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«Im Bretteldorf war es ein Glück, wenn du was zum Essen gehabt hast», erzählt Hannelore Sigmund. An der Donau in Kaisermühlen erstreckte sich vor hundert Jahren eine Siedlung verarmter Kleinhäusler_innen, Tagelöhner und prekärer Arbeiter_innen. Aus dem Jahr 1925 wird berichtet, dass das Bretteldorf 250 Wohnhäuser, 100 Pferde, 200 Kühe und 2.000 Schweine umfasste. «Die Häuser waren notdürftig zusammengenagelt, und da haben natürlich die ärmsten Leute gewohnt», erinnert sich Ferdinand Raschl. Nach dem Krieg stieg die Wohnungsnot an, Nahrungsmittelknappheit und Arbeitslosigkeit bestimmten das Leben in der Siedlung. Hochwasser haben das Areal immer wieder überflutet. Hannelore und Ferdinand sind als Kinder im Goethehof aufgewachsen. Zwischen der Schüttaustraße und dem Kaiserwasser entstand 1930 einer der größten Gemeindebauten Wiens. Viele fanden Arbeit beim Bau, viele zogen aus dem notdürftigen Bretteldorf erstmals in eine «richtige» Wohnung. Im Innenhof befand sich ein heute beinahe vergessenes Schmuckstück: ein Kindergarten. Und zwar ein ganz besonderer. Er war von dem Gedanken geleitet, benachteiligten Kindern nicht «das Letzte», sondern «das Beste» an Pädagogik und auch an Innenarchitektur zuzugestehen.
Das Architekturbüro Singer & Dicker, beides Bauhausschüler, sorgte für die Gestaltung des Innenraums. Der Kindergarten erwies sich als ein Experiment aus mehreren Zutaten: Die Materialien waren zweckmäßig und vielseitig verwendbar, bei der Fertigung der Innenausstattung wurden Sozialprojekte Jugendlicher einbezogen. Und: Den Alltag der Kinder prägte ein reformpädagogischer Ansatz. Im Goethehof entstand einer der ersten Montessori-Kindergärten Wiens. Für die Kinder des Bretteldorfs war die Montessori-Pädagogik eine kleine Revolution. Beherrschend in der Erziehung waren noch immer Drill, Strafen und Züchtigung. Das Kind galt als unreifes, unfertiges Wesen, dessen Wille nicht wirklich ernst zu nehmen war. Demütigung, Bestrafung und Gewalt waren die Standards – in der Familie wie im Kinderheim.
Ein anderer Blick auf das Kind lag damals in der Luft. Jean Piaget in der Schweiz beobachtete aufmerksam die kognitiven Entwicklungsschritte der Kinder, die psychoanalytische Pädagogik August Aichhorns praktizierte in Wien einen verstehenden Umgang mit dem Kind, die Sozialpsychologin Maria Jahoda revolutionierte die sozialwissenschaftliche Forschung mit ihrem Diktum «Unsichtbares sichtbar machen, nicht beweisen, sondern entdecken». Wien sei die Hauptstadt des Kindes, hieß es rundum angesichts des neuen pädagogischen Engagements in der Donaumetropole. In Wien entwickelte sich auch ein intensiver Austausch der Montessori-Kinderhäuser mit der Psychoanalyse. Anna Freud hielt alle zwei Wochen ein eineinhalbstündiges Seminar ab, in dem die Pädagoginnen der Kinderhäuser sich über ihre Arbeit austauschen konnten. Regelmäßig trafen sie sich zur Supervision und zu Fallbesprechungen.
Als im Goethehof in den 1930er-Jahren der Montessori-Kindergarten seine Pforten öffnete, kamen Kinder aus Familien, die vorher in Bretterverschlägen leben mussten, kamen Kinder, deren Eltern kaum Geld zum Überleben hatten, kamen Kinder, denen keine gute Zukunft zugetraut wurde. Für sie gab es nicht das Letzte, sondern das Beste, was Pädagogik und Architektur zur Verfügung hatte.