasch und in guter Besetzung. Die Plane, mit der das Dach schließlich fürs Erste notdürftig geflickt wird, stammt aus dem Eigenbestand des Hausherren – in weiser Voraussicht hatte dieser seinen Gast zeitgleich mit dem Telefonat zur Notrufzentrale in den Baumarkt geschickt.
«Dann wird von der Feuerwehr abgesperrt. Du kannst noch versuchen, das Notwendigste in aller Schnelle in Sicherheit zu bringen, dann musst du abziehen. Allein schon wegen der Lebensgefahr – es war ja auch lebensgefährlich. Und dann, wenn du weg bist: Dann kommt der Regen …»
Die Hausverwaltung wird verständigt. Am 24. Oktober versucht eine über diese herbeigerufene Bauspenglerei die Decke notdürftig mit weiteren Planen abzudichten. Im Studio- und Proberaum wird ein provisorischer Stütztram eingezogen. Es regnet den ganzen Tag in Strömen. Am 25. Oktober beseitigen Baumpfleger in einem eines Trapezkünstlers würdigen artistischen Akt, was vom gefallenen Riesen noch übrig ist. Die Wohnung wird wieder für betretbar erklärt.
«Wenn du dann die Tür wieder aufmachst, kommt dir eine dicke, dunkle Suppe entgegen – aus Schutt, Staub und tausenden Glassplittern in allen möglichen Größen. Hammond-Orgel, Fender Rhodes und Ziehharmonika waren alle im Wasser und sind nicht mehr zu retten.» Allein das grobe Zusammenräumen hat über zwei Tage gedauert: «Scherben finde ich auch heute noch, sechs Wochen später. Barfußgehen ist nicht zu empfehlen.»
Zick-Zack zwischen den Kübeln.
Was an Geräten noch funktioniert, transportiert Otto Lechner unmittelbar nach dem Baumsturz in sein Haus im Waldviertel. Nicht nur, um die Wohnung für die anstehenden Renovierungsarbeiten schnellstmöglich geräumt zu haben, sondern schlicht, um weiterarbeiten zu können: «Das war ein richtig funktionierendes Studio mit Instrumenten, Computern, Aufnahmeequipment. Hier kann ich nicht mehr aufnehmen. Ich muss aber gerade jetzt Filmmusik machen – absurderweise zum Thema Bora, also über den adriatischen Nordwind. Mit Sturm und Schnee und allem Drum und Dran.»
In Wien fiel der erste Schnee im Jahr 2018 am 11. November. Und es schneite noch weitere vier Tage, bis schließlich am 2. Dezember gar die Autobusse der Wiener Linien am Kahlenberg liegen blieben. Vorübergehend, versteht sich. Wie ja auch die weiße Pracht auf Straßen und Dächern.
Und Planen: «Bei Schneeschmelze kommt es in der Küche auch herunter. Bei Regen tropft es nur ins Studio, dafür aber an zwanzig Stellen gleichzeitig. Meine Situation ist folgende: Ich kann einerseits hier nicht wohnen, muss aber andererseits Tag für Tag zwei Mal die Kübel ausleeren kommen, von denen du gar nicht genug aufstellen kannst.» Dass der Zick-Zack-Kurs zwischen den Kübeln als blinder Wohnungsnehmer überaus gut gemerkt sein will, sei dem sehenden Publikum hier nur am Rande mit auf den Weg gegeben.
«Irgendwann hält man es dann einfach nicht mehr aus und denkt sich: Irgendetwas tun wir jetzt.» Gemeinsam mit seiner Frau gebiert Otto Lechner am 5. Dezember die Vision vom «Deckentrichter» – einer Art umgedrehten Regenschirm: Groß genug, um alle undichten Stellen abzudecken und die eindringenden Wassertropfen aufzufangen. Und am tiefsten Punkt mittig mit einem Abfluss ausgestattet, durch den das gesammelte Wasser abrinnen kann – in einen einzigen Kübel (in Zahlen: 1).
Ein Zuhause ist ein Zuhause ist ein Zuhause.
Also noch eine Plane, diesmal mit festen Schnüren quer durch das Zimmer gespannt, ein Gartenschlauch und ein wenig Schaumstoff, um die nervende Geräuschkulisse der aufschlagenden Wassertropfen im Auffangkübel zu unterbinden. «Alles in allem war das inklusive Einkauf in zweieinhalb Stunden erledigt. Der Trick dabei ist: Du musst die Plane ein Stück weit in den Gartenschlauch ziehen, dort wo Du das Loch für den Abfluss reinschneidest. Dann rinnt es wirklich!» Seither ist für den Musiker das Klavier wieder trockenen Trittes erreichbar – erstmals seit sechs Wochen. Wie auch der gesamte Studioboden wieder trocken ist, wenn auch schwer mitgenommen.
Eine Dauerlösung kann der Deckentrichter aber wohl nicht sein – eine knappe Woche vor Winterbeginn. Und passiert ist seitens der Hausverwaltung in Otto Lechners Wohnung seit dem 25. Oktober wenig bis gar nichts – abgesehen von ein paar warmherzigen Zusagen, einem gebrochenen Terminversprechen hinsichtlich des Sanierungsbeginns und einigen unverlangt dargebrachten Berichten über die Unwägbarkeiten im österreichischen Kostenvoranschlags- und Versicherungswesen. Dass die Situation mit Abnahme der Temperaturen und Zunahme der Niederschläge nicht besser wird, rufen mittlerweile die Krähen von der Dachplane.
Wobei schwer zu überhören ist: Ein Zuhause ist ein Zuhause ist ein Zuhause. Weit mehr als nur zwei trockene Füße: «Ich muss ja auch wo proben können. Arbeiten und Konzerte vorbereiten, so zum Beispiel für das kommende Akkordeon-Festival. Und schließlich ist eine Wohnung ja auch ein Rückzugsort, an dem man sich konzentrieren kann. An dem man etwas tun kann. Und in den es nicht hineinregnet.» Womit sich die Weihnachtswunschliste Otto Lechners in einem Satz auf den Punkt bringen lässt: «Und so wünsche ich mir vom Christkind ein Dach über dem Kopf.» Hinzuzufügen wäre allerhöchstens noch ein netter kleiner Baum, der zur Abwechslung einmal durch die Tür ins Haus kommt .