Es war Ende der 1960er Jahre in Berlin. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem meine Mutter mit bangem Blick meinen Bruder in die Fremde entließ. Seine Arbeitsstelle, das Arbeitsamt, hatte ihn auserwählt, nach Belgrad zu gehen, um «Gastarbeiter» für das deutsche Wirtschaftswunder anzuwerben. Er erzählte mir, nach welchen Kriterien die Menschen ausgesucht wurden: jung, kräftig, gesund, vollständiges Gebiss und keine körperlichen Fehlbildungen, möglichst ledig und willig zu billiger Arbeit. Ob sie der deutschen Sprache mächtig waren, spielte damals keine Rolle.Der Lyriker und Literaturwissenschaftler Ulrich Johannes Beil hat vor dreißig Jahren bei der 2. Waldviertel-Akademie in Weitra zum Thema «Begegnung mit dem Fremden» gesagt: «Die kolonialistischen Gräuel rückten – neben den Kreuzzügen und Hexenverbrennungen – in den vergangenen Jahren immer deutlicher als dunkle Flecken abendländischer Vergangenheit ins Blickfeld. Die mörderische Vertreibung von Indianern aus ihrer Heimat, die Ausrottungsstrategien etwa der spanischen Konquistadoren sowie die Sklaverei in den amerikanischen Südstaaten bereiten, um nur einige Beispiele zu geben, eine Spielart des Rassismus vor, die in den faschistischen KZs und im Holocaust ihren Gipfel erreicht.» («Die Presse», 4. 9. 1986) Der Lyriker wirft weiter die Frage auf, ob diese Gräuel als ein «durch Kapitalinteressen bedingter Verrat an den humanen Idealen der Aufklärung angesehen werden können, oder ob sich eine wie auch immer geartete Verwandtschaft zwischen Aufklärung und Kolonialismus nachweisen lässt».
Der Hauptbahnhof in Wien ist überfüllt von Menschen, die dem Morden des IS und seiner zerstörerischen Vernichtung von Kulturgütern in ihrer Heimat entkommen sind, Überlebende eines Entwicklungsmodells, das auf Ausbeutung und Plünderung fremder Ressourcen beruht. Familien sitzen in Gruppen auf dem Boden, essen, schlafen, Tausende säumen die Unterführung, einer sammelt Zigarettenstummel auf und wirft sie in den Papierkorb bei der Haltestelle des D-Wagens. Eine eigenartige Ordnung im Chaos. Die FPÖ verlangt auf ihren Wahlplakaten den «Schutz unserer Kultur». Welcher Kultur?