Damals in Traiskirchentun & lassen

1989. Während in Europa die Grenzbalken beseitigt werden, begründet die Juristin Gertrude Hennefeld auf Initiative der Pfarrerin Christine Hubka in Traiskirchen den Flüchtlingsdienst. Ihre Erinnerungen an diesen «Ein-Frau-Betrieb», der Wunder bewirkte, hat sie dem Augustin überreicht. Wir bringen einen Ausschnitt.

TEXT: GERTRUDE HENNEFELD
FOTOS: JANA MADZIGON

Mein Dienstverhältnis beginnt im Mai 1989. Die Arbeit, die ich vorher gemacht habe, hat mir nicht nur keinen Spaß gemacht, sondern mich belastet, weil sie häufig mit meinem Gewissen nicht vereinbar war (viel Exekutionsrecht, Mietrecht inkl. Delogierungen). Nach einem Sabbatjahr, in dem ich teilweise arbeitslos war (eine sehr heilsame Erfahrung!), erfuhr ich über meinen Mann Stefan, dass die Pfarrerin der Pfarrgemeinde Traiskirchen, Christine Hubka, jemanden suchte, der oder die für sie die Flüchtlingsarbeit machen könnte, da sie das neben der Tätigkeit als Gemeindepfarrerin nicht leisten könnte.

Die Wende und das Klo.

1989 ist bekanntlich das Jahr der Wende in Europa. Zunächst kommen viele Ostdeutsche; ein Freund von Amnesty International schickt eine Karte: «Hurra, endlich haben wir den idealen Flüchtling: blond, blau­äugig, deutschsprachig und bleibt nur drei Tage.» Immer mehr Menschen aus den ehemaligen Ostblockstaaten kommen. Das Lager ist übervoll, rechte Parteien schüren mit Unterstützung einiger Zeitungen Ängste, die Bevölkerung in Traiskirchen, auch die Gendarmerie, beginnt unruhig zu werden. Als ich zum Lagertor gehe, weil dort für irgendjemanden etwas zu erledigen ist, pfaucht mich der Polizist an: «Verschwinden Sie da, Sie mischen sich in alles ein!» «Ja», antworte ich, «dafür bin ich ja da.» Der Gendarm schäumt, er will mit meinem Chef reden. «Fein», sage ich, «Sie sind in der Kirche jederzeit willkommen.» Dass ich Angestellte der Kirche bin und aus meiner Überzeugung heraus den Menschen hier helfen will, glauben mir viele Beamten mit der Zeit, was meine Arbeit erleichtert und bei manchen so etwas wie eine Vertrauensgrundlage schafft.
Viele der Ankommenden werden nicht in Bundesbetreuung aufgenommen und haben keinen Platz zum Schlafen, nichts zu essen,
keine medizinische Versorgung. Es mangelt an allem. Eines Tages kommen mehrere Flüchtlinge mit einem großen Blatt Papier mit vielen Unterschriften: eine Petition, sagen sie. Ich vermute, dass sie eine menschenwürdige Unterbringung, etwas zu essen oder Ähnliches fordern. Nichts von alledem: Sie ersuchen, ein WC benützen zu dürfen. Pfarrerin Hubka und ich haben dieses Papier dann immer die «Klo–Petition»
genannt. Man muss erwähnen, dass zu dieser Zeit die Toiletten im Bahnhof der Badner Bahn versperrt sind, nur ein österreichisch aussehender – ?? – Mensch mit einer Karte für die Badner Bahn kann sich beim Schalter einen Schlüssel ausborgen. Da das für Asylwerber praktisch nicht möglich ist, werden diese «Geschäfte» in den Weingärten erledigt, was die Bevölkerung wieder zornig macht. Die Atmosphäre in Traiskirchen ist damals schon nicht flüchtlingsfreundlich: Alle Bänke werden abmontiert, parken dürfen nur Anrainer; da ich hier «nur» arbeite, darf ich bei der Kirche nicht das Auto abstellen, selbst wenn ich etwas zu transportieren habe. Ein Strafzettel ist keine Seltenheit, meinem Einspruch wird aber immer Folge geleistet.

Unruhe von außen, Unruhe von innen.

Ich muss eine Art «Bedürfnispyramide» erstellen, um für mich zu klären, was ich als Erstes für die bei mir Gelandeten tun muss. Eine Unterbringung, wenn auch noch so einfach, scheint mir zunächst am wichtigsten. So kommt es, dass der Saal der Pfarrgemeinde Trais­kir­chen auf Jahre hindurch auch Notquartier für bis zu sechzig Menschen oder mehr ist. Für die dort schlafenden Menschen muss die Situation in jeder Hinsicht belastend sein, haben doch die meisten nicht die Möglichkeit, ihre Lage zu verbessern oder zumindest irgendwie selbst zu gestalten. Ich denke noch gern an jenen Schützling, der von Beruf Friseur und überall beliebt und gefragt war, weil er allen die von ihnen gewünschte Frisur verpasste. Er war besonders ausgeglichen und zufrieden, weil er selbst aktiv sein konnte, weil er gebraucht wurde und dadurch ein gesundes Selbstbewusstsein hatte.
Von den damaligen Beratern wird das Arbeiten im Gemeindesaal unterschiedlich erlebt: Schlimm ist – da sind wir uns einig –, dass es nicht möglich ist, ein vertrautes Gespräch zu zweit zu führen. Immer ist die «Öffentlichkeit» dabei. Ein Paravent schafft bis zu einem gewissen Grad Abhilfe, aber die Unruhe bleibt, die Unruhe, die nicht nur von dem hohen Geräusch­pegel, sondern aus dem Innersten der Menschen kommt. Wir sind mitten in jene Unruhe hineingezogen, in der sich entscheiden wird, ob diese Menschen eine und, wenn ja, welche Zukunft sie haben, und da wir eben eine Mitverantwortung haben, würden wir uns gerne dem einen Menschen, der vor uns steht, widmen und mit ihm und für ihn eine Lösung suchen.

«Gib Sglaslher!»

Einer von den vielen, die kein gutes Haar an Flüchtlingen lassen, ist der Inhaber der Papierhandlung. Als die europäischen christlichen Asylwerber verschwunden waren – weitergezogen oder nach Hause gegangen –, schimpft er erst recht auf sie: «Was mache ich jetzt mit meinen vielen Weihnachtskarten? Wer kauft die jetzt?» Die Flüchtlinge sind auf jeden Fall die Bösen: Sind sie da, ist es schlecht, sind sie nicht da, ist es ebenso schlecht. Über die Weihnachtsfeiertage muss der Gemeindesaal in Traiskirchen den Mitgliedern der Pfarrgemeinde zur Verfügung stehen, die Flüchtlinge dürfen im Schweizerhaus Hadersdorf wohnen. Pfarrer Wittich macht dort einen Weihnachtsgottesdienst für sie. Die Predigt besteht aus acht Wörtern: «Denn sie hatten keinen Platz in der Herberge.» Jeder darf einen Wunsch auf eine kleine Karte schreiben und an den Weihnachtsbaum hängen. Alle haben denselben Wunsch: wieder nach Hause zurückkehren können.
Manchmal fürchte ich mich, in der Früh zum Gemeindesaal zu kommen. Unzählige Menschen warten dort mit Fragen und Problemen, die mir nie in den Sinn gekommen wären. Vom Eintreffen in Österreich bis zur Integration, der Hilfe bei Arbeitssuche bis zum Antrag auf Verleihung der Staatsbürgerschaft. Alltagsfragen – Wie und wo kann ich Unterwäsche für mich kaufen? – genauso wie große schwere Fragen im Zusammenhang mit Liebe, Ehe, Geburt, Tod – alles hat in der Fremde ein Mehr an Gewicht. Oft sind es auch ganz einfache Fragen, sodass wir lächeln müssen. Einem polnischen Jungen haben wir geholfen, eine Lehrstelle in einem Hotel in Baden zu bekommen. «Danke, mir gefällt die Arbeit gut. Aber die Kollegen verstehen? ‹Gib Sglaslher!› ‹Gib› verstehe ich, aber ‹Sglasl­her› nicht.»

Grenzen im Kopf.

Immer wieder gibt es Konflikte mit dem Innenministerium. Ein Höhepunkt war die «Rumänenkrise». Nach dem Sturz des Ceaușescu-Regimes flüchteten viele Rumänen auch nach Österreich, von politischen Parteien, aber mehr noch von bestimmten Zeitungen wurden Ängste vor ihnen geschürt. Den Höhepunkt erreichte diese Kampagne, als in einer Zeitung als Schlagzeile aufschien, dass «60.000 Rumänen im Anmarsch auf Traiskirchen» seien. Die Volksseele in Traiskirchen kochte. Ich glaube, es war damals, als eine bekannte Bürgerin zu Pfarrerin und zu mir kam, behauptete, sie sei der (Erz-)Engel von Traiskirchen, weil sie alle beschützen wolle. Wir sollten nur versprechen, dass wir uns um Flüchtlinge nicht mehr kümmerten, dann würde sie dafür sorgen, dass die für halb drei Uhr angekündigten Schlägertrupps nicht kämen. Auf diesen Deal gingen wir natürlich nicht ein, riefen aber bei der Gendarmerie an mit der Bitte um Schutz. Bei der Gendarmerie erklärte man uns jedoch, dass sie für unseren Schutz nicht zuständig sei. Die Gendarmen waren anderweitig im Einsatz; sie bildeten einen Kordon rund um das Lager, um so zu verhindern, dass die in der Zeitung angekündigten 60.000 Rumänen in das Lager gelangen würden. Traiskirchner sperrten sämtliche Zufahrts­wege zu der Stadt ab. Der Fairness halber muss gesagt werden, dass der damalige Innenminister Löschnak versuchte, zu beruhigen, und selbst nach Traiskirchen fuhr. Dort sei er – so wurde mir erzählt – von jemandem mit einem Messer angegriffen worden. So leicht ist es offensichtlich, Menschen aufzuhetzen; in diesem Fall durch Falschmeldungen. Tatsächlich kamen damals Rumänen, aber nur ein paar wenige.
Eines Tages kam ein rumänischer Asylwerber zu uns, der erzählte, dass Rumänen in verschlossenen Viehwaggons abgeschoben würden. Ihm sei es gelungen, zu entkommen. Als ich das im Arbeitskreis der Katholischen Aktion berichtete, wurde einstimmig beschlossen, etwas gegen diese Vorgangs­weise zu unternehmen: Wir schalteten Annoncen (ich glaube, im profil), die von sehr vielen Leuten mitunterschrieben wurden. Auf dem Platz vor der Albertina wurde eine Demonstration veranstaltet. Abschiebungen dieser Art fanden meinem Wissen nach nicht mehr statt. Gut in Erinnerung ist mir auch die Veränderung der Grenze: Natürlich war der Eiserne Vorhang bald Geschichte, aber so wie Wachtürme auf der ungarischen Seite abgerissen wurden, wurden auf der österreichischen Seite welche aufgebaut.

Das Wunder des Überlebens.

Wie es mir persönlich mit alldem ergangen ist? Das Gefühl der Ohnmacht dominierte, der Fassungs­losigkeit gegenüber dem, was Menschen einander antun können. Und man kann (fast) nichts dagegen tun. Oder gegenüber dem Zynismus und der Gleichgültigkeit vieler Menschen hier. Weiters ist es mir bis heute nicht gelungen, alles auszusprechen, was unsere Schützlinge erlebt haben. Aber dann denke ich an die Gesichter der Menschen vor mir, ihre erwartungsvollen, hoffnungsvollen, ängstlichen, leeren, abgestorbenen, glückstrahlenden, lachenden Augen … und ich denke an das Wunder des Überlebens, das mir immer wieder begegnet ist, trotz allem.
Für mich haben diese Jahre zu den intensivsten meines Lebens gehört (ob es wohl dazu gehört, so viele Fehler gemacht, so viel verabsäumt zu haben?). Ich habe viel Post bekommen, habe sie aber nicht aufgehoben, nur einen Brief, nämlich den von Dimitré Dinev: «Sehr geehrte Frau Hennefeld, Ihr Mail hat mich sehr berührt und wieder in jenen Winter zurückversetzt, als mein Freund Rado und ich durch und rund um das Lager schritten auf der Suche nach etwas, das uns ein wenig Sicherheit geben könnte, auf der Suche nach Hoffnung … Ach, eigentlich waren wir auf der Suche nach unserer Zukunft. Ich bilde mir ein, ich bin Ihnen begegnet an jenem Ort, wo Sie tätig waren. Es ist mir ein Bild geblieben. Eine Frau mit Brille sitzt umgeben von vielen Menschen aus Pakistan oder Indien oder Bangladesch. Es ist sehr laut, aber die Frau ist sehr ruhig. Diese Ruhe hat mich beeindruckt. Ich habe mit der Frau geredet, aber ich habe vergessen, was sie mir geraten hat. Vielleicht waren Sie das, vielleicht eine Ihrer Kolleginnen. Aber egal, wie verwischt die Erinnerung heute auch ist, eines steht für mich außer Zweifel. Ich sah das Bild einer Frau, die vielen geholfen hatte und weiter bereit war zu helfen.»

Gegen das Monopol der Erinnerungspolitik

Geschichte von unten wird gemacht. Aber wird sie auch ausreichend dokumentiert? Über den «Kollateralnutzen» der Erinnerungen von Gertrude Hennefeld und die Notwendigkeit einer Bibliothek der anderen Geschichte Österreichs.

TEXT: ROBERT SOMMER

Die Erinnerungen der Flüchtlingshelferin Gertrude Hennefeld führen uns in eine Zeit zurück, in der das Phänomen der freiwilligen sozialen Arbeit, man könnte sie pathetischer auch als jene des Aufbruchs der zivilen Gesellschaft bezeichnen, zum ersten Mal eine «kritische Masse» entstehen ließ, die den Staat verdutzte. Denn er wusste nicht recht, wie er mit dem neuen Phänomen umgehen sollte. Waren die entstehenden NGOs Verbündete oder, weil sie z. B. den «Häusl-Aufstand» der Traiskirchner Flüchtlinge unterstützten, Unruhe­stifter? Sich die Geschehnisse vor drei Jahrzehnten noch einmal – und nun aus der Sicht der «Basis» und dezidiert nicht aus offizieller Perspektive – zu Gemüte zu führen, ergibt im Hinblick auf heutige Auseinandersetzungen dreifach Sinn.

Local Heroes der Zivilgesellschaft.

Erste Lehre: Hennefelds Text ist ein Protokoll von unten gegen die Geschichte der Sieger_innen. Das ist gut so, denn weder den Regierenden noch der historischen Wissenschaft sollte man das Monopol auf Erinnerungspolitik zubilligen. Alois Mock zog zusammen mit seinem ungarischem Amtskollegen Gyula Horn eine Show beim Eisernen Vorhang ab. Das berühmte, von Pressefotografen arrangierte Bolzenschneiderattentat gegen die Staatsdrahtgrenze sollte die Menschen aus Osteuropa ermuntern: Willkommen in der Freiheit! Willkommen in der Welt der sanfteren Klopapiere! Als sie aber wirklich kamen, war es zu Ende mit dem Humanismus des Staates. An seiner Stelle sorgten tausende freiwillige Helfer_innen, Local Heroes der Zivilgesellschaft, dafür, dass die Flüchtlinge der Wendezeit 1989 bis 1991 nicht mit Kapitalismus-Propaganda zugeschüttet wurden, dass sie sich stattdessen auf die Wiederherstellung vieler durch die Dramatik der Situation in Stücke zerrissener Familien fokussieren konnten.
Als Zeitungen mit Schlagzeilen, wie «60.000 Rumänen im Anmarsch auf Traiskirchen» fast eine Art Pogromstimmung verursachten, beschloss die Regierung einen großen Gendarmerieeinsatz – aber nicht, um die Flüchtenden zu schützen, sondern um Traiskirchen wieder einmal vor einem Sturm aus dem Osten zu verteidigen. Im Jahr 2015, angesichts der letzten großen Flüchtlingswelle, zeigte sich, dass die Bereitschaft zu zivilcouragiertem, ja sogar zivil ungehorsamem Handeln nicht erschöpft war – trotz der massenhaften Erfahrung, dass der Staat jede Geste des Einander-Näherkommens von Staatsbürger_innen und Schutzsuchenden als potentiell gesetzwidrig einstufte, weil jeder erfolgreich abgeschlossene «Fall» als Einladung für die noch zurück Gebliebenen verstanden würde. Dessen ungeachtet, stellte sich das offizielle Österreich als das Musterland des Westens dar, was die vermeintliche Offenheit des Landes für Flüchtlinge aus Osteuropa betraf.

Bibliothek der Erinnerungen.

Wie ambiva­lent dieses Engagement des Staates in den Phasen der reziproken Intensivierung des «Kalten Krieges» war, ist Andreas Wahls Diplomarbeit Österreichs Asylwesen 1914 bis 1990 zu entnehmen. Wahl erinnert an den gescheiterten Versuch der Bundes­re­gierung, einen Aufnahmestopp für Flüchtlinge aus Vietnam, Laos und Kambodscha zu dekretieren, und das, obwohl auch diese Flüchtlinge der Staatsraison nach einen akzeptierten Fluchtgrund hatten – die Unfreiheit in ihren Ländern. Er zitiert einen Mitarbeiter des Bischofs der Diözese Linz: Gegen den Aufnahmestopp habe sich «das gesunde Volksgewissen der Österreicher mit elementarer Kraft zu Wort gemeldet, und es boten sich spontan ca. 150 Pfarrpatenschaften an, die sich bereit erklärt haben, eine Patenschaft mit allen Konsequenzen zu übernehmen. Sogar der Innenminister äußerte sich glücklich, dass die Flüchtlingsaufnahme in Österreich endlich aus der seelenlosen Betreuung in eine menschliche Aufnahmeform übergeht».
Würden alle Protagonist_innen einer Solidaritätsarbeit, im Interesse welcher sozial Benachteiligter auch immer, die Leidenschaft und die Kompetenz be­sitzen, gleich Gertrude Hennefeld ihre Erfahrungen zu Papier zu bringen, könnte die Summe dieser Erinnerungen, zusammen mit den Ergebnissen einer nicht von den Eliten abhängigen neuen Forschung, der Grundstock einer Bibliothek der anderen Geschichte Österreichs werden. Der Geschichte von unten.

Zweite Lehre: Als Teil dieser noch imaginären Geschichte von unten ist das lebendige Protokoll der Flüchtlingshelferin nicht ohne aktuelle Brisanz. Es geht darum, zu überlegen, wie es in Österreich dazu kommen konnte, dass eine zivil­gesellschaftliche Bewegung, wie sie sich in den jüngeren Migrationswellen der Habenichtse äußerten, in der Corona-Krise praktisch nicht präsent ist. Die Antwort kann nicht nur im Desinteresse des Staats liegen, sich ständig der tätigen Kritik von Schwärmen freiwilliger Helfer_innen auszusetzen. Denn eine strenge Haltung des Staats gegenüber zivilem Ungehorsam oder auch nur zivilem Engagement hat die Beteiligten noch nie «brav» gemacht. Jedenfalls fänden soziale Bewegungen und NGOs in der Pandemiekrise viele Felder vor, in denen ihre Hilfe gebraucht wird, umso mehr, als von Regierungsseite her der Klassenaspekt der Herausforderung Corona geleugnet wird: Arme sterben schneller an Corona als Reiche.

Die Freiheit, die Regeln zu interpretieren.

In vielen Ländern der Welt ist die freiwillige Arbeit auf dem Gebiet der armutsfördernden Lockdown-Folgen in Gang gekommen; es erstreckt sich von den Essensausgabestellen (eine Solidaritäts-Vollstreckung, in der es eigentlich viele sehr kompetente Helfer_innen geben sollte, zumal es für die Freiwilligen immer ein gutes Gefühl war, zu sehen, wie leicht man an Lebensmittel für Hungrige herankam) über die Hilfe zur 24-Stunden-Pflege bis zur Delogierungsprävention. Die aus dem Warenkreislauf herausgenommene Nachhilfe für Digitalisierung und Online-Kommunikation wäre wohl auch dem Staat zuzutrauen.
Andererseits sollte man auch nicht alle Positionen der zivilen Gesellschaft glorifizieren. Richard David Precht, Pin-up-Philosoph der deutschsprachigen Talk-Show-Prominenz, kann nichts dafür, dass er weder wie ein Finanzmogul noch wie ein Innenminister noch wie ein Polizei­präsident aussieht, sondern ausnehmend zivil. Selten drang so viel Uncooles aus dem Mund des vermeintlich coolsten Denkers Deutschlands: «Wenn Sie nachts durch die Stadt fahren und zu einer roten Ampel kommen, können Sie ja auch nicht sagen, ich bleib nicht stehen, denn da ist ja kein anderes Auto, kein Fußgänger zu sehen. Ein guter Staatsbürger hat sich an die Regeln zu halten, und es steht ihm nicht frei, diese Regeln zu interpretieren. Persönlich können Sie denken, die Ampel ist sinnlos. Das können Sie auch Ihrer Frau sagen. Aber an Regeln muss man sich halten; es ist erschreckend, dass wir ungefähr fünfzehn Prozent der Bevölkerung haben, die das immer noch nicht verstehen.»
Wenn Schulen schließen, können zivile Kräfte aus der Not eine Tugend machen: In «Montessori-Wanderungen» (Copyright R. S.) bestimmen Schüler_innen selber, welche ihrer Fähigkeiten zum Einsatz kommen könnten, um z. B. in der nächsten Seuche eine ähnlich unabhängige Kreativität zu entfalten, wie sie in der Flüchtlingsbewegung erreicht werden konnte, die «Freund und Feind» überraschte. Möglich, dass die Schüler_innen bei diesen Ausflügen auf Philosoph_innen treffen, die andere Ratschläge haben als blinden Gehorsam.

Kirche von oben, Kirche von unten.

Ein dritter guter Grund, sich in den Text Gertrude Hennefelds hineinzudenken, ist, dass er auch nichtreligiösen Menschen eine Ahnung vermittelt, wie sehr die Kräfte­verhältnisse in Österreich geändert werden könnten, wenn die beiden großen christlichen Kirchen jene Autonomie gegenüber staatlichen Anmaßungen der Monopolmacht verteidigten, die sie institutionell beanspruchen könnten. Allein der katholischen Caritas stehen unpackbar viele freiwillige Mitarbeiter_innen zur Seite. An die 60.000 sind es in ganz Österreich. Nicht alle diese Ehrenamtlichen können sich mit dem Engagement unserer Protokollantin messen. Doch ihre Arbeit, und nicht etwa jene einschlägiger Beamtenapparate, die tendenziell zu Institutionen des Abschubs werden, sorgt insgesamt dafür, dass Mindeststandards der Flüchtlingsintegration eingehalten werden.
Der Kollateralnutzen der autodokumentarischen Arbeit der Frau Hennefeld liegt in der Erkenntnis, dass auch die Geschichte der Kirche in Österreich sich nicht in einer Chronologie des Klerus, vom diözesanen Großgrundbesitzverwalter bis hinunter zu den Bischöfen, erschöpfen darf, sondern sich einer Geschichte von unten stellen muss. Daran sind – im Staat wie in der Kirche – «die da oben» nicht interessiert. Ein beredter Ausdruck dafür ist der Umstand, dass die Aktivistin der Flüchtlingssolidarität, Gertrude Hennefeld, kein Medium fand, für welches ihr konkreter Beitrag zur Sichtbarmachung der Erfolge unbeauftragter freiwilliger Basisarbeit von besonderem Wert gewesen wäre.