Ein außergewöhnlicher Blick auf Dora Schimankos Vorfahren
Das blond gelockte, etwa dreijährige Mädchen auf dem Gemälde des Buchcovers schaut uns direkt ins Auge. Eine untypische, dennoch die passendste Einladung, Dora Schimankos Lebensgeschichte in Form eines außergewöhnlichen Blickes auf ihre Vorfahren zu lesen. Das Buch, das die Leopoldstädterin heuer im Eigenverlag unter dem Titel Warum so und nicht anders / Die Schiffs: Eine Familie wird vorgestellt herausgab, kommt sicher keiner Leserschaft entgegen, die Familienchroniken gerne über unsere Väter und deren Väter im Sinne althergebrachter Geschichtsschreibung erfahren will. Vielmehr berichtet die Autorin aus eigener Kinderperspektive über das Leben ihrer Verwandten und geht der Frage nach, auf welchem Boden die bemerkenswerte Zahl an Begabungen unter ihnen wachsen konnte. Schimanko zeigt den respektvollen Umgang mit Kindern, der die Erfolgsgeschichten – etwa des Onkels Karl Popper – möglich machte, und schafft auf eindrucksvolle und poetische Weise ein wichtiges Zeitzeugnis des 20.Jahrhunderts, das seinesgleichen sucht.
Schon seit zwanzig Jahren trug Schimanko sich mit dem Gedanken, dieses Buch zu schreiben, bevor sie schließlich in der Pension Zeit dazu fand. Sie fühlte sich geradezu verpflichtet, die vielen Dokumente, die im Laufe ihres Lebens mehr oder weniger zufällig in ihre Hände gelangt waren, für die Öffentlichkeit zu verwerten. Briefe, Fotos, Gemälde, Bücher und Ahnentafeln trugen viel bei, aber vor allem half der Autorin ihr Gedächtnis, das sich an Begebenheiten und Dialoge ihrer Kindheit so präzise erinnert, als hätten sie gestern stattgefunden.
Es war um die Jahrhundertwende, als ihr Urgroßvater Max Schiff nach Wien kam und es mit einer prosperierenden Firma zu einigem Wohlstand brachte. Er war einer von vielen jüdischen Zuwanderern, die in dieser Zeit Aufschwung in Wissenschaft und Kunst nach Wien brachten. Gleichzeitig war er, wie später auch seine Kinder, immer auch sozial aktiv. Gemeinsam mit ihm organisierte seine Frau Caroline Schiff Ausspeisungen für die Armen und gründete 1918 die Wiener öffentlichen Küchen (Wök). Beim Wiener Settlement engagierte sich sein Sohn Walter Schiff in kulturellem Kontext. Man brachte Arme auf gleichberechtigter Basis in Kontakt mit Hochkultur, um so die Aufhebung der Klassen zu fördern. Als Mitbegründer des ersten öffentlichen Realgymnasiums für Mädchen setzte er sich für die Verbesserung der Bildung für Frauen ein. Auch die Initiierung des Warenkorbes sollte eine wichtige, soziale Neuerung bringen, die wir heute noch als Verbraucherindex, die Grundlage für Lohnrunden und Versicherungsanpassung, kennen.
Dass Dora Schimanko ein sehr selbstbewusstes Mädchen war, beweist folgende Anekdote. Als Dorli wieder mal bei einer Begrüßung am Lockenkopf gestreichelt wurde, wehrte sie sich: Ich bin ein Mensch und kein Schoßhund, den man ungefragt streichelt. Ihr Großvater rügte sie nicht etwa als frech, sondern bestätigte sie vielmehr: Das ist noch gut ausgegangen, ein Hunderl hätte vielleicht zugebissen! Nie gab es ein Frag nicht so blöd!, man würgte Kinderfragen nicht ab. Um die Kinder zu fördern, gab es nur möglichst qualifizierte Antworten. Die Mutter war Geigerin und brachte, indem oft Hauskonzerte veranstaltet wurden, künstlerische Atmosphäre in Doras Leben, ebenfalls ein wichtiger Einfluss.
Flucht nach England
Diese Welt, in der sich die kleine Dorli so glücklich fühlte, zerbrach jäh im Jahre 1938, als die ganze Familie vor den Nazis nach England flüchten musste. Wir haben es uns aussuchen können. Ob sie uns als Linke oder als Juden verfolgt hätten wäre in unserem Fall völlig egal gewesen. Mit einem Kindertransport kam die Sechsjährige zu ihrem Großvater nach London und kam erst 1946 nach Wien zurück. Selten hört man so eindrucksvoll von den Schwierigkeiten des Neubeginns bei der Rückkehr vieler Flüchtlinge nach Österreich: Als Heimkehrer hatten wir nichts. Die enteignete Wohnung bekamen wir nicht zurück. Wir waren obdachlos. Hilfe Null. Erst Freunde halfen und Dora wurde Gärtnerin. Sie engagierte sich zuerst in der Freien Österreichischen Jugend und später wie die meisten näheren Verwandten in der KPÖ.
Dass die einzelnen Kapitel knapp gehalten sind, steht nicht im Widerspruch zu Ausführlichkeit und Liebe zum Detail. Man wird in die Atmosphäre anderer Zeiten gezogen, ist dabei ebenso amüsiert wie betroffen und möchte nie zu einem Ende kommen.
Die Verfasserin wählte ganz bewusst möglichst wenige Fremdwörter oder komplizierte Sachverhalte und setzte den Preis niedrig an, damit das Buch von möglichst vielen gelesen werden kann: von Leuten, die sonst nicht viel lesen, von Jugendlichen, zum Teil sogar von Kindern. Was läge also näher, als es demnächst im Zuge der Gratisbuchaktion der Stadt Wien anzubieten? Das schönste Erlebnis hat Schimanko in einer Bücherei gehabt. Da schrieb eine 14-Jährige Leserin ins Manuskript: Das Buch singt! Stimmigere Worte kann man über Schimankos Werk kaum finden und: sie kamen von einem jungen Mädchen – sicher das schönste Kompliment für die Autorin.