«Dann bin ich zur Dealerin degradiert»tun & lassen

Der Druck, rasch arbeitsfähig zu werden, gefährdet die Gesundung vieler Patient_innen

Welche Rolle spielt die Psychotherapie für das System? Unter anderem darüber soll beim Symposion «Psychisch gesund – bleiben?» nachgedacht werden. Mit der Psychiaterin und Mitorganisatorin der Tagung Heidrun Ziegler hat sich Dagmar Weidinger unterhalten.

Foto: Markus Ladstätter

Frau Ziegler, worum geht es bei der Tagung Psychisch gesund – bleiben? ?

In der Arbeit mit psychisch kranken Menschen in einem multiprofessionellen Team wird zunehmend offenbar, dass in unserem Gesundheitssystem etwas in die falsche Richtung läuft. Als Psychiaterin beschleicht mich seit geraumer Zeit ein Unbehagen, das ich lange Zeit nicht zuordnen konnte. Da ich selbst keine unmittelbaren Lösungen sehe, brachte mich erst ein Satz Armin Thurnhers dazu, mit anderen aktiv das Gespräch zu suchen.

Wie lautet der?

‹Wir haben das Recht zu sagen, was wir wissen, und nach dem zu fragen, was wir nicht wissen.›

Was wissen Sie, Frau Ziegler?

Menschen, die psychisch krank geworden sind, brauchen Zeit und Entlastung von Verpflichtungen, um wieder gesund werden zu können. In dieser Zeit muss die finanzielle Existenz gewährleistet sein, was ja prinzipiell in unserem Sozialsystem mit Krankengeld, Rehageld usw. vorgesehen ist. Der Druck auf Patienten und Patientinnen, möglichst rasch wieder arbeitsfähig zu werden, hat stark zugenommen und bedeutet in der Behandlung und bei der Gesundung oft einen zusätzlichen Belastungsfaktor.

Was meinen Sie damit ganz konkret?

Wenn jemand zum Beispiel eine Depression oder ein Burnout hat, dauert es mindestens drei bis sechs Monate, bis diese Person wieder voll arbeitsfähig ist. Nach vier bis sechs Wochen kommt die erste Vorladung zum Kontrollarzt der GKK, der den Krankenstand weiter bewilligt oder eben auch nicht. Wenn jemand länger krank ist, wird er oder sie von der GKK ‹ausgesteuert›. Das heißt, die Person ist zwar noch krank, bekommt aber kein Krankengeld mehr. Hoffentlich wird dann das Rehageld von der PVA bewilligt. Da gibt es dann Auflagen, die der oder die Kranke erfüllen muss, etwa eine Psychotherapie oder einen stationären Reha-Aufenthalt zu machen oder zur Fachärztin zu gehen. Und von überall müssen Befunde und Behandlungsbestätigungen gebracht werden. Das Ganze ist leider oft eine finanzielle Abwärtsspirale. Für mich als behandelnde Psychiaterin ist die damit einhergehende Existenzangst der Betroffenen mit allen körperlichen und psychischen Symptomen oft dermaßen im Vordergrund, dass es kaum möglich ist, sich mit der eigentlichen Problematik zu beschäftigen.

Welche Schwierigkeiten werden Ihnen in Ihrer Praxis am häufigsten erzählt?

Wer heute am Arbeitsmarkt bestehen will, muss 12 Stunden am Stück flexibel verfügbar sein. Wie bitte schön soll das zum Beispiel für eine Alleinerzieherin funktionieren? Ich kenne Beispiele aus dem Handel, wo Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nur wenige Tage im Voraus ihre Schichten erfahren. Oft heißt es dann am Donnerstag bis 19.30 arbeiten und selbstverständlich auch am Wochenende. Gleichzeitig machen manche Bundesländer die Kinderbetreuung am Nachmittag kostenpflichtig. Wenn diese Frau versucht, alles doch irgendwie zu schaffen, ist sie irgendwann völlig erschöpft, hat Schlafstörungen, entwickelt Panikattacken oder ein Burnout.

Sie haben die Alleinerzieherinnen angesprochen, wie sieht es bei den Männern aus?

Hier ist die Problematik oft anders gelagert. Männer haben nach wie vor häufig einen 40-Stunden-Job und sind die Hauptverdiener in der Familie. Verlieren sie diesen, löst das bei vielen eine schwere Identitätskrise aus. Hinzu kommt noch, dass es vor allem am Land schwierig ist, einen Arbeitsplatz für über 50-Jährige zu finden. Ich erinnere mich an einen Facharbeiter aus meiner Praxis, der nach 25 Jahren völlig unerwartet gekündigt wurde. Dieser ‹brave Arbeiter› stand zuerst lange unter Schock; als er dann zum AMS kam, galt er als unvermittelbar. Kein Wunder, dass er schließlich depressiv bei mir landete. Natürlich werde ich diesem Mann nun etwas verschreiben, damit er schlafen kann und wieder Energie und Lebensfreude bekommt; aber das eigentliche Problem löse ich damit nicht. Was er braucht, ist eine reale, gesellschaftlich anerkannte Perspektive. Wenn es die nicht gibt, dann bin ich zur Drogen-Dealerin degradiert.

Wie sehen Sie denn die Zukunft?

Es gibt ein Horrorszenario: Alle, die sich die Ausbildung leisten können, werden Psychotherapeuten, Psychiaterinnen oder Psychologen und behandeln alle anderen. Die eine Gruppe, die vom Arbeitsmarkt aussortiert wurde, braucht ‹Behandlung›, damit sie für die Gesellschaft nicht gefährlich wird; die andere Gruppe, die die Arbeit macht, braucht ‹Behandlung›, damit sie die unmenschlichen Arbeitsbedingungen aushält. Ich sehe da alle ‹Psycho-Berufe› sehr in der Pflicht, ihre Rolle im System zu reflektieren; übrigens auch ein Aspekt, den wir auf unserer Tagung besprechen werden.

Auch wenn Sie noch keine Lösung haben, was wäre Ihr Wunsch?

Ich denke, das bedingungslose Grundeinkommen oder eine 20-Stunden-Woche für alle wären Dinge, über die man zumindest nachdenken sollte.

Psychisch gesund – bleiben?

10. Oktober, 13-17 Uhr

Stadttheater Bruck/Leitha, Raiffeisengürtel 43

2460 Bruck/Leitha

Eintritt frei!

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