Noam Chomsky im Interview über die Notwendigkeit, an der Macht zu sägen
Noam Chomsky, 84, gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Intellektuellen der USA und wird als politischer Aktivist weltweit gehört. Der Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit US-amerikanischer Innen- und Außenpolitik. Demokratie, Medien, Gewalt, Konsumismus sind unter anderem seine Themen – wenig brauchbar für die Marketingabteilungen diverser Konzerne und wenig schmeichelhaft für konventionelle Medien. Auch zum Thema Terrorismus und wie damit umzugehen sei bezieht Noam Chomsky eindeutig und mit Brillanz, die aus der Klarheit kommt, Position: «Alle machen sich Gedanken, wie man Terrorismus beenden kann. Nun, es gibt einen wirklich einfachen Weg: indem man damit aufhört, daran teilzunehmen.» Der Augustin fragte den Professor zu aktuellen US-amerikanischen Themen und der Professor spannte den Bogen wiederholt auch zu Österreich. – War ja auch einmal eine bestimmende Macht in Europa.Professor Chomsky, der US-Wahlkampf ist nun einige Monate vorbei. Mit diesem Abstand: Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass 90 Prozent der Wahlkampfkosten in «negative campaigning» des jeweils anderen Kandidaten flossen? Ist das Demokratie?
Sicherlich nicht, das ist ein schlechter Witz. Aber da gibt es viel mehr ernsthafte Fehler in der amerikanischen Demokratie. Um nur einen aufzuzeigen: Seriöse Untersuchungen der Politikwissenschaft haben gezeigt, dass 70 Prozent der Amerikaner_innen, das sind diejenigen, die sich auf der untersten Stufe der Einkommensskala befinden, überhaupt keinen Einfluss auf die Regierungspolitik haben. Der Einfluss steigt langsam, wenn man auf der Einkommensskala emporsteigt, und an der Spitze dieser Skala angekommen, bekommen die Reichen im Wesentlichen, was sie wollen. Da gibt es viele Mechanismen, um dieses Ergebnis sicherzustellen. Das ist nur eines von vielen Beispielen.
Beide Kandidaten unterließen bei keiner Wahlkampfrede den Hinweis, dass die USA das großartigste Land der Welt seien und manches nur in den USA und sonst nirgendwo möglich sei. Verstehen Sie Nicht-US Bürger_innen, die diese Attitüde als herabwürdigend empfinden? Sind die USA wirklich «Gottes eigenes Land»?
Das ist sicherlich Unsinn, aber weit verbreitet. So funktionieren Machtsysteme nun einmal, umso mehr, wenn sie ungeheuerliche Macht haben. In der europäischen Geschichte gibt es mehr als genug Beispiele – auch in der österreichischen Geschichte.
Während der Amtszeit von George W. Bush gab es Kriegsverbrechen. Stichwörter Afghanistan und Irak. Barack Obama hat dies rechtlich nicht verfolgt. Ist er unschuldig oder schuldig durch Unterlassung?
Genaugenommen ist er rechtlich nicht schuldig an den Verbrechen. Aber moralisch!
Seit einem Jahrzehnt betreiben US-Regierungen (Republikaner und Demokraten) das Gefangenenlager in Guantanamo Bay. Keine Anklagen, keine Verurteilungen für den Großteil der Insassen. Unnötig zu sagen, dass dies gegen alle Punkte der Menschenrechtskonvention ist. Darf die US-Regierung machen, was sie will?
Eigentlich schon – genauso wie dies andere mächtige Staaten tun können, solange sie nicht von den eigenen Bürger_innen oder anderen gestoppt werden.
George W. Bush befahl das Töten von Menschen mittels US-Drohnen in Pakistan und Afghanistan. Menschen werden durch US-Waffen getötet, nur der Entschluss des Präsidenten und seiner Militärs ist entscheidend, kein Rechtsstaat, keine Menschlichkeit erkennbar. Obama fuhr damit fort und erhöhte die Zahl der Toten. Sollten wir Obama eines Tages gemeinsam mit George W. Bush in Den Haag sehen?
Es ist bekannt, dass der Präsident nach den US-Gesetzen das Recht hat, Druck auszuüben und Gewalt anzuwenden, um jede_n US-Amerikaner_in zu «retten», der_die nach Den Haag gebracht wird – für den extrem unwahrscheinlichen Fall, dass dies passieren könnte. In Europa wurde dies manchmal «The Netherlands Invasion Act» (Anm.: auch «The Hague Invasion Act») genannt. Das ist nur ein ganz kleines Beispiel dafür, wie sich die USA selbst vom internationalen Recht ausnehmen, ebenso von der UN-Charta, der Völkermord-Konvention und anderen. Das ist unter anderem ein Vorrecht der Macht. Deshalb beschäftigt sich der International Crimes Court (Internationaler Strafgerichtshof) nur mit Schwachen, die Gegner_innen der westlichen Macht sind.
Sollte die US-Regierung die Konvention betreffend den internationalen Gerichtshof in Den Haag unterzeichnen?
Das sollte sie. Aber sie sollte auch ihre eigenmächtigen Ausnahmeregelungen von der internationalen Rechtsprechung sehr viel umfassender und vehementer widerrufen. Europa wiederum sollte auch den Mut haben, ein solches Verhalten nicht mehr zu unterstützen. Im Jahr 1986 zum Beispiel, ordnete der Internationale Gerichtshof den USA an, ihre «unrechtmäßige Anwendung von Gewalt» (genauer gesagt, den internationalen Terror) gegen Nicaragua zu beenden. Amerika ignorierte diese Entscheidung natürlich und erhob sodann Einspruch gegen Beschlüsse des Sicherheitsrates, die alle Staaten dazu aufriefen, internationales Recht zu respektieren. Großbritannien und Frankreich halfen Washington. Gab es Proteste in Österreich? Wurde in der Presse je davon berichtet? Oder in Fachzeitschriften und Journalen mit intellektuellem Hintergrund?
In Kalifornien hat im November 2012 eine Mehrheit der Wähler_innen pro Todesstrafe abgestimmt und so diese Strafe bestätigt. Warum unterstützen Menschen diese archaische Strafform?
Das war immer schon ein sehr verängstigtes und rachsüchtiges Land, bis zurück in koloniale Zeiten. Es wäre interessant, die Gründe dafür zu erforschen, aber das würde den Rahmen dieses Interviews sprengen.
Seit Jahrzehnten nimmt die Armut in westlichen Industriestaaten zu. Mittelschicht und Unterschicht erleiden Verluste. Trotzdem gilt für viele: «Jeder ist seines Glückes Schmied.» Selbst milde Formen von Sozialstaat werden auch von Betroffenen in den USA abgelehnt. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?
Das ist hauptsächlich Propaganda. In den USA unterstützen sogar Tea-Party-Anhänger_innen der extrem regierungsfeindlichen Rechten das Sozialhilfesystem, das, gemessen an europäischen Standards, wesentlich dürftiger ist.
Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter. Wird es jemals eine Bewegung in die andere Richtung geben? Erleben das unsere Kinder, oder werden diese eine Antwort für unsere Enkel_innen erhoffen?
Das liegt an uns! Es wird sich nichts ändern, solange wir keine wirklich bedeutenden Maßnahmen setzen.
Mehr als zehn Jahre nach 9/11 stellt sich die Frage: «cui bono»? Wer ist wirklich Nutznießer? Die weltweite Rüstungsindustrie?
In meinem ersten Interview kurz nach dem 11. September wurde ich gefragt, wer profitieren würde. Ich gab die naheliegende Antwort, die sich inzwischen als richtig herausgestellt hat: Jedes Machtsystem in der Welt würde das Verbrechen ausnützen, um die eigene Macht über die eigene Bevölkerung und andere auszudehnen.
Als Sie jung waren, was haben Sie sich für das 21. Jahrhundert erhofft?
Eine Welt der Gerechtigkeit und Freiheit.
Was hat Sie heute zum Lächeln gebracht?
Ein Besuch meiner Tochter und ihrer Kinder, und ihres mehr oder weniger adoptierten Enkels.
Professor Chomsky, vielen Dank!
Interview: Clemens Staudinger
Noam Chomsky: Der gescheiterte Staat
Antje Kunstmann Verlag, München 2006
399 Seiten, 25,60 Euro
«Es ist meines Erachtens vollkommen richtig, in jedem Aspekt des Lebens die jeweiligen autoritären, hierarchischen und herrschaftsbestimmten Strukturen ausfindig zu machen und klar zu umreißen, und dann zu fragen, ob sie notwendig sind; wenn es keine spezielle Rechtfertigung für sie gibt, sind sie illegitim und sollten beseitigt werden, um den Spielraum der menschlichen Freiheit zu erweitern. Dazu gehören Bereiche wie politische Macht, Besitz und Management, die Beziehungen zwischen Männern und Frauen sowie Kindern und ihren Eltern, ferner auch unsere Verantwortung für das Schicksal zukünftiger Generationen (die meiner Ansicht nach den grundlegenden moralischen Imperativ darstellt, der hinter der Umweltbewegung steht) und vieles andere. Natürlich werden damit mächtige Institutionen, die Zwang und Kontrolle ausüben, in Frage gestellt: der Staat, die keiner Rechenschaftspflicht unterliegenden privaten Tyranneien, die den größten Teil der einheimischen und internationalen Wirtschaft kontrollieren, und andere, ähnliche Institutionen. Und nicht nur sie allein. Genau das habe ich immer als die Essenz des Anarchismus verstanden: die Überzeugung, dass die Existenzberechtigung autoritärer Strukturen erst einmal nachgewiesen werden muss, und dass diese Strukturen beseitigt werden sollten, wenn ein solcher Nachweis nicht erbracht werden kann. Manchmal ist dieser Nachweis durchaus möglich. Wenn ich mit meinen Enkeln einen Spaziergang mache und sie auf eine verkehrsreiche Straße rennen, werde ich nicht nur meine Autorität, sondern auch physischen Zwang geltend machen, um sie daran zu hindern. Auch das sollte man in Frage stellen, aber ich denke, dass mein Handeln hier nicht schwer zu rechtfertigen ist. Es gibt sicher noch weitere Fälle, da das menschliche Leben sehr komplex ist. Wir haben sehr wenig Ahnung vom Wesen des Menschen oder der Gesellschaft, und pompöse Behauptungen, dem sei ganz anders, sind im Allgemeinen eher schädlich als nützlich. Aber die eben skizzierte Herangehensweise ist meiner Ansicht nach durchaus legitim und führt oft ein großes Stück weiter. Um diese allgemeinen Gesichtspunkte in die Praxis umzusetzen, müssen wir uns mit dem jeweiligen Einzelfall beschäftigen, wo sich dann die Frage menschlicher Interessen und Bedürfnisse konkret stellt.»
Noam Chomsky im Interview mit Kevin Doyle für die Zeitschrift «Red & Black Revolution», Juni 2004.