Das ehemalige Jugendgericht als PuppenstubeArtistin

Feldforschung am Leichnam

Eva Schlegel und Eva Würdinger vergegenwärtigen mit ihrer Fotodokumentation eine spezielle Jugendgefängniswelt, die aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit ausgeblendet bleibt, verheißt der Klappentext zu dem ästhetisch anspruchsvoll gestalteten und mit einigen Texten versehenen Fotobuch Jugendgericht.

Man nimmt den Band zunächst gerne zur Hand, blättert gerne darin und mit zunehmender Neugier. Nicht lange jedoch und es erscheint einem etwas unecht. Etwas, was im Titel mitschwingt, findet man hier nicht eingelöst. Na gut, das Wiener Jugendgericht, die Rüdenburg, steht ja seit drei Jahren leer. Nach 83 Jahren ist das Gerichtsgebäude mit seinen Haftraumfluchten, Verwaltungs- und Versorgungstrakten, Stiegenhäusern, Gängen, Winkeln und Verhandlungssälen vom FP-Justizminister seiner Funktion enthoben und zum Gebäudeleichnam umfunktioniert worden. Es stellt also keine spezielle Jugendgefängniswelt mehr dar. Zu einer solchen gehört wohl mehr als ein Haus, in dem sich die Welt der jugendlichen Gefangenen abspielt bzw. abgespult wird. Diese Welt bleibt demnach im vorliegenden Buch weiterhin aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit ausgeblendet.

Schöne Einblicke in die Architektur von Gerichts- und Gefangenenhäusern sieht man ohnehin in jedem Gefängnisfilm, nur lebensnäher, weil dort nicht die Installationen und Bewachungsanlagen abgebaut sind. Nie beispielsweise wird ein mit Haft aktiv oder passiv beschäftigter Mensch die Zellentüren derart lieblich in Reih und Glied offen stehen sehen, wie hier auf den Fotos von dem vor kurzem verkauften Gebäudeleichnam. Hat da wer den ehemaligen Jugendgerichtshof mit einer riesigen Puppenstube verwechselt?

Verunsichert sucht man Aufklärung in den auf Deutsch und Englisch verfassten Texten. Die sind in so kleinen Buchstaben gedruckt, als müssten sie auf Kassibern Platz finden. Viele gescheite Sachen stehen auf wenigen Seiten zu lesen, streckenweise mehr Zitate als eigener Text, bevorzugt aus Michel Foucaults Bewachen und Strafen. Nützt nichts, es wird kein Buch über die Jugendgefängniswelt. Aber immerhin kapiert man nun: Es handelt sich um ein Kunstbuch und KünstlerInnen sind sich auch in ihren Werken nicht selten selber näher als dem Dargestellten. Wenn in einem der Texte nun sogar von Feldforschung gesprochen wird, weiß man schon: Die Pose des Sozialen dient der Selbsterhöhung der Kunstschaffenden.

Immerhin ein Lebenszeichen: die Häftlings-Graffiti

Sicherheitshalber kehrt man nochmals zum kurzen Klappentext zurück und liest: Dieses Haus, seine Verhandlungssäle, vor allem aber seine ‚Zellen` und die darin unversehrt erhaltenen zahllosen Inschriften und Graffiti sind Thema dieses Buches. Die prominente Erwähnung der Graffitis ist praktisch wie ein roter Faden in alle Texte eingelegt, immer wieder wird gerade auf ihre Präsenz hingewiesen. Sie also dürften in dem Buch das immer noch Lebendige vertreten, das über die künstlerische Arbeit der Autorinnen hinausführt wie eine Brücke zwischen Authentizität und reiner Kunst. Den Graffiti-Abschnitt leitet ein Text mit dem Titel Inschriften und Zeichnungen ein, der aber dann vor allem die vorgegebene Tageseinteilung, welcher die jugendlichen Häftlinge unterlagen, beschreibt. Immerhin, dass den Graffiti alsbald in Fotos reichlich Raum geschenkt wird, löst ein klein wenig vom Versprochenen ein. Selbst hier scheint eher das ästhetisierende Künstlerinnenauge die Auswahl bestimmt zu haben und weniger die Aussage der Graffitis.

Dann ist man am Ende des Buches. Es hinterlässt den Eindruck, Autorinnen wie Künstlerinnen positionierten lediglich ihre eigene Identität. So gesehen hat Pierre Bourdieu recht, wenn er sagt: Kunst grenzt aus, sie wirkt als Herrschaftsinstrument nicht etwa integrativ, sondern ist im Grunde eine asoziale Praxis.

Bourdieu sah die Fähigkeit, mit Kunst umzugehen, als ökonomischen Faktor an und damit als Klassen- und Schichtenmerkmal bzw. als Herrschaftsmerkmal. Bei der Präsentation des Buches gab es Sekt und ein frugales Buffet. Das Buch war zum Subskriptionspreis zu angeboten. Was an diesem Abend durch Verkauf eingenommen wurde, kommt dem Verein Neustart zugute. Hätte man auf das Catering verzichtet und das Ersparte gespendet, wäre für Neustart deutlich mehr hereingekommen. Aber so läuft es eben mit Charity, und das passt auch zu diesem Kunst-Buch.

Es sei der Lehrer gewesen, der im Jugendgericht unterrichtet hatte, der die Fotografinnen u.a. über verschiedene Zeichen in den Graffitis erst aufgeklärt habe. Es wäre überhaupt besser gewesen, der Lehrer hätte das Buch geschrieben. Für KünstlerInnen, die Kunst und soziales Leben verwechseln, ist Jugendgericht ein wirklich schönes Buch zu günstigem Kaufpreis. Ehemalige Inhaftierte, die in den Frühphasen ihrer Sozialisation bereits mehr Übelerfahrung hinter sich hatten als die gelehrten Fotografinnen und Texterinnen im ganzen Leben, würden dieses Werk womöglich auf den Misthaufen werfen. InteressentInnen an sozialen Zuständen sollten sich anderweitig umschauen.

Eva Schlegel/Eva Würdinger: Jugendgericht (Verl. Schlebrügge.Editor, Wien 2006), 182 S., Euro 22.-