Das Cabaret Renz und die Ära Franz JosephDichter Innenteil

Einst ein Bollwerk der Aufklärung (Foto: Mario Lang)

Herr Groll auf Reisen, 396. Folge

 

Herr Groll traf den Dozenten in der Zirkusgasse im zweiten Bezirk vor dem Eingang des einstigen Revuetheaters Cabaret Renz. Er wolle dem Dozenten zeigen, wie sich Unterhaltungsformen im Lauf der letzten hundertfünfzig Jahre geändert hätten und nichts eigne sich dazu besser, als die Geschichte dieses Lokals zu rekapitulieren, dessen Klang betagten Personen heute noch ein Leuchten in die Augen zu zaubern vermöge.

Er höre, sagte der Dozent, lehnte seine Rennmaschine an eine Litfaßsäule und holte seinen Notizblock hervor.

«Das ‹Renz› wurde 1853 von Ernst Jacob Renz, einem schillernden Zirkusunternehmer, gegründet, war für mehr als ein Jahrhundert der Inbegriff einer erotischen Glitzerwelt, deren Ruf durch ganz Europa eilte. Dass sich das ‹Renz› in der jüdischen Leopoldstadt befand, zog den Hass breiter Kreise des Katholizismus auf sich. Vergessen wir nicht, dass zur Zeit der Gründung des Etablissements in Tirol noch kirchenoffizielle Teufelsaustreibungen durchgeführt wurden, denen etliche junge Frauen zum Opfer fielen. Die Exorzismen geschahen mit dem Einverständnis des reaktionären Wiener Kardinals Rauscher, der zu seiner Zeit eine zentrale Figur der Beharrungskräfte im Vatikan war. So gehörte er unter anderem der Kongregation der allgemeinen und römischen Inquisition sowie der Propaganda-Kongregation und der Sektion für außerordentliche Angelegenheiten des Staatssekretariats an. Er war maßgeblich am Zustandekommen des Konkordats zwischen Kirche und dem Staat beteiligt und beendete damit den Josephinismus, der die Kirche in allen wesentlichen Fragen dem Staat unterworfen hatte.»

«Dass die Kirche die neu gewonnene Freiheit für eine rückschrittliche Politik nützte, ist bemerkenswert», meinte der Dozent und schrieb in sein Notizbuch.

«Der Einfluss des schrecklichen Kardinals endete aber nicht an den Kirchenpforten, er erstreckte sich auch auf das Kaiserhaus. Gemeinsam mit der erzkatholischen Kaiserinmutter Sophie setzten die beiden den blutjungen Franz Joseph so sehr unter Druck, dass dieser zu grässlichen Taten Zuflucht nahm. Nicht nur in der ungarischen Reichshälfte trug er im Volk den Beinamen ‹das grausame Kind›. Mit russischer Waffenhilfe wurde die 48er-Revolution in Ungarn blutig niedergeschlagen, dreizehn führende Militärs und Politiker der Freiheitskämpfer wurden daraufhin im damals ungarischen Arad hingerichtet. Gnadenappelle zur Umwandlung der Todesstrafe in Gefängnisstrafen verhallten ungehört.»

«Also begann Franz Joseph seine Laufbahn als Bluthund der Reaktion – das Massaker an Aufständischen vor dem Stephansplatz im Oktober ’48 war kein Zufall», meinte der Dozent.

«So ist es», bekräftigte Groll. «Dass der Dompfarrer und der Kardinal sich weigerten, Frauen, Studenten und andere Aufständische im Dom vor der entfesselten kroatischen Soldateska in Sicherheit zu bringen und die Tore zum Heil verriegelten, gehört ins Bild. Es ist überhaupt seltsam, wie sehr Kaiser Franz Joseph immer noch verklärt wird. In seiner Jugendzeit war er grausam und erzreaktionär und im hohen Alter war er der Hauptverantwortliche für die Auslösung des Ersten Weltkriegs.»

«Ich dachte eher, das sei der Generalstabschef Hötzendorf gewesen», warf der Dozent ein.

«Im Juli 1914 stand er, der jahrelang für einen Krieg getrommelt hatte, im Schatten des kriegslüsternen Kaisers. Außerdem war ihm der schlechte Zustand des Heeres nur allzu gut bewusst – was sich schon in den ersten paar Kriegswochen bestätigte, als die angegriffenen Serben die österreichischen Truppen aus dem Land warfen und wie Schulbuben vor sich hertrieben. Im Übrigen waren der ermordete Thronfolger und seine Gattin strikte Gegner von Kriegsabenteuern auf dem Balkan. Tatsache ist: Am Anfang und am Ende der Herrschaft Franz Josephs standen Blutbäder.»

Der Dozent wollte wissen, woher Groll die erstaunlichen Kenntnisse über diese Zeit hatte. Aus dem zwölfhundert Seiten starken Wälzer Der Erste Weltkrieg des hoch angesehenen Historikers Manfried Rauchensteiner, erwiderte Groll. «Sollten Sie ihr Weltbild entstauben wollen, rate ich dringend zum genauen Studium des Werks. Wenn Sie sich dranhalten, sollten Sie in einem Jahr damit durch sein. Gut investierte Zeit, verehrter Freund.»

«Und in all dieser Zeit war das ‹Renz› der führende Nachtklub Europas?», fragte der Dozent.

Herr Groll nickte.

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