Nach 16 Jahre und 100 Ausgaben wird die Wiener-Neustädter Straßenzeitung Eibisch-Zuckerl eingestellt. Warum? Weil Geld knapp wird – und Verkäufer_innen auch. Denn die werden abgeschoben oder gehen aus Angst davor in andere Länder. Ruth Weismann (Text) und Michael Bigus waren vor Ort.
Aus der Eibischpflanze werden Zuckerl gemacht, die gegen Halsweh helfen. Heilen oder zumindest Not lindern, das tat auch das Wiener Neustädter Eibisch-Zuckerl – die Straßenzeitung mit dem rosa Schriftzug und dem farbigen Glanzdruck. Eine Lokalzeitung, verkauft von Obdachlosen und Menschen in prekären Lebenslagen, «nach dem Vorbild des AUGUSTIN», wie auf der Homepage erklärt. Vier Sozialarbeiter_innen brachten das Eibisch-Zuckerl am 1. April 2003 auf den Straßenmarkt. Aprilscherz war es keiner, und dass nun ausgerechnet die hundertste Ausgabe die letzte ist, ist traurigerweise auch kein Scherz.
Im Dezember kommt noch eine Sondernummer, «damit es für die aktiven Verkäufer noch ein Weihnachtspräsent gibt», schreibt die Redaktion auf Seite 3 der Nr. 100. Dort ist auch nachzulesen, warum das Zuckerl die Straßen verlassen muss: «Die fleißigen […] Verkäufer, die stundenlang vor den Märkten stehen, werden immer weniger …» Und: «die Einnahmen durch den Verkauf der Zeitung [gehen] stetig zurück und decken nicht mehr die Ausgaben.» Die Verkäufer_innen, die nicht mehr da sind, hatten nicht etwa einen besseren Job bekommen: Sie wurden abgeschoben, in jene afrikanischen Länder, aus denen sie kamen. Oder verließen Österreich in Richtung anderer EU-Länder, um einer Abschiebung zu entgehen. Zu verantworten hat das die Politik von Türkis-Blau, wie der AUGUSTIN erfuhr.
Bewegte Geschichte.
In einem hübschen Café direkt an der alten Stadtmauer von Wiener Neustadt – 45.000-Einwohner_innen, eine halbe Zugstunde von Wien entfernt – erzählen Anton Blaha und Raymond Ovbigbaghon von der Geschichte der Zeitung, von den Schicksalen der Verkäufer_innen und von besseren Zeiten. «Es war immer eine sehr gute Atmosphäre unter den Verkäufern, aber jetzt ist es schwierig, wegen der Situation», sagt Ovbigbaghon. Er verkauft das Eibisch-Zuckerl seit 10 Jahren. Noch länger wartet er auf einen endgültigen Asylbescheid. Bei der Straßenzeitung ist er aber auch so etwas wie der «Betriebsrat»: Seine Kolleg_innen kommen mit Fragen und Problemen zu ihm, er ist Kommunikator und auch quasi Außenstellen-Vertriebsmitarbeiter. In der Freikirche, in der er engagiert ist, gibt er die Zeitung an Verkäufer_innen ab. Das Prinzip ist bekannt: Verkäufer_innen bekommen die Hälfte des Verkaufspreises, beim Eibisch-Zuckerl einen Euro, die andere Hälfte finanziert die Produktion und interne Projekte. Personalkosten gibt es beim Eibisch-Zuckerl nicht, denn, so Obmann Anton Blaha: «Die Redaktion und alle freien Mitarbeiter arbeiten ehrenamtlich.»
Für Anton und seine Frau Irmgard Blaha, die seit Anfang an Kassierin des Vereins ist, war das Eibisch-Zuckerl immer Familie. Als ihre Tochter und Mitbegründerin Brigitte Haberstroh 2013 starb, war für das Team klar, nicht aufzugeben. Für die Blahas war das der Solidarität mit Menschen in Not geschuldet, aber auch ein Teil der Aufarbeitung des Todes ihrer Tochter, erzählt der Vater. Dass dieses Projekt nun eingestellt werden muss, sei einschneidend. Aber: «Es ist halt so.»
Fehlende Einnahmen.
6.000 Stück des sechs Mal im Jahr erscheinenden Blatts kamen in den Hochzeiten aus der Druckerei. Soziale Themen, Historisches, Geschichten von Verkäufer_innen, Kunst und Kultur. Zuletzt betrug die Auflage 3.000 Stück, verkauft wurden an die 2.500. «Wir müssten mindestens 1.000 Stück mehr verkaufen», sagt Blaha. Mit Auflagenrückgang haben die meisten Zeitungen seit geraumer Zeit zu kämpfen. Einer der Gründe, warum Leser_innen weniger Printmedien kaufen, ist wohl die Digitalisierung. Die fehlenden Einnahmen können auch nicht durch Inserate wettgemacht werden, immer weniger Firmen schalten überhaupt Werbung.
Die verschwindenden Verkäufer_innen sind ein weiterer Grund für die sinkenden Einnahmen des Eibisch-Zuckerls. Und einen dritten gibt es: «Die Stimmung in der Bevölkerung ist gekippt. Plötzlich hieß es, die Flüchtlinge nehmen allen was weg und kosten nur Geld. Ich nehme an, ab da war es dann auch schwieriger, zu verkaufen», so Blaha. Dazu kommt, dass das Blatt keinerlei Förderungen von Stadt, Land, Bund, Kirche oder sonstigen Stellen erhält.
Rosige Vergangenheit.
Das war einmal anders. Zu Beginn hatte die Zeitung ein Büro in der Nähe des Hauptplatzes, und 2004 dafür vom Land eine Förderung bekommen. Das Sozialamt refundierte außerdem Miete und Betriebskosten. Der Betrag, der ihnen gewährt wurde, ging über die Jahre nach unten, während Miete und Betriebskosten stiegen, wie Blaha erzählt. Bis das Geld schließlich ganz ausblieb. Förderungen wurden trotz Ansuchen nicht mehr gewährt. Minimale Spenden und ein paar Inserate gab es, mehr nicht.
2017 kam schließlich auch das Aus fürs Büro: Die Gemeinde verkaufte das Haus, es wurde abgerissen. Da man etwas Leistbares nicht mehr fand, nutzt das Team seither den Aufenthaltsraum eines anderen Vereins. 15 Euro Miete pro Stunde, Platz ist nur abends. Computer sind keine da, die Arbeit wird daheim erledigt. Für die Kommunikation mit Verkäufer_innen wenig ideal.
Refugees sorgten für Boom.
Für diese, derzeit sind es rund 50 aktive, ist die Situation schlimm. Sie stehen nun bald nicht mehr mit der Zeitung auf der Straße – eine für sie bedeutende Einnahmequelle fällt weg. Viele warten auf einen Asylbescheid, und dürfen nicht regulär arbeiten. Dabei waren es gerade die Asylwerber_innen aus afrikanischen Ländern, die dem Eibisch-Zuckerl zum Aufstieg verhalfen, wie Anton Blaha erzählt: «Als 2004 die ersten Afrikaner kamen, ging es mit der Zeitung aufwärts. Es ist lange gut gelaufen. Österreicher hatten wir kaum.»
Der Boom war, als 2015 viele Refugees ankamen. Da musste sogar die Neuaufnahme von Verkäufer_innen bei 110 erstmals gestoppt werden. Auch vorher schon war genug Geld da, um noch mehr zu tun als zu drucken: «Viele Verkäufer haben Deutsch gelernt, durch Kurse, die teilweise das Eibisch-Zuckerl finanziert hat», erzählt Blaha. Man konnte die Verkäufer_innen mit Kappen und Jacken ausstatten, und «wenn jemand löchrige Schuhe hatte, haben wir halt Schuhe gekauft».
Seit 2017, so Ovbigbaghon und Blaha einhellig, geht es bergab. Als die türkis-blaue Regierung ins Amt kam, fingen die Abschiebungen an. Vorher, so sagt Blaha, wisse er von keiner, die eine_n ihrer Verkäufer_innen betroffen hätte. Wie viele davon abgeschoben wurden, können beide nicht genau sagen. Das Team erfährt davon manchmal erst, wenn Stammkund_innen nachfragen, wo jemand denn sei, der nicht mehr am Verkaufsplatz zu finden ist. Manchmal wissen Leute aus Ovbigbaghons Community Bescheid, teilweise gibt es Telefonkontakt mit abgeschobenen Verkäufer_innen. Zehn bis 15 Personen aus ihrem Team seien seit 2017 abgeschoben worden, so Blaha und Ovbigbaghon. Das passt in die Agenda des damalige Innenministers Kickl: «Die Abschiebungen konnten gesteigert werden», verlautete er bei der Bilanzpräsentation 2018 des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl. Die Zahlen sind auf der BFA-Homepage nachzulesen, wo die Steigerungen als Erfolg verbucht werden.
Abschiebungen und Angst.
«Die Leute leben seither in Angst», sagt Ovbigbaghon. Blaha schildert ein Schicksal: «Ein Afrikaner, der bei uns verkauft hat, hat auf der Fachhochschule ein Studium angefangen, wir haben ihn unterstützt. Kurz vor seinem Abschluss ist er abgeschoben worden. Er hatte eine Österreicherin geheiratet, die ein paar Monate vorher Zwillinge bekommen hat. Trotzdem wurde er abgeschoben.» Als die Mutter der Zwillinge bei der Behörde nachfragte, sei ihr gesagt worden, sie könne ja per E-Mail verkehren oder auch auswandern. «Also so etwas Menschenverachtendes, das ist schlimm», sagt Blaha.
Es ist nicht die einzige derartige Geschichte. Auch viele, die «gut integriert» sind, wurden abgeschoben oder haben, wie Ovbigbaghon, noch immer keinen Asylbescheid. Aus Angst vor der Abschiebung seien einige in andere Länder gegangen. Es gebe, so Ovbigbaghon, Käufer_innen, die zu helfen versuchen, etwa Unterschriftenlisten organisieren. Dass das Blatt nun eingestellt wird, lässt auch viele Leser_innen ratlos zurück. «Sie fragen, was jetzt passiert, und was wir machen», erzählt Ovbigbaghon. Er hofft, dass es für ihn eine Perspektive gibt. «Es tut weh, weil wir für so viele Jahre zusammengearbeitet haben. Mein Plan ist: Ich werde schauen, was die neue Regierung macht, ob sie menschenfreundlich ist oder nicht.»