«Das ist keine Phase. Das ist ihr Leben»tun & lassen

Wie geht es Eltern mit dem Coming-out ihrer Kinder? Ein neues Buch lässt seine Protagonist_innen erzählen, wie sie es trotz Tabus und Streitereien letzten Endes immer geschafft haben, ihre lesbischen, schwulen, intergeschlechtlichen oder Trans-Kinder zu unterstützen. Eine davon ist Stela Stanković.

Protokoll: Lisa Bolyos
Fotos: Carolina Frank

Ich habe Steffi erst ein paar Stunden vor diesem Gespräch erzählt, dass ich ihr Tagebuch gelesen habe, als sie noch in der Schule war. Ich habe selber in der Schule Tagebuch geschrieben. Ich war in einem Internat, ich hatte das Tagebuch unter meinem Kopfpolster, und die anderen Mädchen haben es gelesen. Das war schon schlimm für mich, es war so privat. Und trotzdem habe ich das dann selber auch gemacht! Ich war am Staubwischen in Steffis Zimmer, und ich habe überlegt, soll ich oder soll ich nicht? Ich hatte Sorge, dass sie raucht – ich hatte Zigaretten bei ihr gefunden, und sie hat mir gesagt, die gehören ihrer Freundin Kati –, dass sie in der Schule Schimpfwörter verwendet und so weiter. Ich war sehr streng und habe die Kinder immer stark kontrolliert. Und dann habe ich stattdessen in ihrem Tagebuch gelesen, dass sie in einen Jungen verliebt ist.

Über die Donau nach Serbien.

Wir sind aus der Gegend von Veliko Gradište, hundertzehn Kilometer östlich von Belgrad. Aufgewachsen bin ich in Rumänien, in Moldova Nouă, einer kleinen Stadt an der Donau. Vis-à-vis liegt Ser­bien, und von dort sind die Leute über die Grenze gekommen, um am Markt Essen und Kleidung zu verkaufen. Das war ein Glück für mich, denn in Rumänien gab es in der Zeit des Kommunismus nicht viel zu kaufen. Mein späterer Mann kam auch auf diesen Markt. Ich hatte zu der Zeit gerade die Matura gemacht, ich hätte gern studiert, aber ich hatte nicht den Mut dazu, und meine Eltern hatten wenig Interesse daran, was ich mache. Sie haben mehr oder weniger gesagt: Du bist achtzehn, hier ist die Türe, auf Wiedersehen. Also habe ich diesen Mann, den ich da kennengelernt habe und der neun Jahre älter war als ich, eine eigene Firma und ein gutes Einkommen hatte, geheiratet und bin mit ihm nach Serbien gegangen. Das war nicht nur leicht, erstens konnte ich anfangs kein Serbisch, zweitens kam ich aus einer Kleinstadt in ein Dorf, da waren Tiere, vor denen ich Angst hatte, und Menschen, die nichts mit mir zu tun haben wollten, weil ich Rumänin war. Aber ich habe viel gearbeitet und nicht gejammert, ich habe den Haushalt gemacht, im Garten und auch mit den Tieren gearbeitet und später die beiden Kinder betreut. Meine Schwiegermutter hat es mir zu Beginn nicht leicht gemacht, aber vor wenigen Jahren hat sie mir gesagt: Du bist die beste Schwiegertochter, die ich mir vorstellen kann. Und darum würde sie mir alles verzeihen. Ich finde aber nicht, dass es etwas gibt, das man mir verzeihen muss.

Kinder und der Krieg.

Mein Mann war gerade im Krieg, als Steffi auf die Welt kam. Er musste für vier Monate nach Šid, an die kroatische Grenze. Dort, wo wir gelebt haben, hat man den Krieg schon mitbekommen, aber es war kein Vergleich zu der Situation in Belgrad oder an anderen Orten. Bei uns waren die Blauhelme, und das war nicht immer angenehm, aber es war auch keine Katastrophe. Gegen Serbien wurden ab Mitte 1992 Sanktionen verhängt, aber wir haben alles, was wir gebraucht haben, selbst gehabt, Tiere, den Garten, Obst und Gemüse. Dazu muss ich sagen, dass wir finanziell keine Schwierigkeiten hatten, weil die Großeltern meines Mannes in Österreich waren. Sie haben dort gearbeitet und dann ihre Pension bezogen, neuntausend Schilling pro Person, das war in Serbien zu der Zeit sehr viel Geld. Im April 1992 kam ich also ins Krankenhaus – ich konnte immer noch kaum Serbisch – und mein Mann musste versuchen, Urlaub zu bekommen. Er ist zu seinem Kommandanten gegangen und hat gesagt: Meine Frau hat ein Kind bekommen, ich möchte hinfahren. Wieso, hat der Kommandant gefragt, musst du das Kind stillen? Nein, hat mein Mann gesagt, aber ich kann morgen hier sterben, und ich möchte mein Kind sehen. So hat er vier Tage freibekommen und ist ins Krankenhaus gekommen, um Steffi zu sehen. Genau zwei Jahre später kam unsere zweite Tochter auf die Welt. Ich habe dann sehr schnell Serbisch gelernt, die Kinder sind ja in die Schule gegangen, und ich musste mit den Lehrern reden können. Mein Mann ist morgens in die Arbeit gegangen und abends zurückgekommen, er hat immer dafür gesorgt, dass alles da ist, was wir brauchen. Die Erziehung habe ich übernommen, und wir haben uns auch überhaupt nicht über die Kinder ausgetauscht.

Disco-Barbie und Frauentaschen.

Dass Steffi anders ist als andere Jungs, habe ich von Anfang an gesehen. Sie war nie so wild oder aggressiv, sie hat mit Barbies gespielt, ihre größte Sorge war immer, was ihre Puppen am nächsten Tag für Kleidung tragen sollen. Aber ich habe das normal gefunden, und auch mein Mann hat nie etwas dazu gesagt. Ich hatte eine sehr große Puppe zuhause, und einmal habe ich Steffi das Kleid dieser Puppe angezogen und Fotos davon gemacht. Ich wollte wohl selber gern ein Mädchen haben. Eines dieser Fotos hängt heute in Steffis Wohnung. Eine Geschichte, an die Steffi sich erinnert, ist die: Sie war acht oder neun Jahre alt, und wir waren beim Zahnarzt. Nach Arztbesuchen bin ich mit den Kindern meistens in ein bestimmtes Spielzeuggeschäft gegangen, wo sie sich etwas aussuchen konnten. Dort gab es eine Disco-Barbie, und Steffi hat gesagt, ich möchte diese Barbie hier haben, aber ich schäme mich, damit zur Kassa zu gehen. Ich habe gesagt: Wieso solltest du dich schämen? Das ist doch nur ein Spielzeug. Geh zur Kassa und gib das ab. Und das hat sie gemacht. Ich habe sicher auch deshalb dafür gesorgt, dass meine Kinder viel Spielzeug haben, weil ich gar keines hatte. Für mich war das schön, dass sie aussuchen können, womit sie spielen wollen.
Auffällig war für mich, dass Steffi viele Freundinnen hatte und eigentlich keine Freunde. Sie ist dann mit vierzehn nach Belgrad gezogen, um auf eine Kunstschule zu gehen. Ich habe ihr eine Wohnung besorgt und war jede zweite Woche bei ihr. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, Belgrad war gefährlich – wobei ich heute sehe, dass es nicht so gefährlich ist wie Wien. Später ist ihre Schwester auch in Belgrad zur Schule gegangen, da war es einfacher für mich, weil ich wusste, sie haben einander. Mit achtzehn wollte Steffi dann nach Wien ziehen. Dass es wegen der Transition war, wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht, aber ich war froh, dass sie von Belgrad weggeht. Ich habe ja gemerkt, dass sie anders ist. Sie hat schon in Belgrad begonnen, Taschen zu tragen, die zwar nicht ganz eindeutig Frauentaschen waren, aber eben auch keine Männertaschen.

Neustart in Wien.

Ich und die Kinder haben die serbische und die rumänische Staatsbürgerschaft, aber die Kinder hatten nur serbische Papiere. Steffi hatte Schwierigkeiten, die rumänischen Papiere zu organisieren, und sie ist eines Tages weinend zu mir gekommen und hat gesagt: Ich werde es nicht nach Wien schaffen. Da habe ich ihr gesagt, lass deine Mutter das machen, habe meine Kontakte aktiviert, bin mit ihr nach Rumänien gefahren, und ein paar Tage später hatte sie alle Papiere.
Steffi wollte alleine nach Wien ziehen, aber ich bin mitgekommen. Ich wollte ihr helfen. Ich habe mir gedacht, ich organisiere eine Wohnung und für mich eine Arbeit, um sie unterstützen zu können, und nach ein paar Jahren ziehe ich nach Serbien zurück. Mit unserem serbischen Einkommen wäre es sich nicht ausgegangen, die Kinder noch lange zu unterstützen. Aber ich bin in Österreich geblieben. Ich habe mich noch nie im Leben so gut gefühlt wie in Wien. Anfangs ist mein Mann immer wieder zu Besuch gekommen, er hat sehr viel bei der Wohnung geholfen und war wirklich da, wenn ich ihn gebraucht habe. Aber es war auffällig für mich, dass er Steffi immer weniger sehen wollte. Wenn sie in der Wohnung war, ist er in ein anderes Zimmer gegangen. Ich habe gefragt, warum, aber er konnte nicht darüber reden. Dann wollte er bei seinen Wienbesuchen gar nicht mehr in der Wohnung sein. Und irgendwann hat er den Kontakt zu uns abgebrochen. Mir tut das leid, aber es ist seine Entscheidung. Ich denke, er konnte Steffi nicht so akzeptieren, wie sie ist, und dafür hat er hingenommen, dass er seine ganze Familie verliert. Auch mit Steffis Schwester hat er keinen Kontakt mehr. Sie hat ein ganz normales Leben, arbeitet in der Steuerberatungskanzlei und ist mit einem Mann verheiratet – aber sie steht sehr stark für Steffi ein, sie wird aggressiv, wenn man was gegen Steffi sagt.

Akzeptieren, was ist.

Ich bin 2011 nach Österreich gekommen, zuerst ohne Arbeitsmarktzugang, ich musste mich also selbstständig machen, aber das hat mir keine weiteren Sorgen bereitet. Ich komme ja aus einem Fami­lienunternehmen, also hab ich mir gedacht: Ich weiß, wie das geht. Ich habe ein Putz­gewerbe gegründet, und das läuft sehr gut. Ich hatte nach einer Woche schon genug Arbeit, nach zwei Monaten eine Wohnung, und dann habe ich Deutsch gelernt, kein Problem.
Zwei Jahre lang haben Steffi und ich hier zusammengewohnt, und ich muss sagen, das war die allerschönste Zeit. Wir haben zusammen gegessen, sind zusammen spazieren gegangen, haben sehr viel miteinander gelacht und eigentlich nicht gestritten. Sie hat Frauentaschen zu tragen begonnen, sich die Haare gefärbt und ein bisschen geschminkt. Ich habe mir nicht viel dabei gedacht, ihre Haare waren noch kurz, ihre Kleidung noch unauffällig. Und ich habe mir gesagt, die Promis schminken sich auch mit Puder, und weil sie als Friseur gearbeitet hat, fand ich auch das Haarefärben normal – sie experimentiert halt. Nach zwei Jahren wollte sie ausziehen, in eine WG. Das war schwer für mich, aber ich habe gesehen, dass sie das sehr gern will, und so habe ich ihr geholfen. Und dann ist sie eines Tages zu Besuch gekommen und hat irgendetwas angehabt – ein Frauenshirt oder so –, und das hat mich gestört. Mir war wahrscheinlich plötzlich klar: Das ist ernst. Ich habe gefragt: Wieso machst du das? Und wir haben so zu streiten begonnen, dass sie gesagt hat, sie kommt nicht mehr zu mir, und ich habe gesagt, das ist ok, komm bitte nicht mehr.
Steffi hat damals in der SCS gearbeitet. Einmal war ich in der Früh am Bahnhof Meidling, und wie ich die Rolltreppe runtergefahren bin, ist Steffi auf der anderen Seite raufgefahren. Sie hatte Kopfhörer in den Ohren und hat nicht hergeschaut. Ich habe so einen Schmerz verspürt, und ich habe mir geschworen, ich werde nie mehr den Kontakt zu meinen Kindern abbrechen. Wir haben dann telefoniert, sie ist wieder zu mir gekommen, und ich habe sie akzeptiert, wie sie ist. Ich habe mir gesagt, wenn sie sich gut fühlt, ist alles ok. Ich fühle mich ja auch gut, wie ich bin, und möchte so sein dürfen.
Als sie mit der Hormontherapie beginnen wollte, war das schon hart für mich. Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie ihr Körper reagieren wird. Für mich ist Steffi immer schon die Schönste, und ich hatte Angst davor, was die Hormone mit ihrem Körper machen könnten. Nicht dass sie einen Fehler macht, den sie später bereut! Steffi wollte dann in eine bestimmte Praxis gehen, die haben aber keine Patienten mehr aufgenommen. Zufällig habe ich damals bei einer Familie gearbeitet, in der die Frau Apothekerin war, und ihre Apotheke war im gleichen Haus wie diese Praxisgemeinschaft. Ich habe ihr also Fotos von Steffi gezeigt – ich habe mich nie für Steffi geniert und allen Leuten von ihr erzählt – und sie gefragt, ob sie in dieser Praxis vielleicht jemanden kennt und uns helfen könnte. Und schon war das erledigt, Steffi hat einen Termin bekommen. Wenn man einen guten Eindruck hinterlässt, respektieren dich die Leute und helfen gerne.

Ein Leben, keine Phase.

Eine Namensumstellung gab es für mich nicht, ich habe Steffi immer schon Steffi genannt, oder Mausi, mišu. Eine Weile habe ich gehofft, dass sie später als Junge oder Mann leben wird. Aber irgendwann habe ich gesehen, so ist es nicht. Das ist keine Phase, wie ich am Anfang gedacht habe. Das ist ihr Leben. Und ich habe mir gesagt, wenn ich so gewesen wäre wie die Steffi, hätte ich auch wollen, dass meine Eltern das akzeptieren. Als ich aufgewachsen bin, wusste ich gar nicht, dass es Transgender gibt. Ich habe das erst von Steffi gelernt. Ich habe mir oft die RTL-Show von der Dragqueen Olivia Jones angeschaut, und ich dachte, Trans­vestiten und Transgender wären dasselbe. Aber jetzt kenn ich mich aus!
Für mich ist nicht nachvollziehbar, wenn Leute ein Kind haben und es nicht so nehmen wollen, wie es ist. Ich habe mich heute ganz daran gewöhnt, wie Steffi ist, und kann mir nicht mehr vorstellen, dass sie anders wäre. Bis vor ein paar Jahren habe ich über sie als Mann geredet, nicht als Frau. Ihre Schwester hat dann eines Tages zu mir gesagt: Sie ist jetzt eine Frau, du musst «sie» sagen! Und das mache ich, auch wenn mir manchmal noch Fehler passieren. Heuer wollte ich auch mit ihr zur Pride-Parade gehen, aber ich musste am Samstag arbeiten. Nächstes Jahr schaffe ich es.
Was Steffi privat macht und wie sie ihre Sexualität lebt, geht mich nichts an. Als sie klein war, wollte ich alles unter Kontrolle haben, aber jetzt ist sie groß, und ich weiß, dass sie selber weiß, was sie macht. Ich finde es einfach wichtig, dass man sein Leben leben kann. 

 

Lisa Bolyos, Carolina Frank: Mich hat nicht gewundert, dass sie auf Mädchen steht
Gespräche mit Eltern queerer Kinder
mit einem Geleitwort von Udo Rauchfleisch
Achse Verlag 2021, 280 Seiten, 20 Euro

In 18 Porträts widmen sich Augustin-Redakteurin Lisa Bolyos und Augustin-Fotografin Carolina Frank der Elternperspektive aufs Coming-out von schwulen, lesbischen, trans, inter und nonbinären Kindern. Die Protagonist_innen, die in verschiedenen Teilen des ländlichen und urbanen Österreichs leben, gewähren Einblick in ihr Familienleben, die Beziehung zu ihren Kindern, die Konflikte, die es auszutragen galt, die Wünsche und Hoffnungen, die sie für das Leben ihrer Kinder hegen, aber auch die Sorgen, die ihnen politische Entwicklungen machen. Sie erzählen von Tabus und Überraschungen, vom Schweigen und vom Streiten, von der ersten Barbiepuppe und der ersten Regenbogenparade.

Fr, 17. September, 18 Uhr
Grätzelmixer, 10., Bloch-Bauer-Promenade 28
Anmeldung erforderlich: www.wienwoche.org

Do, 21. Oktober, 20 Uhr
Yella Yella!, 22., Maria-Tusch-Straße 2