Das Erbe des wilden Wientun & lassen

Bretteldörfer: informelle Siedlungen in Wien

Bis heute nachwirkend, aber bis dato wenig beachtet: Der Geschichte des wilden Siedelns in Wien widmeten sich Friedrich Hauer und Andre Krammer in einem Forschungsprojekt. Christian Egger hat mit den Architekten und Stadtforschern gesprochen.

(Illu: Much)

Woher kommt der Begriff Bretteldorf?

Friedrich Hauer: Der Wiener Begriff des Bretteldorfs verweist auf das Selberbauen mit einfachen Materialien. Bretteldörfer waren nicht geplant. Woher das Material kam, ist oft nur anekdotisch überliefert. Es waren zum Teil nur irgendwelche Bretter und Holzabfälle.

Andre Krammer: Bretteldörfer waren Notprojekte, die ihren großen Entwicklungsschub nach dem Ersten Weltkrieg hatten. Akute Wohnungsnot, Hunger und soziales Elend waren die Auslöser.

FH: Sowie auch eine Schwäche der staatlichen Strukturen, das war ja eine revolutionäre Situation 1918, 1919.


Gab es neben der Not auch Ideale, die kursierten, oder Ideen der Siedlerbewegung?

AK: Die Siedlerbewegung hat danach eingesetzt, als eine Form der Konsolidierung. Sie war organisiert und von der Gemeinde mit Krediten gestützt. Die Phase, für die wir uns primär interessiert haben, war davor bzw. parallel dazu – als Landnahme und Selbstbau wirklich informell passiert sind. Das ist unmittelbar nach dem Krieg sehr ungeordnet, aber flächenmäßig sehr ausgedehnt an der Peripherie der Stadt passiert.

FH: Was nicht so klingen soll, als hätte es nach der Siedlungsbewegung keine Bretteldörfer mehr gegeben. Die gab es lange parallel. Kleingärten, die oft halblegal waren und informelle Siedlungen, wie etwa Bruckhaufen oder das Bretteldorf zwischen Alter Donau und Überschwemmungsgebiet. In den 1930er-Jahren sind in der großen Arbeitslosigkeit einige neu entstanden, auch während und nach dem Zweiten Weltkrieg.


Welche Quellen standen Euch zur Verfügung?

AK: Die Schwierigkeit in der Nachbetrachtung von historischen Prozessen, die «von unten» angetrieben werden, ist die schlechte Quellenlage, da es oft wenige offizielle Zeugnisse und Dokumente gibt. Aber es gibt Aufzeichnungen, Fotos und quantifizierende Materialien, die anzeigen, wo diese Siedlungsflächen zwischen 1918 und 1938 entstanden sind, und was davon Behelfssiedlungen, was wilde Siedlungen waren.

FH: Manche Sachen sind gut erforscht, andere entziehen sich der detaillierten Rekonstruktion, weil sie sehr ephemer waren. Wenn man es sich genauer ansieht und die Sachen zusammenzählt, bemerkt man aber, dass das überhaupt keine Fußnote der Wiener Geschichte ist, sondern ein wesentlicher Entwicklungsstrang.


Hattet ihr Zugriff auf Aufzeichnungen von Zeitzeug_innen?

FH: Wenn man an einem schönen Samstag oder Sonntag in diesen Viertel über den Gartenzaun mit den Menschen spricht, am besten mit denen, die noch so alte Häuschen haben, dann erfährt man viel über die Realitäten damals und wie es sich verändert hat. Wir konnten auch viel rekonstruieren, indem wir uns mit der Stadtverwaltung beschäftigt haben. Für die war das wilde Siedeln ein großes Problem. Ab den 1950er-Jahren hat man massiv begonnen, das zu bekämpfen. Da wurde dann jahrzehntelang viel legalisiert und reguliert. Das ist auch etwas, was man so nie in einer Stadtbaugeschichte liest, dass das ein Hauptbetätigungsfeld der Behörden von den 1950er- bis sogar zu den 1990er-Jahren war. «Baurechtliche Sanierung» wurde das genannt.

Würden Roma- und Sintisiedlungen auch in die Kategorie Bretteldörfer fallen?

AK: Diese Phänomene haben sich relativ oft überlagert. Im Bruckhaufen etwa lebten in der Zwischenkriegszeit viele Sintifamilien, die sich ja traditionell an peripheren Lagen der Stadt einfinden mussten, da sie nicht gern gesehen waren und eigentlich keine andere Möglichkeit hatten.

FH: Manche dieser Siedlungen, gerade in den Donauauen, dürften auch dort entstanden sein, wo es schon davor temporäre Lagerplätze der Roma und Sinti gegeben hat.

AK: Zeitzeug_innen berichteten in Gesprächen, dass die Sintifamilien gut integriert waren.


Wie ist die Situation von Bretteldörfern heute?

FH: Obwohl viele der Siedlungen ursprünglich den Charakter von Elendssiedlungen hatten, ist das seit den 1960er-, 1970er-Jahren kaum mehr der Fall. Durch die öffentlichen «Upgrades» mit Strom, Wasser, Kanal etc. und das sogenannte Wirtschaftswunder sind diese Stadtgebiete sozial aufgestiegen. Es kam zu einer kleinbürgerlichen Suburbanisierung, mit Auto, Haus, Hund und allem, was dazu gehört.

AK: Die Eigentumsverhältnisse wurden ganz andere. Pachtverträge und Nutzungsrechte sind vielerorts von Privateigentum an Grund und Boden abgelöst worden, oft auch da, wo die Stadt, als die öffentliche Hand, früher Grundeigentümer war. Es gibt heute Bauträger, die mehrere Parzellen, die nebeneinander liegen, erwerben und dort kommerziellen Wohnbau betreiben. Der ehemalige Slum hat sich so über die Jahre in eine gefragte Villengegend transformiert, etwas überspitzt formuliert.

FH: Gerade seit den 1990er-Jahren entstehen riesige Buden von wohlhabenden Menschen, neben den alten Häuschen. Und wenn es noch genossenschaftliche Strukturen oder Siedlervereine gibt, dann bedauern diese oft, dass durch den sukzessiven Ausverkauf die alten Zusammenhänge ihre Tragfähigkeit verlieren. Vom Kollektiven ist meist nichts mehr übrig.

dérive N° 71: Bidonvilles & Bretteldörfer – Ein Jahrhundert informeller Stadtentwicklung in Europa

Die Ausgabe ist auf www.derive.at zu bestellen, auf der Homepage gibt es auch eine Radiosendung zum Thema.