Darf Sozialarbeit der Wirtschaft nützen?tun & lassen

Zum Selbstverständnis der sozialen Arbeit im Augustin-Experiment

Auch von Menschen, bei denen alles schiefgelaufen ist, was schieflaufen kann, und deren unglückliche Sozialisation sie ultimativ «unbrauchbar» macht für die Hochleistungswelt, darf man eine Anpassung an die Normen der Ökonomie verlangen. Sagt die moderne Sozialarbeit. Die Leute vom Augustin schütteln den Kopf. Nein, man muss die Ökonomie an die Menschen anpassen, behaupten sie. Von Robert Sommer.

Foto: Lisa Bolyos

1896 hat der amerikanische Soziologe Edward Alsworth Ross den Begriff der «sozialen Kontrolle» in die sozialwissenschaftliche Diskussion eingeführt. Er bringt jene Prozesse und Mechanismen unter einen Hut, mit deren Hilfe eine Gesellschaft versucht, ihre Mitglieder zu Verhaltensweisen zu bringen, die im Rahmen dieser Gesellschaft positiv bewertet werden. Ob sie will oder nicht – die Sozialarbeit ist Teil dieses Systems der sozialen Kontrolle.

Die Sozialarbeit ist da in «guter» Gesellschaft. Weitere Institutionen der sozialen Kontrolle, die «abweichendes Verhalten» einschränken wollen, sind die Familie, die Schule, die Justiz, die Polizei, die Religion … Erleichtert wird diesen Institutionen ihre Aufgabe dadurch, dass die sozialen Normen von den einzelnen Menschen verinnerlicht wurden, dass sie zu «Normopathen» geworden sind, wie der verstorbene Autor Lutz Holzinger in dieser Zeitung so treffend die Mitbürger_innen beschrieben hat, die sich anständig und normal dünken.

Die Mitwirkung der professionellen Sozialarbeit an der sozialen Kontrolle äußert sich darin, dass Sozialarbeiter_innen zunehmend verpflichtet werden, einen wirtschaftlich belegbaren Nachweis ihrer Nützlichkeit zu bringen. Es gibt kaum mehr Arbeitsplätze für Sozialarbeiter_innen, in denen diese die Freiheit haben, eigene Zielsetzungen zu entwickeln, und dem Los, zu Erfüllungsgehilf_innen der Wirtschaftspolitik zu werden, entgehen können. Die Keule, mit der alle Ansätze einer Selbststeuerung der professionellen sozialen Arbeit erschlagen werden, heißt «Vermittlungsquote».

Damit ist der Prozentanteil jener «Klient_innen» gemeint, die im Laufe eines Jahres, in dem sie theoretisch auf das Arbeitsleben vorbereitet werden, an den «regulären Arbeitsmarkt» vermittelt werden. Als Beispiel bieten sich die sozialökonomischen Betriebe der Caritas an. Nehmen wir die «carlas» genannten Second-Hand-Lager, eines der vom AMS geförderten Arbeitslosenprojekte. In diesen Carlas werden 32 Langzeitarbeitslose betreut und beschäftigt – als Verkäufer_innen, Möbelmonteur_innen, Kleidersortierer_innen, als Mitglieder des Putztrupps und des Reparaturtrupps. Das Arbeitsverhältnis dauert nicht länger als ein Jahr.

Nach Darstellung der Caritas haben von den rund 600 Menschen, die seit 1990 in ein Caritas-Arbeitsprojekt aufgenommen wurden, ein Drittel einen Arbeitsplatz in der «regulären Wirtschaft» gefunden. Ein weiteres Drittel war nach Beendigung des betreuten Arbeitens «job ready». Job ready ist ein Mensch, bei dem alle Hindernisse der Vermittlung beseitigt wurden. Als Vermittlungshindernisse gelten: ungeregelte Schulden, die zu Lohnexekutionen führen, ungesicherte Wohnverhältnisse unter dem Damoklesschwert der Delogierung, akute Alkohol- und Drogenprobleme und «mangelnde Arbeitstugenden» wie Pünktlichkeit und Verlässlichkeit. Die Wiener Caritas-Leitung spricht von einer «Erfolgsgeschichte».

Als-ob-Integration, Als-ob-Inklusion

Die «carlas» sind total abhängig von der Förderung durch das AMS. Wenn sie die Vermittlungsquote nicht erreichen, dreht der Subventionsgeber den Geldhahn ab. Der Caritas könnte dieses Abhängigkeitsverhältnis erspart werden, wenn die katholische Kirche sich entschlösse, ihre Klerus genannte Bürokratie einzusparen und das Geld der Caritas zu geben, die damit ein selbstbestimmtes Programm zur Bekämpfung der Armut aufziehen könnte. Weil das nicht der Fall ist (und mittelfristig auch nicht der Fall wird), sind die professionellen Sozialarbeiter_innen der Caritas quasi zur Sünde gezwungen. Die «Vermittlungen» gelten für Insider_innen als eine Als-ob-Integration in den Arbeitsmarkt, als eine Pseudoform der sozialen Inklusion. Die Caritas nennt uns keine Untersuchungen, welcher Art die Betriebe sind, in die die Langzeitarbeitslosen vermittelt wurden und wie viele der «glücklich» Vermittelten in kurzer Zeit ihren neuen Job wieder verloren haben. Und was die Job-readiness-Quote betrifft: Die Vorstellung, ein Drittel der suchtkranken Menschen könnte nach einem Betreuungsjahr in der «carla» das Vermittlungshindernis Suchtkrankheit beseitigen, gilt für Expert_innen als völlig illusorisch.

Ist die komplette Bandbreite der Organisationen, die soziale Arbeit bieten, in diese Ökonomisierungsfalle geraten? Es gibt Inseln, auf denen die «altmodische» Auffassung geradezu kultiviert wird, Sozialarbeit dürfe nicht als Anpassung der Individuen an die Interessen der Wirtschaft und des Marktes definiert werden, sondern müsse Partei ergreifen für diejenigen, die aus den verschiedensten Gründen in die Leistungsgesellschaft nicht integriert werden können oder wollen. Eine dieser Inseln ist das Augustin-Projekt.

Hier herrscht angewandte Kritik an der Ökonomisierung der sozialen Arbeit. Die Verwirtschaftlichung wird beim Augustin kritisiert, weil sie einhergeht mit dem Ignorieren aller Kompetenzen der in das Straßenzeitungsprojekt involvierten Menschen, die nicht unmittelbar ökonomisch verwertbar sind. Der Zeitfaktor spielt eine wichtige Rolle. Den Augustin kann niemand zwingen, die Menschen nach einem Jahr wieder dorthin zu entlassen, woher sie gekommen sind (aus dem Nichts). Eine ideale Voraussetzung, verborgene Talente der Menschen zu entdecken, ist die Option, «ewig» beim Augustin zu bleiben. Als eines der Instrumentarien der Entdeckung großartiger Talente hat sich die Theatergruppe des Augustin, das 11%K-Theater, entpuppt. Peter Turrini, Autor des von den Augustiner_innen aufgeführten Stücks «Sauschlachten», war verblüfft von der Authentizität des Spiels der Mitwirkenden. Er besuchte gleich zwei Aufführungen hintereinander und versuchte auch, eines der Hochkultur-Theater für diese Augustin-Produktion zu interessieren; ihm war klar geworden, dass die Beurteilung der Qualität dieser Theaterproduktion auf dem Feld der Kunstdiskussion erfolgen muss – und nicht auf dem der Kunsttherapie.

Fähigkeiten, die verblüffen

Die Hauptperson in dem Stück ist ein bedauernswertes Mitglied einer bäuerlichen Dorfgemeinschaft, das als «andersartig» ausgegrenzt wird, weil es sich der Sprache verweigert. Turrinis Stück zeigt eine Gesellschaft, in der dem Anderen Angst gemacht wird. Wer in letzter Zeit Augustin-Macher_innen nach der Zielsetzung ihrer Arbeit fragte, bekam oft die Antwort: einen Beitrag zu leisten, damit in Stadt und Gesellschaft ein Zustand entsteht, in dem man ohne Angst anders sein kann. Beide Begriffe – die Angst und das Anderssein – bedürfen einer Erörterung. Wenn die Augustin-Leute von Anderssein reden, meinen sie alle Arten von Anderssein: die sexuelle Orientierung, die andere Hautfarbe, den Aufenthaltstatus und – was im Zusammenhang mit der Ökonomisierungskritik das Wesentlichste ist – das Anderssein in Bezug auf die Normen der Leistungsgesellschaft, das Fehlen von Arbeitstugenden oder die Ablehnung des Arbeitsethos. Wenn der Augustin von Angst redet, meint er die Angst, vor Mitmenschen peinlich zu wirken, genauso wie die Angst vor polizeilichen Kontrollen sowie die Existenzangst, die Angst, aufgrund einer «Andersartigkeit» nicht an die Mittel heranzukommen, die das Überleben sichern.

Für das Verständnis von sozialer Arbeit ist diese Orientierung auf das Ohne-Angst-Anderssein-Prinzip (kurz: OAA) folgenreich. Die Folgen zu benennen, heißt, die Eigenarten des Augustin-Experiments herauszuarbeiten. Eine Eigenart ist die enge Verknüpfung der Werte der sozialen Gerechtigkeit und der Freiheit. Viele Kämpfer_innen für soziale Gerechtigkeit haben die Idee der Freiheit vernachlässigt. Freiheit kann eben definiert werden als ein Zustand, in der man ohne Angst anders sein kann. Der Imperativ, eine OAA-Situation anzustreben, grenzt das Augustin-Projekt vom «Helfen» ab. «Helfen» tun auch die Fundamentalisten und die Rechtspopulistinnen, wenn sie in den von ihnen kontrollierten Regionen Sozialstationen aufbauen. Die Helfenden helfen sich selbst, das weiß man von den Erfahrungen der sogenannten Entwicklungszusammenarbeit. Eine weitere Implikation der Würdigung des Andersseins: Sie erweitert den Kreis der Adressat_innen der Augustin-Kritik. Denn nicht nur der Staat und die Wirtschaft wollen das Anderssein in Bezug auf die Normen der Leistungsgesellschaft eliminieren, sondern auch die Menschen, die sich als ordentlich, anständig, gesetzestreu definieren. Die Verteidigung des Verschiedenseins würdigt die im Sinne der kapitalistischen Logik Überflüssigen, denn sie können – siehe oben – mit Fähigkeiten ausgestattet sein, die verblüffen. Schließlich verlangt das OAA-Prinzip nach einem Klima der Toleranz und Gelassenheit in unseren Städten, gemäß dem Diktum von Aristoteles, wonach man eine Stadt nur mit verschiedenen Menschen machen könne. Das schließt das neue Wissen ein, dass es die absolute Sicherheit in einer Großstadt nicht geben kann und dass Weltstädte nichts anderes tun können als den Zustand der Weltgesellschaft widerzuspiegeln.

Die Integration dieses Freiheits-Aspektes in die Diskussion zur sozialen Arbeit mag ebenfalls «altmodisch» erscheinen, aber sie ist ein Versuch, resistent zu bleiben gegen den Trend, Sozialarbeiter_innen – ob sie sich dessen bewusst sind oder nicht – in das System der sozialen Kontrolle einzugliedern. Worüber man einen Palaver starten sollte …