Die Gegend um den tschechischen Ort Dukovany ist einfach, aber schön. Man will gar nicht glauben, dass nur knapp 100 Kilometer nördlich von Wien ein in die Jahre gekommener Atomreaktor vor sich hinbrummt.
TEXT & FOTOS: CHRIS HADERER
Im Kopf die Bilder von Prypjat, nach dem Desaster von 1986; Tschernobyl in unmittelbarer Nachbarschaft, Rauchsäulen, blaugraue Dioramen, die sich in den Gedanken festgefressen haben. Three Mile Island. Fukoshima. Und jetzt: Dukovany (rund 900 Einwohner_innen) aus der Nähe, acht Dampfsäulen am Himmel, die sich weit oben mit den Wolken vermischen. Die vier Reaktorblöcke wurden zwischen 1985 und 1987 in Betrieb genommen und befinden sich knapp 35 Kilometer südwestlich von Brno und knapp 100 Kilometer nördlich von Wien. Aber es liegt kein Blei in der Luft. Bis zum Horizont ist die Landschaft grün, egal in welcher Himmelsrichtung, ein Potpourri aus Feldern, Bäumen und Himmel, dazwischen Straßen und Dörfer; Motorräder, Traktoren und Autos jeder Preisklasse. Geteilt wird die Gegend von einer kleinen Eisenbahnstrecke, die sich seltsam durch ein Nirvana aus satten Grün- und leichten Brauntönen schlängelt, und vom Fluss Jihlava, der das Kernkraftwerk Dukovany mit Wasser versorgt und bei Dalešice und Mohelno zu einem See aufgestaut wird. An einem Ufer in der Nähe von Hartvíkovice bietet das Autocamp Wilsonka na Dalešické přehradě motorisierten Naturfreund_innen einen malerischen Unterschlupf. Und auch ein paar Kilometer weiter, wenn der Stausee zum Kühlwasser wird, sind weder mutierte Tiere noch Menschen mit zwei Köpfen zu sehen. Obwohl dort tödlicher Müll für die Zukunft produziert wird, finde ich das Bild schlicht schön: sowohl die Gegend als auch die Kühltürme, die, völlig frei von jedem Graffito, schlank in eine kaum zu schätzende Höhe ragen dürfen. Direkt am Reaktorgelände, das nur mit Stacheldrahtzäunen abgegrenzt ist, führt eine Landesstraße vorbei, seitlich ein paar kleine Wege. Ohne die Kühltürme könnte es sich auch um einen bewachten Parkplatz handeln. Am Zaun stehend kommt man sich vor, als würde man Berge anschauen; einen künstlichen Vulkan vielleicht, der Dampf in den Himmel schickt. Ein paar Kilometer weiter, Richtung Slavětice, wird der Himmel dann plötzlich von einem Netz aus Kabeln überzogen, die den Strom in die Welt verteilen; auch nach Österreich, das in den Wintermonaten bis zu einem Drittel seines Strombedarfs aus ausländischen Quellen importieren muss, wie der Autor Martin Rosenkranz in einem Presse-Kommentar vom Jänner festgehalten hat. Im Integrated European Power Grid hat Strom kein Mascherl, das auf seine Herkunft hindeutet.
Das Herz der Landschaft.
Die Tschech_innen lieben nicht nur Bier, sondern auch die Kraft der Kerne: Im Alternator, einem Technikmuseum für Kinder im nahen Třebíč, wird der Atomstrom schon früh als saubere Energieform vermittelt. Die tschechische Baseball-Mannschaft Nuclears ist in der Bezirksstadt zu Hause, und im Hotel Atom wartet Fusionsküche auf Geschäftsreisende. Laut Dana Drábová, Vorsitzende des Staatlichen Amtes für nukleare Sicherheit, bewegt sich die Zustimmung zur Atomenergie in Tschechien schon mehrere Jahre «zwischen 60 bis 65 Prozent. Auch nach dem Unfall im Atomkraftwerk Fukushima vor zehn Jahren ist sie nicht deutlich zurückgegangen.» Die Wahrzeichen der tschechischen Stromgewinnung, auch die im 150 Kilometer von Dukovany entfernten Temelín, sind seit Jahrzehnten da und mehreren Generationen ins kollektive Bewusstsein gesickert. Sie sind einfach da, und sie werden genauso wenig hinterfragt wie die nächste Dorfkirche. In Dukovany, das etwa in der Mitte der Strecke zwischen Třebíč und Brno liegt, sind sie auf eine seltsame, nicht bedrückende Art das Herz der Landschaft. Unabhängig vom Stand der Sonne sind die Dampfsäulen ein ewiger Zenit, um den man sich nie verlieren kann; ein Nukleus, der einen wissen lässt, wo man zu Hause ist. Dass ein paar Kilometer weiter die 22. Taktische Luftwaffenbasis Náměšť angesiedelt ist, auf der kürzlich die NATO-Gemeinschaftsübung Ample Strike stattfand, gibt der Gegend, bei aller Ländlichkeit, einen leicht internationalen Anstrich. Sieben Staaten von England bis Amerika waren am gespielten Ernstfall beteiligt; beim geplanten Ausbau von Dukovany reiben sich hauptsächlich die Chines_innen die Hände. So trennen sich Politik und Wirtschaft wie Dotter und Eiklar.
Kultur im Schatten des Kühlturmes.
Die umliegenden Orte sind eher klein, manche schlängeln sich nur entlang der Straße und gehen nahtlos in die dahinterliegenden Äcker über; andere haben Sehenswürdigkeiten, meistens Burgen oder Brauereien. Von Třebíč kommend, kurz bevor der Reaktor über den Horizont steigt, ist etwa die Brauerei Akciový Pivovar Dalešice zu finden, die ein «Fledermaus»-Bier herstellt, für das eine ordentliche Unterlage aus der Küche unbedingt notwendig ist. In Rouchovany gibt es noch ein Kino und am Wochenende einen Flohmarkt an der Hauptstraße. Ein herausgeputztes Dorf, Dukovany in der Ferne, davor Traktoren. Es sieht ein bisschen aus wie in Retz und Umgebung, ohne Weingärten. Kleine Konzerte und Feste finden am Wochenende in jeder zweiten Ortschaft statt, und in Moravský Krumlov soll eine umfangreiche Ausstellung über die Jugendstil-Ikone Alfons Maria Mucha langfristig Tourist_innen anlocken. Kultur im Schatten des Kühlturmes, sozusagen – und wären diese wie für Hollywood gemachten, weil überlebensgroßen, Schornsteine nicht da, dann wäre der Horizont wohl nicht mehr als eine blaugraue Linie, die sich flach in der Atmosphäre verliert. Auch die Strohballen auf den Feldern würden zu Ansichten eines beliebigen Agrargebiets degradiert. Jetzt sind sie Edelkomparsen in einer Landschaft, die in Sichtweite des Kraftwerks, im Süden der Ortschaft Mohelno, nahtlos in das Naturreservat Mohelenská hadcová step übergeht, das seit 1933 unter Naturschutz steht. Ein kleiner Teil besteht aus dichtem Baumbestand, der größere Teil ist tatsächlich eine Steppe, die unter anderem als Weideland genützt wird. Mitten im Wald liegt die Talsperre Mohelno, die nicht nur die Jihlava zur Kühlung von Dukovany aufstaut, sondern auch eine Kaplan-Turbine zur Stromerzeugung antreibt. Weil ein Tscheche oder eine Tschechin niemals alleine kommt, gibt es mit dem Erholungszentrum Pod Stepi (Rekreační středisko Pod Stepí) gleich daneben eine Art Kolpingheim mit vier Betten pro Zimmer. Weiter flussabwärts der Jihlava leuchten einfache Häuser aus überraschenden Lichtungen am Wasser: «Da konnten die Tschechen während der Lockdowns ungehindert feiern», verrät mir ein in Třebíč lebender Steirer. Tschech_innen sind zwar Herdentiere, aber sie wollen ihre Ruhe – und zwar vor allem von «denen da oben».
«Eine Diktatur der weißen Kragen.»
An die Reaktortürme hat sich die Bevölkerung gewöhnt, umstritten sind die Pläne für ein atomares Endlager, das ab dem Jahr 2050 zwischen den etwa 240 Kilometer von Dukovany entfernten Ortschaften Maňovice und Jetenovice entstehen soll, «quasi nur ein paar Schritte vom letzten Gebäude eines malerischen kleinen Dorfes hier in unserer Region», betont Jan Vavřička, der Bürgermeister von Pačejov. Maňovice und Jetenovice sollen dann «laut den technischen Berichten nicht mehr zum Wohnen dienen», sagt Vavřička. «Die Regierung verhält sich von oben herab und arrogant. Hier herrscht im Prinzip eine Diktatur der weißen Krägen, die mit dem Finger auf die Karte gezeigt haben, wo etwas so Wichtiges entstehen soll. Mit uns wollen sie sich gar nicht unterhalten.» Es ist weniger die Angst vor Verstrahlung als die Bevormundung und die Umgestaltung der Landschaft, die Unmut aufkommen lässt: Alleine die Oberflächenbauten sollen eine Fläche von etwa 400 Fußballfeldern ausmachen. «Bei der Lösung des Problems wird vergessen, dass an den Lagerorten für den Abfall auch Menschen leben», sagt Edvard Sequens, Energieberater und Vorsitzender des tschechischen Umweltverbandes Calla. Denn: «Es geht um viele Milliarden Kronen. Diese könnten in die Kernkraft investiert werden, die in den nächsten hundert Jahren dann eine starke Position einnimmt. Oder aber das Geld wird in moderne Ressourcen gesteckt. Und diese Entscheidung sollte jetzt fallen.» Offenbar ist sie das schon: Knapp 10 Milliarden Euro sollen in die Errichtung eines neuen Reaktorblocks in Dukovany investiert werden – die Abschaltung der bestehenden Meiler wurde bis zur Fertigstellung der neuen Anlage ins Jahr 2038 verschoben. Dampf wird also noch lange aufsteigen und den Anrainer_innen von Dukovany den Weg nach Hause zeigen. Und vielleicht auch daran erinnern, dass zwischen Dukovany und Prypjat nur Stahl, Blei und ein paar Betonplatten liegen. Himmel und Hölle sind nah beisammen in den tschechischen Highlands.
Anmerkung: Die hier verwendeten Zitate wurden, bis auf jenes des Steirers, dem Radiosender https://deutsch.radio.cz entnommen.