Spelunken, Schusswechsel, Wildwest-Rechtssprechung.
In «Aufzeichnungen aus der Unterwelt», der jüngsten Kinodoku von Tizza Covi und Rainer Frimmel, erlauben der Wienerliedsänger
Kurt Girk und sein Freund Alois Schmutzer Einblicke in ein Nachkriegsschattenreich.
Interview: Julia Pühringer
«Ich will Stoß spielen lernen», denkt man, nachdem man «Aufzeichnungen aus der Unterwelt» gesehen hat und viel Zeit in Schwarzweiß im Wirtshaus mit Menschen verbracht hat, die es so nur mehr selten gibt, geben kann, weil es die dazugehörige Zeit nicht mehr gibt. Stoß spielen lernen?
«Da muss man die richtigen Leute kennen», sagt Rainer Frimmel, grinst und schweigt.
Im Film gibt es ständig Momente, wo man noch gern mehr wüsste. Wie viele Darlings fielen dem Schnitt zum Opfer?
Tizza Covi: Das war ein einzigartiges Ermorden. Das Schöne ist, es ist unsere eigene Produktionsfirma, und wir arbeiten nur zu zweit, so können wir uns Zeit für den Schnitt nehmen. Wir haben eine erste Fünf-Stunden-Fassung gehabt, mit Justizwachebeamten, Geschichten aus dem Gefängnis, Verbrechern, die mit ihnen gesessen sind; aber je mehr Leute drinnen waren, umso mehr sind Alois und Kurt Nebenfiguren geworden.
Sie könnten jetzt wohl auch ein ganzes Kapitel Justizgeschichte Österreichs erzählen.
Rainer Frimmel: Nicht wirklich. Aber wir könnten schon einige andere Geschichten erzählen, auch Polizeigeschichte, haben Zeitzeugen gefunden. Da sind ja noch viel ärgere Dinge passiert. Wir sprechen das im Film nur kurz an, aber das war uns wichtig, die Geschichte mit dem Franz Grün, wie mit Kriegsverbrechern umgegangen wurde, da sind ja die wenigsten wirklich verurteilt worden.
Die Untertitel sind wichtig bei so einer besonderen Sprache, wo die Wahl eines Wortes schon viel aussagt über die Haltung, die man einer Sache gegenüber hat.
Rainer Frimmel: Wir haben mit einer muttersprachlichen Übersetzerin eng zusammengearbeitet, um die richtige Wortwahl zu finden, ganz viele Ausdrücke konnte sie gar nicht verstehen. Wir wissen, es geht sehr viel verloren, wenn man die Sprache nicht spricht, diesen Verlust wollten wir minimieren.
Tizza Covi: Das alte Wienerisch und die Gaunersprache, das sind Worte, die auch wir erst gelernt haben, auch ich bin in vielen Szenen dankbar um die Untertitel.
Kurt Girk sagt wiederholt im Film: «Das ist eine Wahrheit.» Wohl im Sinne von: «Das ist die Wahrheit.» Aber man merkt, es gibt eine Bandbreite von Möglichkeiten, wie die Dinge gewesen sind.
Tizza Covi: Absolut. Das ist ein Film ohne Kommentar. Wir lassen die Leute reden, und jeder kann sich dann selbst ein Bild machen: Ist es seine Wahrheit, eine Wahrheit, die Wahrheit? Uns ist immer ganz wichtig, gegen Vorverurteilungen zu arbeiten. Die Schmutzer-Buben kennen ältere Generationen alle aus den Medien, so kann man da einfach einmal genauer hinschauen und sich ein eigenes Urteil bilden.
Es wurde viel im Wirtshaus gedreht, auch wenn das vom Geräuschpegel her sicher nicht ideal ist.
Rainer Frimmel: Wir wollten die Leute an den Orten filmen, wo sie sich wohlfühlen und viel Zeit verbringen. Den Kurt haben wir immer bei seinem Lieblingsheurigen gefilmt, er wohnte in der Nähe, da war er fast jeden Tag, beim Heurigen Sissi Huber im 16. Bezirk. Es ist schön, wenn man im Ton hört, dass da Leben rundherum ist, dass das kein Studio ist. So hat man das Gefühl, man sitzt mit den Leuten am Tisch und sie erzählen einem ihre Geschichte.
Die Leute dazu bringen, sich zu erinnern, kann für die ja auch emotional heftig sein. Gab es Fragen, die Sie nicht gestellt haben?
Rainer Frimmel: Dafür gibt’s dann Talkshows im Fernsehen, die genau solche Fragen stellen. Wir wissen, wo wir aufhören mit dem Fragenstellen.
Angesichts Ihrer Filme könnte man das Gefühl bekommen, Sie sind ein bisschen beim Zirkus. Also kein großer, glitzernder Zirkus, ein kleiner, räudiger, Sie interessieren sich für die Leute am Rand.
Tizza Covi: Wir haben ein Faible für Außenseiter und dafür, hinter die Kulissen zu schauen. Allein, dass wir die Möglichkeit haben, mit Leuten wie dem Kurt oder dem Alois so viel Zeit zu verbringen, das zu erleben: Was bedeutet das, wenn du ein Außenseiter bist, wenn du gebrandmarkt bist?
Rainer Frimmel: Das sind alles ganz außergewöhnliche Persönlichkeiten, und wenn sie dann auch noch dazu gute Geschichtenerzähler sind … Bei uns ist das soziologische Interesse stark, in so Lebenswelten einzutauchen, zu denen man sonst keinen Zutritt hat.
Wie findet man diese Randfiguren?
Tizza Covi: Natürlich stolpern wir über die, weil wir einfach sehr neugierige Menschen sind, manche Kontakte gehen fast Jahrzehnte zurück. Wir sind schon in solchen Spelunken gesessen, als wir 25 waren. Da hat es noch die Kunstpfeiferin Lips von Lipstrill gegeben und das Mandolinenorchester und die Pärchen, wo er Sopran und sie Bass gesungen hat, unglaublich. Da haben wir den Kurt Girk auch entdeckt, und dann verfolgt man die Leute weiter. Wenn man Interesse für die Menschen hat und für den Ort, an dem man lebt, das ist jetzt Wien, dann kann man schon viel entdecken, was die Leut’ vergessen und was momentan nicht en vogue ist.
Der Film ist in Schwarzweiß, die Protagonist_innen wirken sehr ikonografisch. Man hat den Eindruck, man könnte aus jedem Filmstill ein Poster machen.
Tizza Covi: Rainer ist ein unglaublich präziser Kameramann, wir beide haben Fotografie studiert. Wir bereiten das lange vor, schauen, um welche Uhrzeit wir gut drehen können, wir arbeiten ja nur mit Naturlicht. Natürlich ist uns das Bild wahnsinnig wichtig, sonst würden wir nicht Kino machen, sondern Radiofeatures. Wir drehen auch auf Super 16 wegen dieser Ästhetik, die uns so gut gefällt. Dann ist es absolut wichtig, dass die Hälfte des Augenmerks auf das Bild gelegt wird und nicht nur auf den Ton und den Schnitt.
Man müsste so ein Interview mit Ihnen wohl als Ausrede für eine Beisltour nehmen.
Tizza Covi: Wir sind sehr geizig mit den Beisltouren, wir fürchten uns immer, dass das dann «in» wird, und dann ist das Beisl nicht mehr das Beisl. Ich muss leider sagen, mit diesen Informationen gehen wir spärlich um (lacht).
Der Film begegnet den Interviewten auf Augenhöhe. Es gibt ja durchaus auch Filme, die versuchen, ihren Protagonist_innen in intimen Momenten etwas zu entreißen und das zu benutzen.
Tizza Covi: Das ist wirklich total wichtig für unsere Arbeitsweise: Wir hassen es, gewisse Grenzen zu überschreiten. Da könntest du viel entreißen beim Alois. Der lebt ein zurückgezogenes Leben, ganz wenige haben gewusst, dass er überhaupt noch lebt, und wir wollen ihn jetzt auch in diesem Film in keiner Weise an die Öffentlichkeit zerren, sondern schauen, dass er sein ruhiges zurückgezogenes Leben weiterleben kann. Er war auch sehr schwer zu finden.
Was ist das nächste Projekt, wer sind die nächsten Protagonist_innen, mit denen Sie sich im Stillen schon seit Jahren befassen?
Tizza Covi: Wir haben einen Film in Rom vorbereitet, Vera, da geht es um eine andere Minderheit, nämlich die einsamen, reichen, durchoperierten Frauen. Die Dreharbeiten werden coronabedingt andauernd nach hinten verschoben, momentan sieht es so aus, als könnten wir frühestens im Jänner 2021 damit beginnen.
Inzwischen gibt es allerdings noch ein Projekt, an dem wir arbeiten, nämlich an einem Film über Al Cook, einen genialen Wiener Blues-Musiker. Wir haben schon angefangen, mit ihm am Drehbuch zu arbeiten.
Aufzeichnungen aus der Unterwelt
Screenings bei der Viennale ab 23. Oktober
viennale.at/de/film/aufzeichnungen-aus-der-unterwelt
Kinostart: 20. November
Tizza Covi und Rainer Frimmel, Ventofilm:
Babooska (2005), La Pivellina (2009), Der Glanz des Tages (2012), Mister Universo (2016)