Das heiße Leben von kalten Strukturentun & lassen

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Einen irritierend lockeren Umgang zwischen der individuellen Leistungsfähigkeit und der Zuweisung in eine Sonderschulklasse, beobachtet der Bildungsforscher Winfried Kronig in der Schweiz. Kinder mit gleicher Leistungsperformance werden an einem Wohnort in die Sonderklasse gesteckt, am anderen Wohnort bleiben sie in der Regelklasse.Der Zufall bestimmt die Zukunftschancen der Kinder. Oder weniger vornehm: die Willkür des Ortes und der Direktion. Ähnlich geheimnisvoll trägt sich die Vergabe von sonderpädagogischem Förderbedarf in Österreich zu. In Wien werden 1,6mal so viele türkischsprachige wie allein deutschsprachige SchülerInnen als sonderpädagogisch bedürftig eingestuft, in Niederösterreich trifft dies 2,9mal so oft zu. Auch hier sind es Effekte der Schulorganisation, die über die Bewertung von Herkunft und Leistung entscheiden. Und weil das alles noch nicht willkürlich genug ist, sollen ab jetzt überhaupt alle Kinder nach Sprachstand aussortiert werden. Von wem? Genau. Von denen, die das bisher schon so gut gemacht haben.

Unsere Institutionen und Organisationen sind voll von solchen Barrieren und Sortieranlagen; nicht aus Böswilligkeit, sondern weil wir die Institutionen wichtiger nehmen, als die Menschen für die sie gemacht sind. Da geht es gerade nicht um persönliche Absicht, sondern um das heiße Leben von kalten Strukturen.

Die stark unterschiedlichen Bildungsabschlüsse von Mädchen und Buben in den 1960er Jahren wurden übrigens nicht so angegangen, dass Defizite diagnostiziert, die Mädchen aussortiert, in Sonderkursen und durch intensive nachmittägliche Extra-Betreuung und Hausaufgabenhilfe auf ihren Schulerfolg vorbereitet worden wären, merkt die Erziehungswissenschafterin Mechthild Gomolla spitz an. Erreicht wurde die Veränderung der Verhältnisse nicht mit Sonderpädagogik, sondern durch eine Politisierung der Diskussion über Ungleichheit und Ungleichbehandlung. In deren Folge kam es zu einer Reorganisation des Bildungsangebots für Mädchen und einer Änderung der Selektionspraktiken in den Schulen. Bestehende Gymnasien wurden auch für Mädchen geöffnet, zusätzliche Schulen wurden in der Fläche der kleinen Gemeinden und Bezirke eingerichtet. Gomolla betont wie wichtig es war, dass der Begründungsdiskurs, den Männer unter sich führten, in dem bis dahin ungleiche Bildungsbeteiligung der Geschlechter für eine Selbstverständlichkeit gehalten werden konnte, öffentlich an Legitimations- und Überzeugungskraft verlor.

Davon kann man lernen.

Die Frage, wie Kinder, die schwächer sind, gestärkt werden können, ist ja nicht neu: sozial benachteiligte Kinder, Kinder, die aufgrund ihrer Herkunftsfamilie Probleme haben, Kinder mit Behinderungen oder einfach solche, die die Unterrichtssprache noch nicht gut beherrschen. Die Idee, homogene Gruppen mit den Schwächeren zu bilden und diese im Namen der Integration von den Stärkeren zu trennen, ist auch nicht neu. Es waren immer die Gleichen, die von den Schwächeren Integration gefordert haben, um sie dann wenn’s ernst wurde in Segregationsmodelle zu stecken. Wer nicht in das Schema passt, wird in eine Nische geschoben und dort von Spezialisten unterrichtet. Immer natürlich zu seinem Besten. Das ist ein (kaltes)System mit (heißer) abschiebender Wirkung.