Geschworenenprozesse – demokratisches Instrument oder Justiz durch Unwissende? In Österreich gibt es jedenfalls Reformbedarf. Astrid Wagner und Katharina Rueprecht haben ein Buch über «Glanz und Elend» dieser Institution publiziert. Die überarbeitete Neufassung richtet sich nun auch an nicht-juristische Leser_innen.
Text: Franz Blaha
Illustration: Silke Müller
1.000 Euro plus Verfahrensbeeinträchtigungskosten kann es ausmachen, wenn man der Bestellung zur Laienrichterin oder zum Laienrichter nicht nachkommt. Ausgenommen sind alle unter 25- und über 65-Jährigen, sowie jene, auf die ein Ausnahmegrund zutrifft. Der Einberufung liegt eine 87-seitige Info bei, von der die ersten paar Seiten unbedingt zu lesen sind. Der Rest ist Rechts- und Staatsbürger_innenkunde. Warum 24-Jährigen noch kein reifes Gerechtigkeitsempfinden zugebilligt und 66-Jährigen die Reife zur Gewissensentscheidung abgesprochen wird? Der Bundespräsident Theodor Körner hatte mit 84 Jahren noch das passive Wahlrecht, Geschworener hätte er aus Alters- und Amtsgründen nicht sein dürfen. Mit ihrem überarbeiteten Buch Geschworenenprozesse. Glanz und Elend einer Institution wollen die Juristinnen Katharina Rueprecht und Astrid Wagner die notwendige Diskussion über das Geschworenensystem versachlichen und ein breites Lesepublikum einladen, über Justiz und Demokratie nachzudenken.
Am Anfang war der Mensch-Mann.
Wozu überhaupt eine Geschworenenbank mit acht Laienrichter_innen? Bedürfen denn die drei Berufsrichter_innen bei einem solchen Prozess des Rats und der Entscheidungsgewalt juristisch ungebildeter Staatsbürger_innen? Die Meinungen darüber gehen auch in höchsten Kreisen auseinander. Aber zunächst: ad fontes. Seit wann?
Die Frage nach den Wurzeln führt uns ein ganzes Jahrtausend zurück, in die Zeit der Wikinger. Mensch war gleichbedeutend mit Mann. «Mensch-Mann» war wiederum nur der Clanzugehörige, und der «Mensch-Mann» durfte nicht getötet werden. Hatte er die Todesstrafe verdient, mussten drei dazu bestimmte «Mensch-Männer» auf dem Thing-Platz zusammentreten, ihn zum «Unmenschen» erklären und dann, durch Zusammenschlagen ihrer Waffenschilder den Schuldspruch besiegeln. Jeder «Unmensch», z. B. alle Frauen, Kinder und nicht in den Clan Aufgenommenen, durfte getötet werden und war buchstäblich zum «Gebrauch» bestimmt. Daher heute noch im gesatzten Recht der meisten europäischen Staaten der Begriff «Kindesmissbrauch», engl. «child abuse», frz. «abus sur mineur», span. «el abuso infantil» … Nur die Holländer_innen sagen «Kindermishandeling», was nicht direkt die Benutzung eines Kindes entgegen einer ungeschriebenen Gebrauchsanweisung ausdrückt.
Vermutlich ist die Laiengerichtsbarkeit durch die Normannen nach England gedrungen, stand aber unter dem Diktat der Obrigkeit. Bis 1670 wurden aufmüpfige Juroren ihrer Ländereien enteignet und ohne Wasser, Nahrung, Tabak, Feuer, Heizung und Nachttopf (!) zur Beugehaft in kalte Keller gesperrt, bis ihr Wahrspruch dem Gericht genehm war. Erst der heldenhafte Edward Bushell erkämpfte 1670 das bis heute geltende Vorrecht der anglikanischen «Jury», indem er allen Repressalien standhielt und sich auf die 1215 verfasste Magna Carta berief. Eine gravierte Steintafel im Old Bailey zeugt heute noch davon.
Das laienhafte Gewissen als Korrektiv.
Der Wahrspruch der Jury anglikanischen Rechts darf seither gegen die Obrigkeit und sogar gegen das geltende Strafrecht lauten. Im Fall der «Wednesbury Four» von 1996 haben vier Frauen aus pazifistischer Überzeugung einen britischen Militärjet demoliert, der an eine kriegführende Nation verkauft werden sollte. Eine gesinnungsaffine Jury sprach die beherzten Kriegsgegnerinnen von der Schuld an diesem Staatsverbrechen frei.
Ähnliche Wahrsprüche finden sich in Großbritannien und den USA gar nicht selten. Wehrdienstverweigerer, Alkoholkonsumentinnen während der Prohibition, politisch Aufmüpfige, zum Tode verurteilte Diebe, subversive Journalistinnen, Frauen, die Abtreibungen hatten vornehmen lassen, unberechtigte Waffenbesitzer etc. wurden von der Jury schon freigesprochen. Das Gewissen des Volkes: ein mächtiges, demokratisches Korrektiv?
Justizminister Christian Broda sah im Geschworenenrecht eine Säule der Demokratie, der Rechtswissenschafter Hugo Zörnlaib hielt es für ein unentbehrliches Instrument, der Entstehung diktatorischer Strukturen innerhalb der Demokratie entgegenzuwirken. Ein halbes Jahrhundert später hält Justizminister Wolfgang Brandstetter das Geschworenenrecht für demokratiepolitisch entbehrlich, und er findet es mit dem Rechtsstaat unvereinbar, geltendes Recht von Lai_innen korrigieren zu lassen. In jungen Republiken, die eben erst ein totalitäres System abgeschüttelt haben, wird eben diese Korrekturmöglichkeit heiß begrüßt. Der Gesetzesentwurf wird sorgfältigst ausgearbeitet, diskutiert und in der neuen Verfassung verankert. So war es z. B. in Spanien nach Beseitigung der Franco-Diktatur.
Gegen die Abschaffung spricht, dass Berufsrichter_innen Urteile auch gegen ihr eigenes Gewissen fällen müssen und dass die Amtsroutine sie betriebsblind macht. Die renommierte Anwältin Astrid Wagner deutet sogar eine gelegentliche Milieublindheit an. Einem vermutlichen Vergewaltigungsopfer, nicht deutsch sprechend und in prekären Verhältnissen lebend, wurde die Aussage vom Gericht nicht geglaubt, der Angeklagte, ein wohlstandsgesicherter Bürger, vom Berufsrichter freigesprochen. Hätte das Urteil bei umgekehrten Lebensverhältnissen auch so gelautet? Berufsblindheit, Milieublindheit … die Laienrichter_innen Blindenhunde des Rechts?
Recht im stillen Kämmerlein.
Sogar der Kritiker Brandstetter begrüßte einmal den Wahrspruch einer Jury, die einen Arzt von der Anklage wegen Mordes freisprach und auf fahrlässige Tötung erkannte. Der Mediziner hatte aus Mitleid den Tod eines Sterbenskranken auf Grund einer hochdosierten Medikamenteneinnahme zugelassen. Berufsrichter_innen wäre diese «Korrektur» vom Gesetz her untersagt gewesen.
Heute gibt es die Jury auf dem Kontinent nur noch in Belgien, Frankreich, Malta, im Tessin in der Schweiz und in Österreich. Den Vor- und Nachteilen des Geschworenenprozesses hat man in der Gesetzgebung versucht, Rechnung zu tragen. Trotzdem gibt es überall berechtigte Kritik. Die «inquisitorische» Verhandlung bedingt, dass die Liste der Sachverhalte, über die die Geschworenen mit «erwiesen» oder «nicht erwiesen» abzustimmen haben, nicht von den Parteien, sondern von der Obrigkeit erstellt wird. In Österreich ist die Begründung des Wahrspruchs der Geschworenen in keinem einzigen Punkt dieser Sachverhalts-Liste vorgesehen. Auch der Wahrspruch selbst nicht. Diese Endgültigkeit entmündigt Verteidigung und Anklage gleichermaßen, denn es ist bei korrektem Ablauf keine Berufung, kein Instanzenweg mehr möglich.
Einen solchen, unbegründeten Wahrspruch gibt es in Spanien nicht. Und im Unterschied zur österreichischen Variante findet die Rechtsbelehrung der Jury öffentlich statt, und nicht im «stillen Kämmerlein» wie hierzulande. Mit der Begründung sind Berufung und Instanzenweg möglich. Im über mehrere Jahre in Spanien verhandelten Fall Wanninkhof, so schreibt Katharina Rueprecht, verwandelte sich der Wahrspruch «schuldig des Mordes unter Anwendung besonderer Hinterlist» am Ende in einen Freispruch. Im Lauf der Verhandlungsjahre, die die Angeklagte Dolores Vázquez zeitweise im Gefängnis zubringen musste, wurde der wahre Täter überführt. Dass, während der Instanzenweg durchlaufen wird, auch weiter ermittelt werden kann, hat sich bewährt.
Nicht immer führt dieser Weg auch zum Guten. Das erweist der Fall Otegi, den Rueprecht als finales Beispiel im vorliegenden Buch anführt: Otegi, ein baskischer Spanier, wird aus politischen Gründen von der Polizei ab seinem 19. Lebensjahr mit Psychoterror bedrängt. Als 23-Jähriger erschießt er im Vollrausch und unter Panik den Polizisten, der mit der Waffe auf ihn zielt und dessen Kollegen. Die Jury spricht ihn frei. Auf dem weiteren, turbulenten Verhandlungsweg gelingt den Berufsrichtern eine Rechtsbeugung, die ihnen ermöglicht, ihn wegen Mordes auf 34 Jahre hinter Gitter zu bringen.
Katharina Rueprecht, Astrid Wagner:
Geschworenenprozesse. Glanz und Elend einer Institution
Edition Blickpunkte 2020 198 Seiten, 20,90 Euro
Buchpräsentation:
Mi, 9. Juni, 18 Uhr
Festsaal Florido-Tower
30. Stock, 1210 Wien
menschenundrechte.at