Das GuguhDichter Innenteil

Sie war wirklich wie eine Kerze gestanden, honigfarben – bis auf die kaum merkbare Andeutung eines Badeanzugs – auf dem Untersatz ihrer blonden Haare. Die rosigen Zehenspitzen züngelten in den Sommerhimmel.

Grafik: Karl Berger

Eine Ewigkeit war sie so gestanden, nicht nur die Kinder hatten sie bewundert. Freilich, die am meisten. Tagelang, auch nachdem sie schon verschwunden war – eine Turnstudentin, sagte man –, ohne auch nur einen einzigen Erben ihrer Kunstfertigkeit zu hinterlassen, strampelten kleine Füße durch die Luft, und Zurufe und Ratschläge füllten den sonst stillen Strand in dieser abgelegenen Bucht.

    Aber nicht einmal Toni, der im Anlauf das Kabinendach nehmen und auf dem First wie ein Seiltänzer balancieren konnte, brachte mehr als einen lächerlich kurzen Kopfstand zusammen. Was hingegen Fritzis vierjährige Schwester, Jenni, aufführte, war nur zum Lachen. Sie bohrte einfach ihren Kopf in das Badetuch und wackelte mit dem Hinterteil.

    Fritzi lehnte sich fest an die heiße Kabinenwand. Bald würde seine blaue Gänsehaut wieder braun werden, und er würde nicht mehr mit den Zähnen scheppern müssen. Er war wieder zu lang im Wasser geblieben, aber er war ein guter Schwimmer, und es freute ihn. Im Wasser konnte der arme Fuß auch herumplantschen, so viel er wollte, und es fiel überhaupt nicht auf.

    Fritzi sagte immer der «arme» Fuß und nie der «schlechte» oder der «kranke» oder der «steife», wie die Leute meistens, und manchmal sogar die Mutter. Der Arme musste immer ein wenig geschont werden, aber einfach nichts zu tun kam auch nicht in Frage für ihn. Fritzi war gerecht zu seinen ungleichen Füßen. Auch jetzt, während er an der Holzwand lehnte und sich aufwärmte, stand er auf dem armen, der komischerweise beim Gehen die ganze Last tragen musste, sich ausruhen und in der Luft baumeln durfte.

    Die Studentin mit ihrem Auftritt hatte ihm nicht weniger imponiert als den anderen Kindern. Er hatte ihr nur aufmerksamer zugeschaut. Das konnte er nämlich. Seine Augen waren ausgezeichnet, alle beide, das sagte ihm auch sein Spiegelbild, und heimlich, bei sich, nannte er sich gerne Habichtsauge. Wenn er nicht schwamm oder an der Kabinentür lehnte, lag er meistens auf der Pritsche und beobachtete, was rund um ihn vor sich ging. Deshalb merkte er auch bald, was alle Kinder falsch machten. Sie nahmen zu wenig Schwung für die Kerze. Da, schon wieder kippte Toni zur Seite. War ja zu erwarten gewesen. «So trau dich doch!», rief Fritzi ihm zu. Er konnte sich nicht mehr wie sonst zurückhalten.

    Toni, der sich den Sand aus den Nasenlöchern bohrte, die schon ganz wundgerieben waren, schnappte bissig zurück: «Trau dich selber!» Fritzi machte mit dem gesunden Fuß einen langen Schritt von der Kabine weg und zog den anderen nach. Er blieb auf ihm stehen, wie einbeinig, hob die Arme über den Kopf, wie er es bei der Studentin gesehen hatte, schwenkte das gesunde Bein ein paarmal kräftig vor und zurück, um genug Schwung zu holen, und schnellte vom Boden ab. Er spürte, wie seine Hände in den Sand fuhren und die Füße in der Luft hingen. Das Blut rauschte in seinem Kopf. Jetzt war er ganz sicher. Es war gelungen. Er stand wie eine Kerze. Dann stürzte er. Aber das musste ja letztlich kommen und machte nichts mehr.

    Als er das Bewußtsein wiedererlangte, war freilich seine Überraschung groß. Na so was! Er war im Spital. Vorsichtig schaute er unter die Decke, die am Bettende merkwürdig hoch lag. Der arme Fuß war frisch eingegipst und mit einem Gewicht beschwert. Verweint saß die Mutter neben ihm. «Bleib schön ruhig! Du hast vielleicht auch eine Gehirnerschütterung. Man weiß es nicht so genau. Oh, so ein Unglück!»

    Ihm kam es nicht so vor. Die irrsinnige Freude, dass ihm die Kerze gelungen war, stellte sich gleich mit dem Erwachen wieder ein. Was war dagegen ein gebrochener Fuß oder ein wenig Kopfweh? Er rechnete sich gleich aus, dass er auf diese Art längere Sommerferien haben könnte. Auf alle Fälle würden die Lehrer Nachsicht üben. Und das war vielleicht kein Vorteil?

    «Wirst sehen», tröstete er seine Mutter. «Jetzt wird der Fuß kürzer. Das hat einmal ein Doktor gesagt. Wirklich! Dann hab ich wieder zwei gleiche Füße wie früher einmal.»

    

Schulstreiche

Er war vergnügt, auch in den folgenden Tagen und unterhielt die Erwachsenen, die alle älter waren als er, mit dem Erzählen von Schulstreichen, zuerst eigenen, bald aber solchen, die er nur gelesen hatte. Sie merkten keinen Unterschied, waren ihm dankbar und taten ihm alles zuliebe. Selbstverständlich fragten sie ihn wie alle Erwachsenen, was er werden wollte, und er sagte «Lehrer». Er wußte schon, das hörten sie gern. Als er noch «Pilot» geantwortet hatte, war ihnen das gar nicht recht gewesen. Gesagt hatten sie nichts, aber sie dachten, dessen war er sich jetzt ziemlich sicher: Je schneller ein Fahrzeug fährt, desto schneller muss der Fahrer laufen können. Ein Pilot also schneller als ein Chauffeur. Kaum zu glauben, eine solche Dummheit! Dabei gab es sogar Piloten ohne Beine. Er hatte von einem gelesen; und ein Lokführer zum Beispiel steht gar nicht. Er sitzt. Hingegen für den Piloten ist das Wichtigste der Kopf. Deshalb ist Fritzi in Physik der Beste. Einen Zweier hat er nur, weil dieser Professor keine Einser gibt. Alles weiß nämlich nur er, sagt er.

    So einen Professor zu haben ist ein Pech. Die Menschen aber, auch schon die Kinder, brauchen wenig Glück im Leben. Das wird ihnen vom Schicksal oder von Gott zuteil. Vom «lieben» Gott, wie es bei den Leuten heißt.

    Fritzi selber hatte nur als kleines Kind so gesagt. Und Gott hatte sogar damals nie geantwortet: «lieber Fritzi». Oder hatte er vielleicht so getan, als ob er sein lieber Fritzi wäre? Schnecken! Dem waren auch gesunde Kinder lieber, weil er doch selber gesund war. Fritzi hatte in Büchern und Kirchen extra darauf geachtet. Da war kein einziger lieber Gott mit einem Buckel, einem Kropf oder einem verkrüppelten Fuß. Sogar der Gekreuzigte, natürlich, der verzog das Gesicht, weil er Schmerzen hatte, wollte er ja haben, war ja auch anständig von ihm, aber sein Körper war ganz gerade gewachsen, die Arme, die Beine, alles, wie es sich normalerweise gehört.

    Soll einmal einer versuchen, in Zeichnen oder in Religion, den lieben Herrgott auf seiner Wolke mit einer Glatze zu malen. Das gäbe ein Theater, garantiert! Nein, von Gott durfte Fritzi sich nichts erhoffen. Besser, sich selber anstrengen. Das hatte sich auch jetzt mit dem Handstand bewiesen. Genau wie der Turnstudentin war er ihm gelungen. Er lachte so hell auf, dass die Alten erschreckt die Köpfe von den Pölstern hoben. Aber sie freuten sich trotzdem mit ihm, mit dem armen Kerl.

Inseltraum

    Für die frühen Nachtstunden, wenn Schnarchen und Stöhnen regelmäßiger wechselten und nur noch der Alarmknopf leuchtete wie ein einsames Schlusslicht, hatte er sich den Inseltraum aufgehoben. Von der Insel konnte er immer träumen, wenn er wollte. Fuhr ihn ein Lehrer deswegen an: «Träumst du?», sagte er natürlich Nein. Es war seine Insel, und er wollte nicht, dass irgendjemand von ihr wusste. Es war auf der Insel ein kleiner, warmer See, mit Wiesen und Bäumen rundherum, und an den Bäumen Coca-Cola-Flaschen und zwischen den Blumen Eisstanitzel mit Schlagobers.

    Aber nicht, dass es auch ein Schlaraffenland sein konnte, war das Wichtigste, das war eine Kinderei. Das Wichtigste war, dass dort nur Tiere waren, viele Tiere, die sonst nicht an einem Ort zusammenleben, also Füchse und Hähne oder Katzen und Mäuse. Auf der Insel aber kamen sie alle gut miteinander aus, trotz ihrer Verschiedenheit. Manche konnten sehr schnell laufen, andere nur langsam kriechen; sie sprangen, watschelten, stolzierten, hüpften, flogen oder flatterten, wie es jedem passte, und je nachdem wie es geboren war, und keines lachte das andere aus oder bedauerte es, was ja eigentlich dasselbe ist.

    Auch er konnte dort springen. Das konnte er nämlich wirklich. Er brauchte nur den armen Fuß fest aufzusetzen – das ging, weil er keine Schmerzen hatte – und sich mit dem anderen abstoßen, dann kam er ein großes Stück vorwärts, ähnlich wie ein Stabhochspringer oder wie das Känguru. Er hatte das einmal im Park probiert, auf einem breiten, glatt asphaltierten Weg, und ohnedies gewartet, bis sich keine Spaziergänger mehr sehen ließen. Er hatte sich auch gleich gedacht, dass es der Mutter nicht recht sein würde, und sie war ihm wirklich nachgelaufen. Ein herrliches Gefühl war das gewesen, dass sie ihm nachlaufen hatte müssen, so weit und so schnell war er gehüpft. Aber sie hatte gebettelt: «Mach das nie wieder, hörst du! Das schaut schrecklich aus. So auffallen willst du doch selber nicht. Du musst immer schön langsam gehen, dann merkt man es am wenigsten.»

    Sie hatte ihn bei der Hand genommen, wie ein Kindergartenkind. Das hatte sie sich lange nicht abgewöhnen können, bis er grob geworden war. Auf der Insel konnte er sich fortbewegen, wie er wollte. Die Tiere schauten nicht einmal auf, wenn er an ihnen vorbeischnellte. Kein Vierbeiner wunderte sich über einen Zweibeiner, kein Schmetterling über eine Ente. Tiere sind gescheit.

    Früher, vor seinem jetzigen Spitalsaufenthalt, wenn das Verlangen nach der Insel besonders stark und die Möglichkeit, sie zu erreichen, aussichtslos gewesen war, hatte er Tiere gezeichnet: in ein Mathe-Heft, auf den Atlas, die Bank, ja in die eigenen Handflächen. «Wenn er eine Begabung dafür hätte», hörte er einmal den Vater zur Mutter sagen. «Es wär doch etwas! Technischer Zeichner! Gar nicht schlecht bezahlt!»

Weißes Taschentuch

    Nach einer Woche durfte Toni kommen. Fritzi erwartete ihn und schickte ihm gleich ein Lächeln entgegen. Toni mit glattgekämmtem Haar schaute ungewohnt und unglücklich aus. Ein zusammengefaltetes, weißes Taschentuch wölbte seine Brusttasche. Am lächerlichsten war, dass er Blumen brachte, ein Bub einem Buben. Nur gut, dass die Mutter gleich mit ihnen hinausging, wahrscheinlich, um sie einzuwässern und den Schwestern zu schenken.

    «Geht’s dir schon besser?», fragte Toni bedrückt. Er strahlte, als Fritzi bejahte und zeigte, wie er sich an dem Galgen über seinem Kopf aufziehen und sogar schaukeln konnte.

    «Weißt du», sagte Toni, den Löffel zwischen den beschmierten Lippen, «meine Eltern haben fürchterlich geschimpft mit mir.»

    «Warum denn?», erkundigte Fritzi sich teilnahmsvoll.

    «Ich hab ihnen erzählt, dass ich gerufen hab, du sollst dich trauen.»

    «Na und?» sagte Fritzi ein wenig schnippisch. «Ich hätte mich auch so getraut. Es hat mich einfach gefreut.»

    «Hm», Toni mampfte. «Gefreut! Mit so einem Fuß, wie du hast, kann man aber die Kerze nicht machen. Das hätt‘ ich wissen müssen, sagen meine Eltern, weil ich in den Turnverein geh.» Er kratzte die letzten Reste aus dem Schüsserl. «Und man hat’s ja gesehen, dass es nicht gegangen ist. Es hat dich ja hingeschmissen wie ein Brett. Bist gar nicht in die Höh‘ gekommen. Aber das weißt du ja selber.»

    Er suchte dem leeren Schüsserl einen Abstellplatz auf dem überfüllten Nachtkästchen, und als er sich wieder zum Bett umdrehte, war da kein Fritzi mehr. Nur die Bettdecke, unter der sich nichts bewegte. Toni schaute vorsichtshalber auch unter das Bett, bevor er an der Decke zog und rief: «Was machst denn? Lass los!» Aber Fritzi ließ nicht los, auch nicht als seine Mutter dem Toni half. Den schob übrigens eine Schwester aus dem Saal. Er war ganz verstört. Musste sein Taschentuch benutzen. Was hatte er diesmal wieder falsch gemacht?

    Fritzi aber unter seiner Decke weinte heiße Tränen. Es war ihm also nicht gelungen. Er hatte sich umsonst gefreut. Sein Wille hatte nichts genützt, würde nie etwas nützen. Jenni würde es bald besser können als er. Ja! Nur er würde es nie besser können. Er war ein armer Kerl, ein Krüppel. Warum können die anderen laufen, und er kann nicht einmal ordentlich gehen, nicht einmal so ordentlich wie die ganz alten Leute im Saal? Alle müssen mit ihm Mitleid haben. Auch er hat mit sich Mitleid, und deshalb weint er und jammert und schreit, immer lauter. Jammern und schreien ist wunderbar, das hat er damals schon ausprobiert. Man schreit sich selber in die Ohren, bis man nichts mehr hört. Bis man betäubt ist. Man darf nur die Decke nicht loslassen, wenn es auch noch so heiß und feucht und finster ist. Im Flugzeug ist es bestimmt auch heiß, und vielleicht schreit und brüllt auch der Pilot, wenn er allein ist, damit er sich nicht fürchtet. So hoch oben hört ihn ja niemand. Auch ihn hört niemand. Nur die Decke nicht loslassen!

    Die Patienten im Saal gerieten außer sich. Die konnten, verließen sogar ihre Liegestätten. Auch die Schwestern liefen zusammen und schließlich die Ärzte. Die Besuchszeit wurde abgebrochen. Alle standen um das Bett herum, aber niemand wollte dem Buben die Decke mit Gewalt entreißen. Auch herausheben konnte man ihn nicht, weil ihm ja das Gewicht am Fuß hing. Schließlich erwischte ihn eine energische ältere Schwester am gesunden Bein, er bekam eine Injektion und wurde endlich still.

    Als seine Hände die Decke freigaben, schlief er zwar, aber in Schweiß gebadet und mit hohem Fieber.

    Ein paar Tage später verstieß einer der jungen Ärzte wieder einmal gegen das Verbot, das er sich vernünftigerweise auferlegt hatte. Er erwähnte am Familientisch seine Berufssorgen.

    «Dieser Bub», sagte er zu seiner Frau, «weißt du, ein ganz gewöhnlicher Bruch, eigentlich, und die Gehirnerschütterung war minimal, ich hab ihn mir genau angeschaut. Und dann auf einmal dieses Fieber! Wir haben es nicht mehr heruntergebracht.»

    «Ist er …?», fragte die junge Frau vorsichtig, denn die kleine Irma saß mit am Tisch.

    «Ja», sagte der junge Doktor, der noch nicht wusste, dass er einmal ein großer Kinderarzt werden sollte. «Er war ein so tapferer Bursche. Aber da muss etwas gewesen sein, was ich nicht aus ihm herausbekommen habe.»

    «Hast du mit ihm geredet?»

    «Freilich. Aber zum Schluss hat er nichts mehr hören wollen. Und er hat auch nichts mehr gehört. Nur geredet hat er merkwürdigerweise bis zuletzt. Immer von einer Insel und von Tieren.»

    «Von was für Tieren, Papi?» fragte die Kleine aufmerksam. «War auch ein Guguh auf der Insel?» – das R macht ihr immer noch Schwierigkeiten.

    «Sie meint Känguruh», erklärte die Mutter. «Sie waren heute Vormittag mit dem Kindergarten in Schönbrunn.»

    Der junge Doktor erinnerte sich, dass er als Vater ebenso Pflichten hatte wie als Arzt. «Aber selbstverständlich», sagte er lächelnd, wenn auch noch ein wenig zerstreut. «Warum denn nicht? Auch ein Guguh war auf der Insel.»

*Anm.: «Das Guguh» wurde erstmals am 10. 7. 1981 in der Wochenendbeilage der Volksstimme veröffentlicht. Dank an Georg Tidl für die Überlassung des Texts und Nadine Kegele für die Transkription.