Das Haus im Sperrgebietvorstadt

Zypern, die vorerst letzte Station der 100-jährigen Autorin Elsie Slonim

Elsie Slonim lebt als einzige Zivilistin in einer türkischen Militärsperrzone auf Zypern. Ihr Buch «Meine ersten 100 Jahre» ist nicht nur der Bericht einer Zeitzeugin, sondern auch ein Reisebericht der ungewöhnlichen Art. Chris Haderer (Text und Fotos) besuchte die Autorin.

Eine geteilte Stadt, ein Haus im Sperrgebiet und eine Frau, die 100 Jahre Zeitgeschehen im Gedächtnis hat. Das ist die Geschichte von Elsie Slonim, die an einem der ungewöhnlichsten Orte der Welt zu Hause ist: Sie bewohnt ein Haus in der türkischen Militärsperrzone auf Zypern, am Rand der geteilten Stadt Nikosia. Als einzige Zivilistin darf sie im ehemaligen Villenviertel der Hauptstadt leben – in einem Haus, das sie vor mehr als einem halben Jahrhundert mit ihrem Mann David selbst dort gebaut hat. Das ist eine der vielen wahren Geschichten, die Elsie Slonim in ihrem Buch «Meine ersten 100 Jahre» erzählt. Es ist das Protokoll einer langen Reise, die am 21. November 1917 in Brooklyn beginnt und Elsie Slonim zuerst nach Baden bei Wien führt, dann nach Ungarn und Rumänien, mehrmals nach Amerika zurück; nach Israel, nach Palästina und letztlich nach Zypern. Immer wieder haben sie und ihre Familie alles verloren – und immer wieder neu aufgebaut. Als Zeitzeugin hat Elsie Slonim die Auswirkungen des Ersten und den Zweiten Weltkrieg miterlebt, den Nationalsozialismus, die türkische Invasion auf Zypern und mehr als eine Wirtschaftskrise. Seit dem Tod ihres Mannes David im Jahr 2007 lebt sie mit ihrem Dackel «Schatzi» alleine im türkischen Militärsperrgebiet, ohne Garantien und Sicherheiten: eine Jüdin mit amerikanischer Staatsbürgerschaft und österreichischen Wurzeln, in der militärischen Sperrzone in einem von der Türkei besetzten Gebiet auf einer zur Europäischen Union gehörenden Insel. Haben Sie noch weitere Fragen?

Eine grüne Narbe

Wir landen am frühen Nachmittag in Larnaka, im Süden der Insel und sehen aus der Luft die verschneite, fast 2000 Meter hohe Bergspitze des Olympos. Die «Green Line», eine Narbe, die sich quer über die Insel zieht und die 1983 ausgerufene Türkische Republik Nordzypern von der Republik Zypern im Süden trennt, sieht man aus der Luft nicht. Es ist eine Sperrzone unter UN-Kontrolle, die die Hauptstadt Nikosia zur letzten geteilten Stadt in Europa macht. Die Republik Zypern ist seit dem Jahr 2004 Mitglied der Europäischen Union – was völkerrechtlich die gesamte Insel betrifft. Da die Türkische Republik Nordzypern international nicht anerkannt wird, handelt es sich bei ihr genau genommen um besetztes Gebiet. Allerdings wird die Staatskeule auf Zypern nicht so wuchtig geschwungen wie in Ankara oder Istanbul – obwohl das türkische Festland nur 68 Kilometer Wasser entfernt ist. An klaren Tagen kann man fast hinüberschauen, genauso wie auf die etwas weniger als 100 Kilometer entfernte Westküste von Syrien. Hier ist die EU zu Ende.

Zypern ist ein bisschen kleiner als Kärnten, aber etwa doppelt so dicht besiedelt. Im Durchschnitt teilen sich 121 Menschen einen Quadratkilometer – und offenbar gibt es mehr Olivenbäume als Bauern und Bäuerinnen, denn die Felder auf dem Weg von Larnaka zu Elsie Slonim sind so gut wie menschenleer. Kurz vor Nikosia tauchen die ersten Stacheldrahtzäune auf und markieren die Sperrzone, die Okzident und Orient voneinander trennt. Auf der linken Seite ist die Venezianische Mauer, sanft umhüllt von Stacheldraht, rechts eine Einkaufsstraße. Ein UN-Beobachtungsturm schaut zwischen den Orangenbäumen hervor. Dann eine Seitengasse, die von verbeulten Öltonnen verstellt ist, darüber wieder Stacheldraht. Dahinter eine verfallene Häuserzeile, dann wieder eine Sperre. Das ist die UN-Pufferzone, ein für Menschen gesperrter Teil von Nikosia, der seit über 40 Jahren verfällt, in dem niemand leben darf, der brachliegt. Eine Wunde, die nicht verheilt.

Eine etwas unauffälligere Wunde ist die türkische Militärsperrzone in Nikosia, in der Elsie Slonim lebt. Das Areal wird nicht von UN-Friedenstruppen kontrolliert, sondern ist ein «echtes» Sperrgebiet im türkisch besetzten Teil der Insel. Elsie Slonim hat uns, dem Verleger Alfred Woschitz und mir, eine Genehmigung besorgt, mit der wir einige Tage in ihrem Haus verbringen dürfen. Ein großes, einstöckiges Gebäude, umgeben von einem schönen Garten und von großen Bäumen. Das Innere ist ein bisschen wie ein Museum: alte Bücher (wie Originalausgaben von Franz Werfel), silberne Jugendstil-Bestecke, Schätze aus einer Zeit, die hier offensichtlich noch nicht zu Ende ist. Gelegentlich hört man einen Trupp Soldaten vorüberlaufen oder sieht einen Müllwagen mit Militäremblem. Dass es sich um ein Sperrgebiet handelt, bemerkt man bestenfalls dann, wenn man auf dem Flachdach des Hauses steht und sich umschaut. Es ist ein Ort, an dem man nachts die Tür nicht abschließen muss – man schläft in der Obhut von gut bewaffneten Soldaten ein.

Ein Exemplar von Elsies Buch

Die Posten am Checkpoint sind jung und freundlich. Es sind zypriotische Türken, die hier ihren Militärdienst ableisten. Wenn wir ins Sperrgebiet hineingehen, müssen sie uns die Pässe abnehmen, beim Verlassen bekommen wir sie wieder. Nach ein paar Tagen kennen sie uns schon und winken uns. Sie plaudern gerne: «Wo wir herkommen, wie es Elsie geht, warum wir sie besuchen, ob sie später ein Exemplar von Elsies Buch bekommen können …» Der Weg von Elsies Haus zum Checkpoint ist kurz, vielleicht zehn Minuten. Man hat den Eindruck, durch einen Park zu wandern, nicht durch ein Sperrgebiet. Wir gehen über eine asphaltierte Straße, links und rechts sind Bäume und Sträucher, dazwischen verfallene Häuser und Villen. Am Gelände ist der Wind in den Bäumen das lauteste Geräusch, abgesehen von den Polizeisirenen, die aus Nikosia herüberwehen. Und Vogelgezwitscher. Was vor 1974 Symbole für Status und Wohlstand waren, zerfällt jetzt zu Staub und Stein. Die blind in die wogenden Blätter starrenden Häuser, die zum Teil von Einschusslöchern übersät sind, erzählen die Geschichte eines Ereignisses, das Zypern bis heute geprägt hat. «Zypern ist eine geteilte Insel, sowohl im Bewusstsein der Menschen als auch physisch», sagt Mustafa Ersenal, ein Filmemacher aus dem Norden, der zu Elsies Freundeskreis gehört. «Da ich auf Zypern lebe, erlebe ich diese Teilung jeden Tag. Natürlich habe ich die Hoffnung, dass diese Insel irgendwann einmal vereint sein wird – aber ich will zuvor keinen weiteren Krieg erleben. Auf Zypern tragen wir noch die Narben der Invasion von 1974 – und diese Narben heilen nur sehr langsam.»

Geschichte ist neben Kunst ein dominantes Thema auf Zypern: Kunst, weil die im Südwesten der Insel gelegene Stadt Paphos zu einer der beiden Kulturhauptstädte Europas gewählt wurde – und Geschichte, weil man ihr auf der Insel überall begegnet. Die Syrer waren da, die Griechen und Römer, Kaufleute und Patrizier aus Genua und Venedig haben ihre Insignien hinterlassen. Auf die osmanische Herrschaft folgte die britische; 1960 dann die Unabhängigkeit. Konfrontationen zwischen den Volksgruppen der Insel standen weiterhin auf der Tagesordnung, bis es 1974 zum Sturz von Präsident Makarios durch die von der griechischen Junta unterstützte Nationalgarde kam. Die Putschisten wollten den Anschluss an Griechenland, worauf die Türkei den Norden der Insel besetzte.

Sie dürfen bleiben

An einem Sommermorgen, diesem Sommermorgen, stand Elsie Slonim in ihrem Rosengarten und sah einen Himmel, der «voll war von seltsamen Dingen, die wie Schwämme aussahen und die langsam zu Boden schwebten». Während sie noch schaute, begannen Sirenen zu heulen. Es war der 20. Juli 1974. «Operation Atilla» hatte begonnen, und damit die Landung türkischer Truppen auf Zypern. Die nächsten Tage und Wochen verbrachten Elsie und David im Luftschutzkeller unter dem Haus. «Als Israeli hat David beim Bau unseres Hauses auf einen Bunker bestanden», erinnert sich Elsie. «Wir haben griechisches Radio gehört. Dort wurde gesagt, dass die Männer von den Türken erschossen werden, sobald sie die Tür öffnen, und die Frauen vergewaltigt.» Während sie sich noch stritten, wer die Tür aufmacht, wurden die zerschossenen Reste bereits eingetreten. Ein türkischer Soldat und ein Zivilist betraten das Haus. «Herr Slonim, Sie wohnen hier?», fragte der Zivilist überrascht als er David sah und gab dem Soldaten ein Zeichen mit der Hand. David wurde nicht getötet, Elsie nicht vergewaltigt. «Mein Vater hat auf ihrer Plantage gearbeitet», sagte der Zivilist, der sich als zypriotischer Postenkommandant vorstellte. «Nach einem Traktorunfall haben Sie ihm das Leben gerettet und unserer Familie zu essen gegeben.» Und zu den Soldaten sagte er: «Das sind gute Menschen. Sie müssen nicht gehen. Sie dürfen bleiben.» Alle anderen Bewohner_innen mussten ihre Häuser umgehend verlassen. Praktisch über Nacht wurde das Villenviertel zur türkischen Militärsperrzone und Nikosia zu einer bis heute geteilten Stadt. «Ich erlaube mir selbst nicht, viel darüber nachzudenken», sagt Elsie über ihre Wohnsituation. «Sonst würde ich sicher schwermütig werden. Dass ich hierbleiben darf, ist eigentlich wie touch and go: Wenn die Türken sagen, dass ich hier weggehen muss, dann muss ich weggehen. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass so etwas geschehen wird, denn ich versuche mit ihnen im Guten zu sein. Es ist eine pekuniäre Situation, über die ich nicht viel nachdenken will, sonst könnte ich nächtelang nicht schlafen.»

Bislang noch keine Lösung

Elsie Slonim hat viele Freunde, auf der Welt und auf Zypern. Viele Wege werden ihr von Tijen Erol Yakup abgenommen, einer Fotografin aus Nordzypern, die gerade an ihrem Fotoprojekt «Inside the Wall» arbeitet (eine Ausstellung in Österreich fand im Mai in Kärnten statt, eine weitere ist für den Herbst in Wien geplant). In Elsies Garten erzählt sie, dass sie mit der Teilung zu leben gelernt hat, die Mauer aber nicht als Teil ihres Lebens akzeptieren will. Seit annähernd zehn Jahren laufen Gespräche zwischen den Anführern der griechischsprachigen und türkischsprachigen Volksgruppen – wobei Nicos Anastasiadis und Mustafa Akıncı bislang noch keine Lösung gefunden haben. «Ich habe viele Freunde auf der griechischen Seite, und ich kann jederzeit über einen Checkpoint gehen und sie treffen. Ich kann auch jederzeit zu Elsie in die Sperrzone, beispielsweise um Einkäufe zu machen. Das ist kein Problem», sagt Tijen. «Wir ignorieren die Mauer und machen mit unserem Leben weiter. Aber du spürst, dass da eine Mauer ist. Immer wenn du die Seite wechselst, musst du am Checkpoint deinen Pass vorweisen, und du spürst die Mauer. Ich wünsche mir, dass sie endlich verschwindet.» In Nikosia stehen sich Okzident und Orient auf Augenhöhe gegenüber, wie sonst wahrscheinlich nirgends mehr in der Türkei. Während am Festland westliche Ansichten zu Feindbildern aufgebaut werden, begegnen sich auf Zypern die Volksgruppen, passieren ständig die Checkpoints, treffen sich in Lokalen auf beiden Seiten der Demarkationslinie. «Unite Cypres Now» steht an viele Hauswände gemalt, und «Demilitarize Cypres».

Drei Mal geheiratet

David, ihren zweiten Mann, hat Elsie Slonim genau genommen «gleich drei Mal geheiratet», erzählt sie eine Geschichte, bei der ihre Stimme am Ende etwas brüchig wird – weil die Geschichte ihrer Ehe den größten Teil ihrer Lebensreise ausgemacht und sie letztlich nach Zypern geführt hat. Sie sah David zum ersten Mal, als sie 1938 mit ihrer Schwester von Ungarn über Wien nach Le Havre fuhr, um Europa zu verlassen. Die Zustände in Österreich waren unerträglich geworden, selbst für eine Jüdin mit US-Pass: «Ich dachte, ich sei Österreicherin, ich trug doch ein Dirndl», erinnert sich Elsie an ihre Schulzeit in Baden. Anfeindungen durch die nationalsozialistischen Fahnenschwinger waren an der Tagesordnung. Die Überfahrt nach Amerika an Bord der legendären Queen Mary (die heute als schwimmendes Hotel in Long Beach vor Anker liegt) verbrachten Elsie und David händchenhaltend in Liegestühlen am Sonnendeck. Nach der Ankunft in God’s Own Country trennten sich ihre Wege: Er musste nach Kalifornien, sie zu Verwandten nach Chicago. Er wollte ihre Adresse, sie glaubte nicht, dass er sich jemals wieder melden würde und gab ihm eine falsche. Nach zwei Monaten bekam sie einen Brief: David hatte ihre Anschrift über die Polizei herausgefunden und wollte sie besuchen. Er erzählte ihr, dass ein Krieg kommen würde, und wollte mit Elsie nach Zypern gehen. Das war im Jahr 1938. Sie heirateten zuerst standesamtlich und dann, als Elsie bereits schwanger war, ein zweites Mal im Tempel. An einem Tag im Jahr 2007 kam Elsie auf die Terrasse ihres Hauses auf Zypern, wo David in seinem Bett lag. Er war 104 Jahre alt, schwer krank und pflegebedürftig. Er sprach fast nie und hatte die Augen meistens geschlossen. An diesem Tag aber sah er Elsie an und sagte: «Ich weiß nicht, wer du bist. Aber ich höre deine Schritte und deine Stimme und ich liebe dich. Willst du mich heiraten?» Zum dritten Mal gab sie ihm das Ja-Wort und ging näher an das Bett heran, um ihm in die Augen zu sehen. Als sie bei ihm war, hatte David seine Augen wieder geschlossen. Für immer.

Ablaufdatum unbekannt

Zypern bleibt nicht als Urlaubsinsel am Ende der Europäischen Union in Erinnerung – vielleicht auch weil die Geschichte noch nicht abgeschlossen ist. Dass in Europa wieder Grenzzäune hochgezogen werden, kommt mir, mitten in einem Sperrgebiet stehend, noch beschämender vor, als es ohnehin ist. Auf Zypern gehen die Verhandlungen über eine Wiedervereinigung der Insel weiter – und Elsie Slonim fragt sich schon, wer die Fortsetzung ihres Lebensbuches «Meine ersten 100 Jahre» lektorieren wird. Als sie an Bord der Queen Mary ging, war die Welt, die wir heute erleben, noch nicht einmal als Schatten vorhanden. Ich nehme an, dass es 100 Jahre in der Zukunft so ähnlich sein wird: Wir wissen nicht, was uns erwartet – und wie Rick Deckard in «Blade Runner» kennen wir unser Ablaufdatum nicht. Aber es wird jemand da sein, der sich an all das erinnern wird, was noch kommt; jemand wird sich nicht nur daran erinnern, wie Zäune und Grenzen in die Welt gekommen sind, sondern auch, wie sie verschwanden. Jemand wird es aufschreiben und jemand wie mir erzählen. Oder jemand wie Ihnen. Ich hoffe es zutiefst.

Info

Zwei von Radio Augustin ausgestrahlte Features zum Thema und weitere Fotos auf:

www.lunaSteam.com/zypern.html

Das Buch «Meine ersten 100 Jahre» von Elsie Slonim wird im Herbst im Verlagshaus Hernals erscheinen.

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