Auf der Straße. Über das Leben des «Königs der Vagabunden», Gregor Gog, und über die revolutionäre Vagabund_innenbewegung der 1920er-Jahre erzählt eine neue Comic-Biografie von Patrick Spät und Bea Davies.
Text: Martin Reiterer
Zu Pfingsten 1929 fand in Stuttgart erstmals ein außergewöhnlicher Kongress statt: Es war der erste Internationale Vagabundenkongress. Organisiert hatte ihn der 1891 geborene Gregor Gog, selbst Landfahrer, Rebell und vielseitiger Akteur. Obwohl es eine Anordnung der Polizei gab, nichts über das Treffen zu berichten, sowie scharfe Absperrungen vor Ort, versammelten sich auf dem Stuttgarter Killesberg an die sechshundert Vagabund_innen. Das Echo der Presse war beachtlich und reichte über Deutschland und Österreich hinaus, bis nach Großbritannien, China und Ägypten.
Die erste Straßenzeitung.
Zwei Jahre zuvor hatte Gog, bald als «König der Vagabunden» bekannt, mit Gleichgesinnten die «Bruderschaft der Vagabunden» gegründet. Ihr Ziel war es, die von der bürgerlichen Gesellschaft Ausgestoßenen und als «arbeitsscheues Gesindel» diffamierten Landstreicher_innen, Obdach- oder Arbeitslosen aus ihrer Isolation herauszuholen und die Voraussetzungen für ein positives Selbstbild und Bewusstsein zu schaffen. Ein erster Schritt war die Herausgabe von Der Kunde – der legendären Zeit- und Streitschrift der Vagabunden. Der Titel bezieht sich auf eine ältere Bezeichnung für «wandernde Handwerksburschen, Bettler, Landstreicher». Doch Kunden nannten sich die Vagabund_innen, Landstreicher_innen, Tippelbrüder und Tippelschwestern, Heimat- und Obdachlosen auch, weil sie die Welt erkundeten. Der Kunde war Vorläuferin und quasi Prototyp der Straßenzeitung. Ihre Geschichte ist ebenso erstaunlich wie dem kollektiven Gedächtnis entschwunden.
Die soeben erschienene Comic-Biografie Der König der Vagabunden. Gregor Gog und seine Bruderschaft von Patrick Spät und Bea Davies hebt einige Fäden aus dem sozialhistorischen Gewebe der Weimarer Republik und der europäischen Zwischenkriegszeit heraus und bringt sie zum Leuchten. Der Journalist und promovierte Philosoph Spät hat nicht nur für das Szenario historisch genau recherchiert, sondern auch die Texte aus vielen Zitaten der Zeit zusammengesetzt. Die aus Italien stammende, in Berlin lebende Zeichnerin Davies hatte bereits für die Berliner Obdachlosenzeitung strassenfeger (1995–2018) gezeichnet und sich dem Thema aus eigener Anschauung angenähert, bevor das Autor_innen-Duo zusammengekommen ist. Der dynamisch gezeichnete Schwarzweißcomic, in dem eine klare Linienführung mit einem breiten durchscheinenden Pinselstrich kontrastiert, lässt die Wirklichkeit der Vagabund_innen ebenso prekär und löchrig wie aufregend und visionär erscheinen.
Sechs Millionen Arbeitslose.
Diese Spannung kennzeichnet auch Gregor Gogs abenteuerliches Leben. Sein Einsatz entsprang einem anarchistischen, antibürgerlichen Impuls, ausgelöst durch eine vielfach erfahrene Wirklichkeit. Mitte der 1920er-Jahre, kurz vor der größten Weltwirtschaftskrise des Jahrhunderts, waren in Deutschland von einer Million Arbeitslose rund 70.000 Obdachlose auf den Straßen unterwegs, Zahlen, die sich bis 1932/33 jeweils gut auf das Sechsfache (sechs Mio. Arbeitslose, 450.000 davon unterwegs) erhöhten.
Gog nahm diesen Umstand nicht als gegeben hin. Denn die über sich selbst glückliche bürgerliche Gesellschaft, die mit Abscheu auf ihre lumpentragenden Artgenoss_innen hinabblickt, hat ihren Wohlstand auf deren Fetzen aufgebaut. Im Comic ist es Gogs Wegbegleiterin, die Tänzerin und «Tippelschickse» Jo Mihàly, die diesen Zusammenhang auf den Punkt bringt: Als sie «des Vagabundierens und Musizierens ohne Genehmigung und zum bloßen Vergnügen» angeklagt wurde, erklärt sie dem von der bestehenden «Gesellschaftsordnung» überzeugten Richter, dass sie in «[seiner] Gesellschaftsordnung» schließlich «die notwendige Entsprechung zu einem Milliardär» sei. Der zynischen Bemerkung vom bloßen Vergnügen der Bettelei erwidert sie, dass es doch verwunderlich sei, warum jene Millionäre, «die sich sonst doch kein Vergnügen entgehen lassen, an unserem ‹Vergnügen› nicht teilnehmen» würden?!
Matrose, Anarchist, Kommunengründer.
Gog selbst brach 1910 aus der «spießigen Enge» seiner Heimatstadt Schwerin an der Warthe (heute Polen) aus, verdingte sich als Schiffsmatrose, kam in Lesezirkeln mit anarchistischen Schriften in Kontakt, erprobte des Öfteren den Aufstand und landete dafür hinter Gittern, sogar in der Psychiatrie. 1918 nahm er am Kieler Matrosenaufstand teil und gründete zusammen mit seinen anarchistischen Künstlerfreunden Karl Raichle und Theodor Plievier die Kommune am grünen Weg in Bad Urach bei Stuttgart. Dort begegnete er neben anderen dem anarchistischen Schriftsteller Erich Mühsam sowie dem Aussteiger, Wander- und Inflationsheiligen* Gusto Gräser, einst Mitbewohner der berühmt-berüchtigten Reformsiedlung Monte Verità in der Schweiz.
Auf Wanderschaften hat Gog seine Beobachtungen sowie sein Urteil über die Gesellschaft geschärft und in seinem Vorspiel zu einer Philosophie der Landstraße (1928) festgehalten. In aphorismenartigen Notizen formuliert er seine Kritik an einer ausschließenden bürgerlichen Gesellschaft: «Wo der Bürger aufhört, beginnt das Paradies!», lautet eine seiner ungestümen Zuspitzungen. Damit drückt der Philosoph der Landstraße in knapper Form seine visionäre Kritik am bürgerlichen Leben, dessen korsettartigen Selbstbeschränkungen und Leistungsforderungen aus. Die vagabundische Lebensweise stellt dazu einen bewussten Gegenentwurf dar.
Selbsthilfe und Selbstorganisation.
In diesem Spannungsfeld erscheint auch Der Kunde. Da ist zum einen die soziale Funktion, die den Ausgeschlossenen eine Heimat und Anlaufstelle, jene «Herberge für alle» bieten soll, hinter der die Idee der Selbsthilfe und Selbstorganisation steht. Doch darüber hinaus geht es um eine frühe Form der Selbstermächtigung und Entfaltung kreativer Möglichkeiten. Gog erkennt in den Vagabund_innen «Könner in Lumpen». Der Kunde wird zum Forum und Sprachrohr der Vagabund_innen, zum Medium ihrer Selbstdarstellung. Erfahrungsberichte und autobiografische Notizen, Zeichnungen und Scherenschnitte, Gedichte und Lieder, Aufrufe und Ankündigungen sowie praktische Tipps für das Überleben auf der Landstraße finden hier Platz. Neben Beiträgen von Künstler-Vagabund_innen wie Jo Mihàly und Hans Tombrock erscheinen solche von Knut Hamsun und Maxim Gorki. In den darauffolgenden Jahren organisiert Gog mit seinen Freund_innen öffentliche Vagabund_innen-Abende, erstmals auch vor dem Radiomikrofon, und schließlich gibt die Künstlergruppe der Bruderschaft der Vagabunden auf dem Vagabundenkongress 1929 die erste Kunstaustellung.
Zugleich ruft Gog den «Generalstreik das Leben lang!» aus. Es war ein Aufruf dazu, «bewusst faul» zu sein und damit die bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu brechen. Der österreichische Essayist und Philosoph Hans Prager hat in einem bemerkenswert einfühlsamen Artikel über Gog die Vagabund_innen als «das Gewissen der bürgerlichen Gesellschaft» bezeichnet und damit ein Grundanliegen präzise auf den Punkt gebracht.
Faschismus und Gogs Vermächtnis.
Zu dem für 1930 in Wien angekündigten zweiten Vagabundenkongress kommt es nicht, dafür findet im Wiener Haydn-Kino die Erstaufführung des Spielfilms Der Vagabund statt. Regie: Fritz Weiß, ein junger Österreicher. In dem als «Meisterwerk der Arbeitsgemeinschaft Junger Film» angekündigten Stummfilm spielt neben Hans Tombrock und anderen Vagabund_innen auch Gog eine kleine Rolle als Schauspieler, vor allem aber eine wichtige Rolle als Berater.
Im letzten Jahr ihres Erscheinens, 1931, benennt Gog die Zeitschrift um: Der Vagabund stellt auch einen inhaltlichen Bruch dar. Voraus ging eine Reise in die Sowjetunion, die Gogs politische Position radikal veränderte, aus dem Anarchisten wurde ein Kommunist. Doch darin spiegeln sich auch die Kämpfe der Weimarer Republik. Gogs wohlbegründete Angst, die Vagabund_innen würden «den Faschisten eine leichte Beute», veranlasste ihn zu diesem Schritt. Lieber wollte er in ihnen «eine Reservearmee des kämpfenden Proletariats» sehen. 1933 wurde die «Bruderschaft» von den Nazis zerschlagen. Gog und seine Frau Anni Geiger-Gog wurden verhaftet und getrennt voneinander in Konzentrationslager gebracht. Während seine Frau später freigelassen wurde, gelang Gog 1933 mit einem Helfer die Flucht in die Schweiz. Das ist Ausgangpunkt und Ende des Comics. Gog stirbt nach zermürbenden Krankheits- und Arbeitserfahrungen 1945 in der Sowjetunion. Sein bemerkenswertes Vermächtnis lebt nun aber weiter.
Patrick Spät / Bea Davies:
Der König der Vagabunden. Gregor Gog und seine Bruderschaft
avant verlag, 2019
160 Seiten, 25 Euro