Das große Klackenvorstadt

Vom Freizeitspaß zum Turniersport: Pétanque hat in Wien Wurzeln geschlagen. Damit das zarte Pflänzchen nicht abfriert, braucht es nun ein Winterquartier.

TEXT: HANNES GAISBERGER
FOTOS: MICHAEL BIGUS

Ungläubig schreite ich den Schotterstreifen ab. Es könnte sich ausgehen! Zehn, elf, zwölf Meter lang, drei Meter breit. Das ist nicht perfekt, aber die Lage ist halt unschlagbar. Ich habe also eine Pétanque-Bahn im Innenhof, eine Minute von Couch und Kühlschrank entfernt. Vielen Dank, liebe Genossenschaft! Obwohl deren Motive vielleicht gar nicht so edel waren, wie Frau Fekete meint. Aber dann kann ich zum Spiel einen Pastis aus der Hausbar nehmen, wie Herr Avedikian empfiehlt. Und wenn ich voll reinkippe, sieben Tage die Woche spielen, wie Herr Berghammer das ideale Training beschreibt. Doch der Reihe nach.
Pétanque ist im Trend, Pétanque ist im Kommen. Aber es ist noch nicht Mainstream. Sonst würde die Bahn in meinem Hof nicht für Fahrradvollbremsungen von Kindern herhalten müssen. Unbespielt ist es eben nur eine mit Steinchen bestreute Fläche. Die so unscheinbar ist, dass sie mir jahrelang nicht aufgefallen ist. Und manchmal braucht es noch weniger, da reicht ein breiter Schotterweg im Park. So wie im Augarten, dem inoffiziellen Boulodrom von Wien.
Dort habe ich an einem noch sonnigen Freitagvormittag das Vergnügen, ein wenig Pétanque-Luft zu schnuppern. Gemeinsam mit Agnes Fekete und Thomas Berghammer von der Pétanque-Sektion des Wiener Sport-Clubs und Pierre Avedikian, einem Pionier der Wiener Szene, der das Spiel in Frankreich, quasi an der Quelle gelernt hat. «Ich habe als Kind auf einem Platz neben der Kirche gespielt, unter Bäumen. Da waren ältere Leute, die haben gesagt: Magst du mitmachen? So funktioniert das.» Später hat Monsieur Avedikian mit Vorliebe Rugby gespielt, um im Wien der 1990er-Jahre zum Kugelsport zurückzukehren.

Gründergeist.

Gemeinsam mit einer Runde frankophiler Personen aus dem Umfeld des Lycée Français wurden erste Bahnen errichtet, Vereine gegründet. «Den ersten Platz, auf dem in Wien gespielt wurde, gibt es nicht mehr. Das war am Donaukanal, ungefähr dort, wo später das Flex hingekommen ist. Es gibt sicher noch ein paar Kugeln von uns, die im Kanal liegen, wir haben nicht alle rausfischen können.» 1993 gründete man den Verband ÖPV, der sich seither bemüht, den Sport hierzulande bekannter und auch besser zu machen. Der soignierte Herr Avedikian ist ein perfekter Pétanque-Botschafter. Nichts würde ihm ferner liegen, als eine exklusive Clublandschaft aufziehen zu wollen. Mehrfach betont er, dass etwas «nicht im Geiste des Pétanque» sei. Unfreundlichkeit etwa, oder kostenpflichtige Plätze. Es soll freundlich sein, es soll niederschwellig sein. Wer zuschaut und Interesse bekundet, kriegt Kugeln und darf mitspielen. So wie ich.
Die Kugeln borgt mir Thomas Berghammer. Der gebürtige Oberösterreicher ist seit einem guten Jahrzehnt dem Pétanque verfallen. «Früher habe ich Stockschießen betrieben, auch Turniere gespielt. Dann habe ich in der Steiermark auf einem Künstlersymposium das erste Mal Pétanque gesehen.» Der Musiker war begeistert und wechselte den Sport. Doch zurück zu den Kugeln. Die sogenannte Zielkugel hat einen Durchmesser von 30 Millimeter und ist meist aus Holz. Die Spielkugeln können innerhalb eines Korridors leicht an Aussehen, Größe und Gewicht variieren, in der Regel sind sie metallisch glänzend, so groß wie eine kleine Orange und zwischen 650 und 800 Gramm schwer. Sie können graviert sein, zerkratzt oder blitzblank. Preislich kriegt man ab 40 Euro anständige Kugeln, die Jahrzehnte lang halten können. Nach oben gibt es natürlich immer Spielraum. Nach unten sollte man vorsichtig sein, vor ein paar Jahren sind die mit Mörtel versetzten Kugeln eines Schweizer Diskonters korrodiert und in zwei Fällen explodiert.

Feldversuch im Park.

Wir spielen eine Doublette, also zwei gegen zwei. Agnes Fekete, die Sektionsleiterin des WSC Pétanque, wird mir beim Ausschießen der Paarungen zugelost. Sie empfiehlt mir, zu legen. Es gibt nämlich einen Leger oder Pointeur und einen Schießer oder Tireur. Die einen versuchen, die eigenen Kugeln nahe ans Ziel-Schweinchen zu legen, das zu Spielbeginn mindestens sechs und maximal zehn Meter entfernt angeworfen wird. Die Tireurs entfernen die Kugeln der Gegner_innen mit gezielten Schüssen. Was noch mehr Übung erfordert. Einmal gelingt Frau Fekete ein carreau sur place, ihre Kugel bugsiert nicht nur die des Gegners weg, sondern bleibt auch noch exakt auf dem frei gewordenen Platz liegen. Leichtes Klacken mit den Spielgeräten ist der Applaus der Szene und wird teamübergreifend gespendet.
Auch wenn ich das Gefühl habe, ein bisschen mitmachen zu können, verlieren wir beide Spiele klar. Dank Frau Fekete jedoch nicht zu null, was eine «Fanny» wäre. Die Legende von einer Kellnerin Namens Fanny und ihrem Hinterteil, das man küssen müsse, gehört eher in die Mottenkiste des Sports. Pierre Avedikian ist erstaunt, wie sich der Status des Spiels in Frankreich gewandelt hat. «Früher hatte es keinen guten Ruf, es wurde von zwielichtigen Typen um Geld gespielt. Aber heute gibt es in jeder Stadt ein kleines Stadion, Boulodrom genannt. Die großen Turniere werden im Fernsehen übertragen und erreichen hohe Einschaltquoten.» Wenn Herr Avedikian aber sieht, wie jemand eine gelbe Karte wegen Zeitüberschreitung erhält, muss er doch den Kopf schütteln. Längere Diskussionen gehören irgendwie auch dazu. Aber die Sportart will irgendwann olympisch werden, da muss man Konzessionen machen.
Hierzulande geht es vergleichsweise leger zu. Diskussionen, ob Blue Jeans bei Turnieren verboten werden sollen, sind im Gange. Bei internationalen Turnieren gibt es schon eher einen Dresscode, und der ÖPV ist bei allen größeren Events vertreten. Auch bei der Team-Europameisterschaft, die im Herbst im spanischen Santa Susanna steigt, sind acht Österreicher_innen am Start. Einzelne Erfolge können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Länder wie Frankreich, Italien und Spanien einen Vorsprung haben. Die Tschech_innen sieht Herr Avedikian auch besser aufgestellt, Österreich spielt in einer Liga mit Ungarn oder Slowenien. Jedes Land hat die Kultur anders aufgenommen. «In Ungarn wurde mir schon ein Unikum vor dem Spiel angeboten. Die Tschechen bleiben eher beim Bier.» Aber wäre das ideale Getränk – im Geiste des Pétanque – nicht ein Pastis? Thomas Berghammer sagt, ein Kaffee gehe immer. Frau Fekete sieht den Pastis noch nicht so in Wien angekommen, wogegen Monsieur Avedikian bestätigt: «Die französische Community, die trinkt schon Pastis.» Wenn es auch ein bisschen Klischee ist: Zum Spiel aus Marseille das Getränk von Marseille.

Die Herbergssuche.

Das Spiel ist nicht zu anstrengend, außer man tritt bei Turnieren an, wo ein Wettkampftag bis zu elf Stunden dauern kann. Pétanque wurde ja als Schonvariante des Jeu Provençal für einen an Rheuma erkrankten Spieler erfunden, der die drei erforderlichen Schritte Anlauf nicht mehr bewältigen konnte. Das erleichtert zwar das Spielen bei großer Hitze, im österreichischen Winter hat sich das viele Stehen mit Metallkugeln in den Händen als kühles Vergnügen erwiesen. Frau Fekete schwört auf Handheizung, dennoch sind lange Spielpausen die Folge, ist kontinuierliches Training kaum möglich. Daher sieht der Verband die Bereitstellung einer winterfesten Indoor-Anlage als nächsten erforderlichen Schritt. Ein temporär aufgetragener Schotterbereich in einer Halle würde reichen, Verhandlungen mit der Stadt Wien sind am Laufen. «Unser Ziel ist, dass wir den Winter überbrücken können. Ich würde mich so freuen.»
Die gute Laune Herrn Avedikians kann auch meine Unterstellung, dass Pétanque ein exklusiver, ja elitärer Sport sein könnte, nicht trüben. Ich meine, die ganzen französischen Begriffe, das betont Kontemplative, Spielorte wie die Strandbar Hermann, die Summerstage, das Museumsquartier? «Wir haben aber auch Plätze im 22. und 23. Bezirk. Das ist schon bunt gemischt. Da gibt es einen Spengler, der spielt, und in der Stadt ist es mehr Bobo, da gibt es zum Beispiel Musiker.» Sein Blick wandert zu Herrn Berghammer, der beim Wort Bobo abwehrend die Hände hebt. Ein blaues Vintage-Rennrad lehnt anklagend hinter ihm an der Parkbank.

Das Turnier.

Plätze kommen, Plätze gehen. Jener im Bacherpark musste dem U-Bahn-Bau weichen. Andere sind temporär, wie der im Schatten des MUMOK im Museumsquartier. Positiv auch hier: keine Bahngebühr, keine Konsumationspflicht, Kugeln kostenlos gegen Pfand zu leihen (schön wäre es, würden im MQ Straßenzeitungsverkäufer_innen auch so gastfreundlich wie Pétanquespieler_innen behandelt werden, Anm. d. Red.). Ein weiteres Ziel: dass diese beliebte Anlage ganzjährig liegen bleibt. Andere Plätze erfüllen zwar alle Kriterien, sind aber ohne Bedacht angelegt. Frau Fekete denkt dabei an den Ludo-Hartmann-Park im 16. Bezirk. Neben einem Ballsportkäfig, an dem dauernd Schüsse an das Metallgitter knallen, kommt keine kontemplative Atmosphäre zustande. «Pétanque-Plätze werde von Bauträgern gerne verwendet, weil sie der billigste Spielplatz sind. Das ist so definiert, die füllen damit günstig vorgeschriebene Fläche, und dann wird das manchmal wo hingebaut, obwohl es gar nicht passt. Das schadet fast dem Ansehen des Sports.»
Während die verwunschenen Waldbahnen am Rosenhügel als die schönsten Plätze Wiens gelten, ist der Augarten der wichtigste, ohne extra angelegt worden zu sein. Die Spieler_innen nutzen die geschotterte Kastanienallee in der Nähe des Flakturms. An Schönwetter-Wochenenden verteilen sich bis zu 60 von ihnen unter den Bäumen. Als Anfang Oktober das wegen Regen unterbrochene WSC-Open fortgesetzt wird – im Augarten finden auch große Turniere statt –, sind gut 30 Spieler_innen vor Ort. Manche ganz informell, andere verfolgen gebannt das Turniergeschehen. Mit seinem Team im Finale: Thomas Berghammer. Die Kälte kriecht auch ihm langsam in die Glieder, mit schnellen Trippelschritten versucht er sich zwischen den Würfen aufzuwärmen.
Die Atmosphäre ist als angenehm zu beschreiben, besonders gelungene Würfe ziehen ein allgemeines metallisches Klacken nach sich. An Schnüren befestigte Magnete werden da und dort zum Aufheben der Boules benutzt. Das sieht allerdings schon fast zu gemütlich aus. Kleine Wischtücher befreien die Kugeln von angeklebtem Staub und Steinchen. Vereinzelt sieht man Campingstühle in Benützung, Bierdosen werden geleert.
Viel braucht es wirklich nicht, um einen netten Pétanque-Nachmittag zu erleben. Das wird auch in meinem privaten Boulodrom so sein. Der Pastis 51 wartet schon im Kasten, die Bahn harrt ihrer Bespielung, ein Wischtuch habe ich von Frau Fekete geschenkt bekommen. Jetzt braucht es nur noch schönes Wetter und ein paar Kugeln vom Osterhasen.

boule.at

 

Was ist Pétanque?

Pétanque ist eine Variante des französischen Boulespiels, das mit dem britischen Bowls und dem italienischen Boccia die Familie der Kugelsportarten bildet. Während Bowls auf dem Rasen oder einem Teppichbelag gespielt wird, erfordern Boccia und etliche Boule-Unterformen extra präparierte Bahnen. Pétanque kann hingegen auf jedem Untergrund gespielt werden. Kugelspiele sind seit den alten Griechen bekannt, besonders populär sind sie seit Jahrhunderten in Frankreich. Aus Boule Lyonnais wurde Jeu Provençal, und aus diesem entstand Anfang des 20. Jahrhunderts Pétanque. Es hat sich als die überregionale Wettkampfvariante durchgesetzt.
Die Regeln werden viele an den hierzulande beliebten Stocksport erinnern, der so wie Pétanque zu den Präzisionssportarten gezählt wird. Es geht darum, seine Kugeln so nahe wie möglich an der Zielkugel, dem sogenannten Cochonnet (Schweinchen), zu platzieren. Man spielt eins gegen eins (Tête-à-Tête) oder in Teams zu zweit (Doublette) oder zu dritt (Triplette). Für jede Kugel, die ein Team näher ans Cochonnet bringt als das gegnerische, gibt es einen Punkt. Mit 13 hat man gewonnen.

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