Bei uns zu Hause wurde nicht „zu Tisch gebeten“. Meine Mutter rief laut: „Essen!!!“ Und alle rannten, die Brüder am schnellsten, meine Schwester und ich hintennach. Der Vater bekam als Erster zu essen, dann die Jungs, danach wir Mädchen. Und die Mutter nahm sich zum Schluss. Unter der Woche gab es Bohnensuppe, Erbsensuppe, Kohlrübensuppe, igitt, Graupen und Linsen, Kartoffeln, und am Sonntag gab es manchmal falschen Hasen. Es war die Zeit nach dem Krieg. Nie war genug da. Doch immer schaute meine Mutter, dass niemand zu kurz kam, eher verzichtete sie auf einen Nachschlag.Und oft saßen Freundinnen von uns mit am Tisch, bei denen zu Hause „Schmalhans Küchenmeister“ war, wie meine Mutter das nannte. Das Wenige wurde bei uns geteilt. Bei meiner Mutter habe ich gesehen, was es heißt, großzügig sein. Großzügigkeit beweist sich erst dann, wenn geteilt wird, wo nicht genug da ist. Gemeinsam zu essen hat etwas mit Geborgenheit zu tun. Der Runde Tisch diente als Metapher für Verständigung nach dem Mauerfall. Zu Tisch zu bitten, hat den leichten Geschmack von Luxus und Überfluss.
Boomende Sehnsucht: der Tisch, die Menschen, das Essen. Gemeinsamkeit. Reden. Zur Sprache bringen. Zusammenbringen. Mich wundert es gar nicht, dass immer öfter wildfremde Menschen zu Tisch bitten. Das Tischgespräch ist seit über acht Jahren als Primetime-Talk beim Hamburger 1. Fernsehen beliebt. In Gemeindebauten bieten Bewohner_innen gemeinschaftliche Essen an. Der „Augustin“ lädt zu einem Frühstück in der Mariahilfer Straße – „ganz im Stile der Permanent Breakfast Aktionen werden wir es uns im öffentlichen Raum gemütlich machen“. Und die Plattform 20.000frauen veranstaltet aus Anlass 40 Jahre Fristenlösung und UNO-Dekade der Frau am 30. Mai eine feministische Tischgesellschaft*). Sehnsucht nach Zusammenhalt und Solidarität.
Die Rückeroberung einer Kulturtechnik, die Aneignung des öffentlichen Raums, die Rückbesinnung auf Gemeinschaft in einer Welt des Ausschlusses. Wenn einmal keine Zelte für Flüchtlinge, sondern Tische für Verständigung aufgestellt werden und wir unseren Wohlstand teilen, haben wir eine Welt gewonnen.
*) Samstag, 30. Mai, von 13 bis 17 Uhr auf der Mariahilfer Straße/Webgasse Richtung Neubaugasse.