Das Glück der Automatenvorstadt

Seit Beginn der Corona-Krise sind Verkaufsautomaten besonders beliebt. Ihre Geschichte ist älter als das Virus und hat nicht selten mit tabuisierten Waren zu tun. Der Automaten­pionier Ferry Ebert hat seinen «stummen Dienern» ein eigenes Museum gewidmet

TEXT: BARBARA EDER
FOTO: NINA STRASSER

«Bediene dich selbst!» – Wer dies liest, muss nicht länger auf die Weissagungen antiker Orakel hoffen, sondern steht vor einem der modernsten Warenautomaten seiner Zeit: einem Drehfachautomaten aus der Berliner Fabrik von Ferdinand Florstedt, gebaut in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Auf den ersten Blick wirkt er wie ein kleines Riesenrad hinter bruchsicherem Glas, dank eines dahinter liegenden Drehmechanismus kann man die in den einzelnen Fächern platzierten Waren gezielt in die Aus­gabeposition bewegen. Nach dem Münzwurf wird der Hebel unterhalb des Rades entriegelt und das gewünschte Gut ausgeworfen; zumeist waren es Süßwaren oder Fotofilme, die als Gegenwert für zehn bis fünfzig Pfennig lockten.
«Als geschäftstüchtiger, kluger Kaufmann haben Sie mit der Wahl eines Turbomat das Richtige und Zweckmäßige auf diesem Gebiet getroffen.» Diese Werbebotschaft richtete sich zu Beginn der 60er Jahre an alle potenziellen Kund_innen einer weiteren Berliner Automatenfabrik. Verkauft wurde damit nicht einfach ein Automat, sondern auch ein Versprechen: Der neue metallene Mitarbeiter galt als besonders zuverlässig, da er weder Lohnerhöhungen noch Erschwerniszulagen fordern konnte; selbst bei Wind und Wetter würde er unversehens seine Dienste tun und dadurch die hohen Investitionskosten schnell wettmachen. Die Idee eines Verkaufs ohne Verkäufer_in wurde im Zeitalter der Massenproduktion erneut populär – als 24/7-Selbstbedienungsservice
gegen Münzeinwurf, interessant für etablierte Stammkund_innen ebenso wie für volatile Laufkundschaft.

Ohrfeige.

Kommerzielle Überlegungen dieser Art waren dem Wiener Automaten-Pionier Ferry Ebert anfangs noch fremd. Seine Automaten standen einfach da, verpackt in Pappkartons im Garten seines Elternhauses. Er hatte sie nicht angefordert und dafür von seiner Mutter vorerst eine Ohrfeige kassiert. Von der Ursache seines Glücks erfuhr er wenig später per Telefon: Am Apparat war der Chef, der Ebert erklärte, warum er die Automaten an seine Privatadresse liefern hatte lassen – die Berliner Automatenaufstellfirma Wiegand sei pleite gegangen und mit Ersatz sei nicht zu rechnen. Bezahlen müsse Ebert nichts, stattdessen solle er sich darauf gefasst machen, dass die Automaten ihr Geld bald von selbst verdienen. Ferry Ebert überlegte, wo er sie aufstellen könnte, und seine Odyssee führte ihn von Nickelsdorf über Gmünd bis nach Innsbruck und Bregenz.
Die dreihundert Automaten, die an einem Freitag des Jahres 1956 unerwartet ankamen, beherbergten keine Mannerschnitten oder Kaugummis; es waren Kondome der Marke Blausiegel, die in ihrem Inneren lagerten – für
Ferry Ebert schon dazumal keine Fremdkörper: Seine Karriere hat er als Handelsvertreter für Drogisten­ware aus Kautschuk und Gummi bei der Semperit AG begonnen und aus dieser Position heraus bereits das eine oder andere Gespräch über die sensible Ware geführt. Er berichtet von Apotheker_innen, die währenddessen erröteten, und von der Verachtung, die Gastronomie und Gesundheitsämter ihm in Reaktion darauf entgegenbrachten. Dennoch habe er mehr als zehn Gesundheitsminister_innen überlebt und dabei vieles richtig gemacht, meint Ebert. Als das Wort «Kondom» im Zuge der Aids-Krise Anfang der 80er in aller Munde war, wusste er, dass er mit seinen Präser-Automaten Pionierarbeit geleistet hatte. Wer gegen Münzeinwurf bei einem davon Kondome kaufte, konnte ohne Infektionsrisiko seinen Leidenschaften freien Lauf lassen.

Verhüterli.

Ferry Ebert blickt in seinem Leben auf einige Aufs und Abs zurück, in der Anfangszeit waren 16-Stunden-Tage für ihn keine Seltenheit. Um bei der einen oder anderen Montage­-Aktion unentdeckt zu bleiben, begann er seine Arbeit oft erst mit Anbruch der Dunkelheit. Gegen Ende der 50er Jahre waren die Metall­kästen zum Verkauf von Verhüterlis nicht annähernd so ansprechend gestaltet wie heute und die verfliesten Untergründe der Toilettenanlagen hartnäckig. Ebert bohrte nachts an stillem Ort – und erlebte tagsüber nicht selten sein blaues Wunder. Einige seiner Automaten wurden entwendet, andere demoliert oder mit roher Gewalt aus der Verankerung gerissen. In seinem Privatmuseum in Wien-Penzing hängt ein Foto eines Kondom-Automaten, der mit Schleppseil und Lkw aus einer Toilettenanlage gerissen wurde – zurückgeblieben ist ein riesiges Loch in der Wand, für das keine Versicherung sich zuständig erklärte.
Anfang der 90er sei es um seine Automaten schlecht bestellt gewesen, sagt Ebert. Ihr Bestand sei zwar auf rund 10.000 Exemplare angewachsen, der Vandalismus aber stark gestiegen. Anders als in der Anfangszeit resultierten allfällige Aggressionen nicht aus der vermeintlichen Verpöntheit der Waren, pure Geldgier hätte Menschen zu mutwilligen Beschädigungen veranlasst. Sie betrafen nicht nur Eberts Kondomautomaten, sondern auch seine stillen Brieflos-, Pez- und Gummibären­verkäufer. Er selbst bezeichnet sie gern als «stumme Diener» und hat über die Jahre hinweg viel in sie und ihre Instandhaltung investiert. Noch vor der Euro-Einführung beendete er seine unternehmerische Tätigkeit und begann mit dem Abverkauf. Der Gegenwert für die Schillingautomaten hätte die Umrüstung auf die Euro-Bezahlmodule nicht finanzieren können, und Ebert wollte sie nicht mehr mitmachen. Ein Foto im Foyer seines Museums zeigt, warum. Anlässlich der bevorstehenden Währungsumstellung wurde er im Oktober 1999 ins Hauptmünzamt geladen. Kurz nachdem er den Raum betreten hatte, in dem die Euro-Tauglichkeit seiner Automaten unter Beweis gestellt werden sollte, flog eine Taube beim Fenster herein. Sie schiss auf den Automaten, und Ferry Ebert wusste wieder, was zu tun war. Er machte Frieden mit sich und seinem Geschäft.

Briefverkehr.

Märchen wie diese werden selten Wirklichkeit. Dennoch erzählt Ebert aus seinem Leben stets so, als ob es reich an Zeichen und Wundern wäre. Dazu inspiriert hat ihn eine Weltreise, die von Israel über Ägypten nach Nepal und Indien führte, vom Besuch beim Dalai Lama schwärmt er bis heute. Zurück in Wien, begann Ebert Anfang der 90er mit dem Verkauf seiner Märchen. Im Januar 1992 präsentierte er im Technischen Museum einen Märchen- und Gedankenautomaten, der seine Erkenntnisse über Sein und Welt kommerziell zugänglich machte. Gegen Einwurf einer Zehn-Schilling-Münze erhielt man einen von Ferry Ebert selbst verfassten Brief – und wurde im Gegenzug dazu aufgefordert, zurückzuschreiben. Eine Schülerin aus Berlin nahm den Briefverkehr besonders ernst und schrieb fast täglich, andere Sender bevorzugten die Einweg-Kommunikation. Bis zuletzt sei ihm der Brief ein Rätsel geblieben, in dem ein anonymer Verfasser ihn des Diebstahls bezichtige, sagt Ebert. «Sie haben meine Seele gestohlen», bekundete der Adressat darin in obskurer Blockschrift.
Seelen haben weder Sub­stanz noch Form, Waren hingegen wirken wie ihr glattes Gegenteil. Aufdrapiert und ausgeleuchtet, kann man sie bis heute ohne Verkaufs­gespräch am Automaten erstehen – auch Gedrucktes findet sich darunter, von den Automatencomics des Wiener Kabinett-Verlags über die Bücher des Berliner SuKuLTuR- und des Hamburger Automaten-Verlags. Roboter­arme mit elektronischer Griffmechanik werden demnächst in der Wiener Heiligenstädter Straße diverse CBD-Sorten verteilen, und ein Automaten-Café am Praterstern simuliert schon jetzt einen Selbstbedienungs-Supermarkt ohne Schließzeiten. Bezahlt wird nur noch selten per Münzeinwurf: Der Beruf des/der Münzmechaniker_in gilt heute als ausgestorben, das Wissen um die komplexen Vorgänge hinter dem Geldschlitz wurde den Herstellern von Telemetrie-Modulen und Banknoten-Prüfern überantwortet. Das Glück dieser Automaten besteht darin, dass sie niemanden ausbeuten und nichts mehr versklaven. Für Ferry Ebert war es ein Vogerl, das ihn am Ende von der aufwendigen Arbeit an den Automaten
befreit hat.