Das erschöpfte Selbsttun & lassen

eingSCHENKt

«Durch den ins Unangemessene gesteigerten Verkehr, durch die weltumspannenden Drahtnetze des Telegraphen und Telephons haben sich die Verhältnisse in Handel und Wandel total verändert. Alles geht in Hast und Aufregung vor sich, die Nacht wird zum Reisen, der Tag für die Geschäfte benützt, selbst die Erholungsreisen werden zu Strapazen für das Nervensystem.»Das Zitat stammt aus dem Jahr 1893. Der Arzt Wilhelm Erb erklärt in seiner Zeitdiagnose, was zur Nervenschwäche führe. «Neurasthenie» wurde in den USA und auch in Europa zur häufig diagnostizierten Belastungserkrankung. Beschrieben wurde die Nervenschwäche bei Angehörigen der städtisch-bürgerlichen Elite als eine nervöse Reaktion auf Überlastung. Die Neurasthenie wurde zur Krankheit der «Kopfarbeiter» der weißen Mittel- und Oberschichten.

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verschwand das Konzept der Neurasthenie. Zeit für Therapie und Kur gab es jetzt nicht mehr, und die tausenden Kriegsversehrten ließen andere Krankheitsbilder dominant werden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich ein neues Belastungskonzept, die «Managerkrankheit». Bluthochdruck und Herzinfarkt rafften die Chefs dahin. Im Wiederaufbau und im Wirtschaftswachstum überforderten sich die Firmenleiter mit der Folge hohen Risikos von Herzleiden. Auch hier – ähnlich wie bei der Neurasthenie – wird die Managerkrankheit als ein Problem der (männlichen) Eliten beschrieben.

Die Rede vom Stress brachte eine Änderung. Stress können alle haben. Stress demokratisierte die Belastungsstörung. Studien in den 1990er-Jahren ergaben, dass die sogenannte Managerkrankheit bei Personen aus den untersten Einkommensschichten höher als bei den eigentlichen Managern ausfällt. Und dann kam das «Burn-out». Zuerst als Diagnose in helfenden Berufen wie Sozialarbeit oder Pflege. Dann bei Führungskräften. Jetzt bei allen. Burn-out erzählt uns, wie wir zusammenbrechen dürfen, ohne uns dafür schämen zu müssen. Depression ist Versagen, Burn-out hingegen die heldenhafte Variante des erschöpften Selbst. Das Ausbrennen weist auf eine Wettbewerbsgesellschaft, die sich ihrer Ziele und Zwecke entgrenzt hat. Immer mehr Bereiche werden der Konkurrenz unterworfen, Wettbewerb definiert die gesellschaftliche Ordnung als Ganzes: jetzt auch das Krankenhaus, den Pflegedienst, die Universität und die Schule. Die massenkulturelle Begleitmusik spielt in den Castingshows oder inszeniert sich in der Körperkonkurrenz vom Next Top Model. Das Problem ist: Die Rhythmen der Wettbewerbe beschleunigen sich auch in der Erwerbsarbeit. Da hat man als neue Arbeitskraftunternehmer_in immer neu zu bestehen. In der verbleibenden Zeit dazwischen ist es angesagt, an der eigenen Wettbewerbsfähigkeit zu arbeiten. Doch Wettbewerbe sind Ausscheidungskämpfe und notwendigerweise damit verbunden, dass sie Verlierer produzieren. Und gewinnen tun halt immer nur ein paar wenige. Da gibt’s viel Anstrengung bei vielen, dafür Anerkennung nur für wenige. Der Giftcocktail besteht aus drei Zutaten: aus hoher Anforderung, geringen Einflussmöglichkeiten und niedriger Anerkennung. Die Konkurrenzideologie will Leistung und Ressourcen vermehren, verbrennt aber gleichzeitig jene menschlichen Potenziale, die sie zu steigern vorgibt. Ein System zeigt Nerven.