Musikarbeiter unterwegs … und ewig küsst der Musenfrosch
18 Jahre nach seinem Studioalbum «6» veröffentlicht Boris Bukowski neue Musik. Wer nun «Alterswerk» denkt, ist selber schuld! Von Rainer Krispel (Text) und Mario Lang (Foto).
Vor dem runden Geburtstag um die Häuser ziehen, sich öfter wieder woanders befinden, sich bewegen. Die Musik ist schon dort! In der Arena spielen Slime, linke Hamburger Punk-Titanen, seltsam aus der Zeit gefallen, wie jene Bierbecher aus ihren eigentlichen Nutzungen, die manche der meist jungen, um Aufregung bemühten Menschen – mit Bier! – auf die Bühne werfen, auf die Musiker_innen, ins Publikum. Lernt Geschichte, you crazy Punx, wir schießen nicht auf Genoss_innen! Ein Lied aus dem Jahr 1982, das 15-jährige Selbst im Chor: «Wir leben in einem Alptraum, oohohoh, das Erwachen wird der Selbstmord sein, nur der Tod reibt sich die Hände, oohohoh, denn nur er alleine wird der Sieger sein.» Erkenntnisblitz – von je her ein Hoffnungslied. Seine Kraft, das Gitarrensolo, das «Oohohoh», jede Phrasierung von Dirk «Dicken» Jora schneiden durch den Text, drehen ihn um. Es geht um ein anderes Erwachen. Damals. Heute. Wir grüßen mit geballter linker Faust, lassen das durchgestrichene Hakenkreuz beim Merch-Stand liegen, auf ins EKH. Die Frau war unlängst hier, beim zehnjährigen Jubiläumskonzert der MusikarbeiterInnenkapelle. Schön war das, hat sie erzählt. Schön ist es auch heute. Schapka fangen zu spielen an, als wir gerade den vollen großen Saal betreten. Diese vier Frauen haben eine andere Energie als die vier Männer und die Bassistin von Slime vorher, ansteckend, mehr Lachen als Schreien. Viel später fällt mein Blick auf den CD-Stapel beim Bett, ganz oben das neue Album von Boris Bukowski: «Gibt’s ein Leben vor dem Tod?» Ja!
Kopierfehler der Evolution.
«Das größte Privileg ist wahrscheinlich, dass ich mein ganzes Leben lang Musiker sein durfte, was ich am liebsten mache», sagt Boris Bukowski. Der im Februar 1946 in der Steiermark geborene Musiker (und studierte Jurist) lebt, nach 20 Jahren in Graz, seit langem in Wien – «Ich liebe diese Stadt.» Seinen 70er feierte er mit einem Tandemsprung aus dem Flugzeug. Dabei bitte sich Boris Bukowski nicht als ewigjugendlichen wilden Hund vorstellen. Seine 2013 erschienene, anekdotische Autobiographie heißt «Unter bunten Hunden». Ein Buch, zu dem ich beitragen durfte, im Zuge der Arbeit daran lernte ich ihn als angenehmen und einnehmenden Menschen kennen, der nicht in der Vergangenheit seiner Poperfolge lebt. «Gibt’s ein Leben vor dem Tod?» und seine 13 Lieder reklamieren keine verkrampfte Zeitgenossenschaft für sich, von Opener «Money» bis zum abschließenden «Kunst ist Leben», nach einem Zitat von Joseph Beuys, hören wir spannende Musik, die etwas zu sagen hat, vielfältig, Bukowski-Style, vokalisiert. Da sind nicht nur kritische, pointierte Blicke auf diverse gesellschaftliche Wahnsinnigkeiten («Wir leben auf der Aschenbahn», «Nur ein Kopierfehler in der Evolution»). Mit Ernst Molden als Gast äußert der ausgesprochene Diesseits-Befürworter Religionskritik («Im Namen Gottes Amen»), und weder Liebe («Die schönste Sünde», «Mein Herz schlägt immer noch nach dir») noch der Humor («Hör!», mit der Textzeile: «Hör nicht auf, den Frosch zu küssen») kommen zu kurz. «Kokain», ein Bukowski-Standard, erlebt ein gekonntes Update, das Album strotzt vor – weiter entwickelten – Qualitäten, die etwa «Trag meine Liebe wie einen Mantel» 1989 zum großen Hit machten. «Ich habe alte Freunde, die reden immer noch davon, was vor 40 Jahren war. Ich habe mich damals dafür interessiert, was damals passierte, heute interessiere ich mich dafür, was heute geschieht.»
Kunst ist Leben.
Die Stimme, Texte und Lieder Boris Bukowskis formen das auf eigenem Label veröffentlichte Album zu einem stimmigen Ganzen, lassen die Beiträge vieler Musiker_innen und Produzenten (u. a. Wolfgang Schlögl und Depeche-Mode-Drummer Christian Eigner) selbst scheinen und dem Charakter der Musik zuarbeiten. Bukowski, der sich erste Einträge in die heimische Rockgeschichte in den 1970ern als Drummer von Magic 69 erspielte, schafft dabei eine (meist) rhythmisch definierte, reich und voll klingende (laut spielen!) heutige Popmusik. Die jahrzehntelange Erfahrung verklärt oder trübt nicht die künstlerische Vision, sie schärft sie. Wenn Boris Bukowski dem ewig polarisierenden Thema Geld bei der Nummer «Money» mit dem Refrain «Still money makes a rainy day sunny» begegnet, dann kann er das, weil er um weniger glückliche oder privilegierte Leben weiß (die Historie des ehemaligen Tonstudiobetreibers kennt ihre Ebben). In einer Welt, in der niemand «seine Mindestbedürfnisse jeden Tag neu erkämpfen muss», würden er und seine Musik sich noch wohler fühlen. «Die Kunst, sich selber zu verreißen/wenn’s sein muss, sich in den Arsch zu beißen/Spuren hinterlassen statt zu erben/alt zu werden und dabei jung zu sterben» – «Kunst ist Leben».