Das Fallbeil der Louise BourgeoisDichter Innenteil

Die Seele ist eine endlose Wüste … (Grafik: Jella Jost)

Cherchez la Femme (10/2023)

Ich wusste, dass mich im Unteren Belvedere nichts Sanftes erwarten wird, kein Zuckerguss, keine Betäubung, keine Heuchelei. Ich wusste, wer Bourgeois war. Die gängigen Bilder von ihr im Netz, ihr markantes schmales faltiges Gesicht einer fast 90-Jährigen in ihrem Atelier arbeitend, ein verschmitztes Aufblitzen in den Augen und enorm viel Kraft. Vielleicht sah ich auch Wut, mit Sicherheit jedoch, in einem Video, verzweifelte Wut auf die Boshaftigkeit der Menschen und mühsam mit aller Härte zurückgehaltene Tränen, endlosen Zorn auf die gnadenlose Brutalität ihrer Erziehung im Frankreich Anfang des 20. Jahrhunderts. Und um uns dröhnen heute die nächsten Kriege. Ein ewiger Loop in dem wir gefangen sind.

Ich bin eine Frau ohne Geheimnisse (Louise Bourgeois)

Ich sah immer wieder Bilder, im Laufe meines Lebens, von Bourgeois’ schwarzer Riesenspinne vorm Guggenheim-Museum im Baskenland, in Bilbao – da erklingt in mir immer der gute alte Brecht – Bilbao; eine Mutterspinne, eine Arachnida, die auf dem Platz thront und sich nie wieder von ihm wegbewegen wird. Die Spinne hat ihr Zuhause gefunden. Jetzt wartet sie. Stur. Starr. Schwarz. Mächtig. Die monumentalen Spinnen-Skulpturen repräsentieren Kraft, Aggression, Widerstand, Sexualität und Tod. Bourgeois’ Œuvre ist voller Symbolik und schreit förmlich danach eingehend betrachtet zu werden. Bourgeois’ Kunst enttabuisiert. Sie verarbeitet traumatische Erlebnisse ihrer Kindheit mittels Bildhauerei, Malerei. In diesen ihren Werken geht sie weiter und weiter. Sie scheut sich nicht vor Dramatik oder Dunkelheit. Weil sie weiß, dass sie existieren. Mit Schalk und einer gewissen Härte spricht sie über die Menschheit, als sie eine Orange so schält, dass am Ende aus der Schale eine menschliche Figur wird. Ihren Schmerz über das Erzählte hält sie meisterhaft geschult zurück, in ihrem Gesicht. Doch das Entstehen der Tränen wird vom Zusehenden bemerkt. Ich weine mit ihr. Wieso nun das jetzt? Wieso eine derart tiefe Verbitterung und Tragödie? Ich habe keine Antworten. Sie ist mit Sicherheit nicht der Mensch, den ich erwartet habe. Sie ist schonungslos mutig. Sie schont niemanden, weder sich selbst, noch ihr Publikum. Über sieben Jahrzehnte spannt sich das Werk Bourgeois’. Unbeeinflusst von künstlerischen Strömungen wie Surrealismus in Paris oder abstrakter Expressionismus in New York bleibt Bourgeois’ Werk eigenständig, unangepasst und weitgehend figurativ. Ihr gesamtes Werk fußt auf ihrer Kindheit, sagt sie, ihre Kindheit hat nie ihren Zauber, ihre Dramatik, ihr Geheimnis verloren. Doch erst in den 1990er-Jahren erfährt sie breite Anerkennung für ihr durch und durch feministisches Werk – auch wenn sie es nicht so sehen wollte – in dem sie sich auch mit den psychoanalytischen Schriften von Melanie Klein befasst, der Mutter-Kind-Beziehung, auf die ja viele Jahrzehnte gesellschaftlich große Aufmerksamkeit gelegt wurde, sowohl familienpolitisch als auch medizinisch. Das wurde und wird heute revidiert. Die Vater-Kind-Beziehung wird nicht mehr als Nebensache unter den (Männer-)Stammtisch gekehrt. Zwei Jahre vor ihrem Tod mit 98 Jahren erschafft sie Cell (Zelle), The Last Climb, das letzte Erklimmen sozusagen. Ein runder Gitterkäfig in Rost, eine Wendeltreppe mittendrin, die in die Höhe steigt. Blaue große Glaskugeln. Und wieder pendeln sie. Eine weitere ihrer letzten Arbeiten ist I have been to hell and back, eine massive, raumfüllende Installation, die aus einer Vielzahl von Elementen besteht. In der Mitte des Raumes befindet sich ein von der Decke hängendes Netz aus Bronzeguss, das an einen menschlichen Körper erinnert und wie ein Spinnennetz aussieht. Das Netz symbolisiert Beziehungen und Verwundbarkeit. Diese Arbeit wird im Unteren Belvedere leider nicht gezeigt. Insgesamt bin ich von der Ausstellung enttäuscht. Sie wirkt wahllos, gering, zeigt zu wenig Werke angesichts des berühmten Namens Bourgeois.

Kunst ist ein Garant für Gesundheit (Louise Bourgeois)

Die älteren Werke, Ölgemälde nehmen mich nicht minder gefangen, es ist das kraftvolle Dunkelrot, hinein ins Braunorange, dann Königsblau mit viel Schwarz, Blätterformen, Zweige, Vögel, Wurzeln. Bourgeois sagt Farbe ist stärker als Sprache. Farbe ist eine unterschwellige Kommunikation. Blau repräsentiert Frieden, Meditation, Flucht. Rot ist Selbstbehauptung um jeden Preis – ohne Rücksicht auf die Gefahren im Kampf –, voller Widerspruch und Aggression. Es symbolisiert die Intensität der Emotionen, die im Spiel sind. Schwarz ist Trauer, Reue, Schuld, Rückzug. Weiß bedeutet: zurück an den Start. Es ist eine Erneuerung, die Möglichkeit eines Neubeginns, ganz von vorne. Pink ist feminin. Pink heißt, dass man sich gernhat und akzeptiert. Das große Haus ihrer Familie – ihre Eltern führen eine Galerie für antike Tapisserien sowie eine Restaurierwerkstätte – wird immer wieder thematisiert, in Ölgemälden, in Objekten oder in In­stallationen, zum Beispiel mit einem Fallbeil. Die Guillotine wurde für mich das Symbol, wie die Gegenwart die Vergangenheit beseitigt. Die Gegenwart zerstört täglich die Vergangenheit. Die Guillotine drückt diese Grausamkeit aus. 1938 verlässt sie Paris und geht mit ihrem Mann nach New York. Sie flieht von zuhause, der Erinnerung: der Vater ein Patriarch und untreu, die Mutter schwerkrank, sie stirbt 1932, Louise stürzt in eine schwere Krise und wendet sich der Kunst zu. In New York lebt sie mit ihrem Mann und drei Kindern, versucht allen Rollen gerecht zu werden. Once a man was angry at his wife, he cut her in small pieces, made a stew of her. Then he telephoned to his friends and asked them for a cocktail-and-stew party. Then all came and had a good time. Diese kurzen Texte zu ihren neun Stichen bedrücken beim Lesen, sie treffen mich sehr als Liebende und Geliebte. Weil ich mich in ihrem Werk erkenne.

Angst vor dem Sex

Die Angst Bourgeois’ vor Aggressivität war nicht nur persönlich, sie war gesellschaftlich. Zu jener Zeit – damals noch eklatanter als heute – war Aggressivität für europäische und amerikanische Frauen ihrer Klasse nicht nur verboten, sie war, als Depression oder Selbstzerfleischung verkappt, nach innen gerichtet, lese ich in Siri Hustvedts Buch Mütter, Väter und Täter. Was Künstlerinnen brauchen ist Freiheit. Depression macht ein Kunstschaffen unmöglich. Man sitzt in der Hölle, unfähig einen Ausweg zu finden. Kunst biete die Möglichkeit zum Überleben und Sublimieren, kulturelle Erfahrung bewegt sich zwischen dem Menschen und der Außenwelt, ein intermediärer Erfahrungsraum, wie ich bei Hustvedt lese, die den Kinderarzt D. W. Winnicott zitiert. Man muss sich selbst und den anderen kennen, es ist ein Dialog, es gibt ein Bedürfnis, eine Sehnsucht, eine Begierde, mit sich selbst und dem anderen in Frieden zu sein. Ich betrachte einen weiblichen Körper, eingewickelt in dicke, runde, goldene Spiralen. Er hängt. Er pendelt. Ein anderes Objekt, eine Frau mit Brüsten und schwangerem Bauch ist an diesem aufgehängt, schwebt horizontal in der Luft. Ein halbes Bein fehlt. Metall, Bronze vermute ich. Mund offen. Die Arme starr nach unten gestreckt. Mich erinnert es an einige gynäkologisch traumatische Eingriffe. Aber nun zum Kern der Sache. Angst vor dem Sex und Angst vor dem Tod ist dasselbe. Anziehung und Furcht pendeln hin und her. Was ist Ursache? Was ist Wirkung? Es ist wichtig, das genau zu wissen. […] Die Erregung, der Thrill, ist eine erotische Präsenz, das Gefühl, dass es nun um alles oder nichts geht. Entweder du widerstehst oder du gibst nach. Wenn es dich schreckt, ist dein Widerstand noch zu stark, du weigerst dich, mit dem Unbewussten in den Kampf zu ziehen. Mich lähmt diese Angst. In einer Welt, in der der Druck so etwas wie «normal» zu sein scheint, also nach einer bestimmten Kategorie zu handeln oder aussehen zu müssen, ist Bourgeois’ Kunst eine besonders intensive Erinnerung daran, dass es keine festen Regeln geben sollte, wenn es um männlich oder weiblich, um Sexualität und Identität geht. Wir alle haben unsere einzigartigen Leben und unsere Erzählungen, die wir feiern und teilen können, ohne Scham, ohne Vorurteile.

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