Das Geklimper ihrer alten HändeDichter Innenteil

Sie klimpert wieder, immer dieses unaufhörliche Klimpern. Mit der rechten Hand, manchmal nimmt sie die linke dazu, klimpert dann mit beiden, synchron in spiegelbildlichen Bewegungen, nimmt die linke wieder zurück und klimpert mit der rechten weiter. Es sind nicht kräftige Bewegungen, so dass bloß ein Tapsen zu hören ist, selbst wenn sie beide Hände braucht. Selten zwischendurch mal wirds ein Klopfen, kann sich kurz steigern, und wenn die Finger ihre gegengleichen Bewegungen verlieren, kommt ein Rhythmus hinein, könnte sein ein feiner Galopp. Meist aber bloß dieses tapsige Klimpern mit einer Hand, unaufhörlich, unermüdlich.Nein, müde scheint sie nicht zu werden dabei, und eigentlich ists nicht sie, die klimpert. Die Finger allein machen das, die brauchen sie nicht dazu. Wie von selbst geht das, ohne Energieaufwand, einfach so.

Müde geworden ist sonst alles an ihr. Der Mund mag nicht mehr sprechen, wenns viel ist, ein, zwei Worte. Sätze gabs schon lange nicht mehr, zerfallen in Bl-bl-bl-fsfsfs-brrbh-Reihen, Sprachbrosamen. Ihre Beine mögen nicht mehr gehen, schieben sich im Fußmaß vor. Kann sein, dass die Augen noch leben. Schmal waren sie immer, sind nun noch schmaler geworden und eingefallen in ungepolsterten Höhlen. Doch gibts Momente, in denen sie schauen, nicht bloß offen sind, etwas fixieren, verfolgen, so dass auch eine leichte Kopfbewegung folgt. Das Hirn mag nicht mehr, wahrscheinlich nicht mal das Geschaute von der Netzhaut übernehmen. Es hat sich sukzessive zurückgezogen, vor Jahren, sie lassen sich schon zu Dutzenden bündeln, damit begonnen auf zuerst hinterhältige Weise in einem gemeinen Spiel, eigenmächtig hier einen Zusammenhang gekappt, dort ein Wort gelöscht, die Gangart verschärft und Alltagsfähigkeiten genommen, die Kontrolle über Kleidung und Frisur ausgesetzt und dafür Irrsinnssplitter ausprobiert, orientierungslose Gänge durchs nächtliche Quartier, tobende Wut im Haus, Zerstörungsattacken gegen dies, mal das ausgelöst.

Wie sie nun da sitzt, klimpernd mit den knochig gewordenen Händen, die die blauen Adernstränge deutlich durchscheinen lassen. Der Ring sitzt viel zu locker nun, so dass sich der braundurchsichtige Stein ständig nach unten dreht. Mager ist sie geworden, hinfällig, die Kleider zu groß, der Kragen an der Bluse zu weit, und die Flecken auf dem Rock, auch die maschigen Strümpfe hätte sie sich früher nie durchgehen lassen. Ja, sie ist alt, aber die Jahre allein gäben nicht dieses Vergreiste. Vielmehr die Teilnahmslosigkeit, die Passivität, das apathisch Weggeschlossene geben ihr dieses Halbtote. Bloß noch Bewegung in den Fingern. Wie bei alten Leuten nicht selten anzutreffen, eine Unruhe und Rastlosigkeit, die sie dauernd an was rumfingern lässt. Aber dieses ständige Klimpern auf die Tischkante!

Tapsende Finger auf der Tischkante

Da sitz ich neben ihr, ein Besuch im Heim, weiß nicht, wovon noch sprechen, denn Antwort kommt keine, sie kennt mich nicht und Erinnerungshilfen, Namen, Orte wirken hier selbst für mich fremd und wie aus einem jenseitigen Leben zu weit weg. Also sitze ich alsbald stumm ihr gegenüber, bin einfach da. Das Einzige, was sich tut, sind die tapsenden Finger auf der Tischkante.

Wenn sie anstelle dieser Tischkante langsam komme ich, wenn ich sie so beobachte, ins Sinnieren ein Klavier vor sich hätte? Wären die Fingerbewegungen stark genug, die Tasten zu drücken, so anzuschlagen, dass Töne erklingen könnten? So wie sie den Arm hält, würde die rechte Hand in der eingestrichenen Oktave spielen, ungefähr an gleicher Stelle bleiben, in kleinmotorischen Bewegungen mit leicht drehendem Handgelenk.

Natürlich! Die Hände, die Finger wissen noch, haben ihr eigenes Gedächtnis, haben die seit frühen Jahren antrainierten und dann durch Jahrzehnte wiederholten, immer wieder geübten Bewegungsabläufe in sich. Mehr als fünfundsechzig Jahre Tastentraining! Die Hände der Pianistin sind Pianistenhände geblieben, haben all die Chopinetüden in sich, all die Polonaisen, die Walzer, all den Schubert, all den Mozart! Chopin hatte sie gespielt, seit sie jung war und bis ins hohe Alter, auf dem Podium und für ihre Schüler zur Anleitung. Das Repertoire hat sich mit der Zeit ausgedünnt, nur noch einige Nocturnes, noch wenige Walzer, schlussendlich noch Teile daraus, einige Takte oder Anfänge von diesem, von jenem. Irgendeinmal kam der Moment, da war sie schon im Pflegeheim, als sie vors Klavier gesetzt wurde und sie nicht mehr wusste, dass die Tasten angeschlagen werden sollten. Vom Hirn ging kein Befehl mehr auf die Hände. Seitdem ist das Klimpern an der Tischkante geblieben, dieses zu leichte, tapsige.

Ihre Finger klimpern immer noch, kleine Unterbrüche, dann wieder, das Gleiche. Mich, wie ich neben ihr sitze, beachtet sie nicht. Ich schaue ihren Fingern zu und merke, dass sie eine gleiche Abfolge repetieren, kurz innehalten, dann wieder die gleiche Abfolge. Mit meiner rechten Hand versuche ich, unter der Tischkante auf meinen Oberschenkel tapsend, die Abfolge zu imitieren: Der Daumen beginnt immer, Zeigefinger, Mittelfinger, Zeigefinger, Ringfinger, Mittelfinger, mehrmals dieser Dreh, dann Daumen, Zeige-, Ring-, Mittelfinger, wieder mehrmals nacheinander, bis sie mal den Daumen schräg unter die Hand abkippt und den Arm nach rechts abgleiten lässt. Auf meinem Bein tapsend versuche ich ihr Spiel nachzuahmen und begreife nach etlichen Versuchen den sich wiederholenden Reigen. Was ist das? Hab ich das nicht auch in meinen Fingern, kenne ich das nicht irgendwie? Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger, Zeigefinger, Ringfinger, Mittelfinger, mehrmals diesen ganzen Dreh, dann Daumen, Zeige-, Ring-, Mittelfinger, wieder mehrmals, bis der Daumen schräg unter die Hand geht

Die Demenz hat das Hirn gelöscht

Da sitzt sie neben mir, die alt gewordene Pianistin, sagt kaum noch ein verständliches Wort, erkennt niemanden mehr, klimpert bloß, schwach anschlagend, aber in raschem Tempo mit den knochig gewordenen Händen, am einen Finger der viel zu locker sitzende Ring, der sich wegen des gefassten Steins ständig nach unten dreht, und spielt Chopins Minutenwalzer! Dieser Anfang, Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger, Zeigefinger, Ringfinger, Mittelfinger, mehrmals, dann Daumen, Zeige-, Ringfinger, Mittelfinger, wieder mehrmals, bis der Daumen schräg unter die Hand geht Das ist, kann nichts anderes sein, Chopins Minutenwalzer! Die Demenz hat das Hirn gelöscht, das Sprechen dazu, die Bewegungen genommen, gleichsam alles Lebendige an ihr gekappt, aber der Minutenwalzer ist geblieben, der dreht und dreht in ihren Händen, der ist da, resistent gegen die Macht der Krankheit.

Ob er in ihr auch klingt, dieser Minutenwalzer, ob sie, in sich drin, am Flügel sitzt und spielt, immer in dieser Musik ist, in dieser Chopinwelt? Hört sie ihr Spiel?

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