Das jenseitige Veltlinerlandvorstadt

Wer soff das 1000-Hektoliter-Fass in Nikolsburg leer?

Als Ruhebedürftiger war die Wahl, die Pfingstfeiertage in Mikulov (Nikolsburg) zu verbringen, nicht sehr optimal. Doch woher sollte ein Augustin-Reporter Kenntnis von der diesjährigen «Super Rally» der Harley-Davidson-Biker haben, die im nahen Ort Pasohlávky stattfand? Von Robert Sommer (Text und die meisten Fotos).

Die Harleyrider, die in Gruppen diverser Größe und verschiedener Nationalität nach Südtschechien strömten, gerieten zum Teil in den Sog des 8000-Einwohner_innen-Städtchens Mikulov, auf deutsch Nikolsburg. Vier Tage und drei Nächte lang war die Stadt an der tschechisch-österreichischen Grenze in eine Klangwolke eingeschlossen, die einem glauben machte, die NATO führe an der Grenze zum unsicheren Drittland Österreich ihre Panzermanöver durch. Am fünften Tag war der dauerdonnernde Spuk vorbei, nicht ohne ein solidarisches Abschiedsgedröhne zu hinterlassen, gerichtet an die Nikolsburger Polizei, die ein Herz hat für lärmende Männerbündeleien; ich ergötzte mich an einem Kommentar, wonach der vorletzte Männerbund der Menschheit, die Polizei, dem allerletzten Männerbund, den Harley-Davidson-Rockern, aus evolutionsbedingter Sympathie die Überschreitung jeglicher Dezibel-Obergrenzen gewähre.

Dagegen stark zu polemisieren will ich aber aus zwei Gründen verzichten: Erstens brauchen wir Museen für aussterbende Männlichkeitsposen – und in diesem speziellen Fall vermittelt ein rollendes Museum (zwei Reifen pro Live-Exponat) den höchsten Grad an Authentizität; zweitens geriet ich als klassischer Trittbrettfahrer in eine geführte Besichtigung der Burg, bei der sich die richtigen Männer auf der richtigen Marke als durchaus auch für andere Fragestellungen neben den Hauptthemen Maschine und Straßenverkehrsverordnung zugänglich zeigten, und das mit dem Schmäh von Landstreichern. Die Schweden hätten die Mikulover Burg geplündert, sprach der Guide und löste ein zweihundertfaches Buh aus, an dem allein die kleine schwedische Harley-Fraktion nicht teilnahm. Das Buh verwandelte sich in ein aufbrausendes Hurra (diesmal ohne Ausnahme), als die Besucher erfuhren, dass im Keller des Schlosses ein hölzernes Weinfass mit einem Fassungsvermögen von mehr als 1000 Hektoliter Wein liege. Die schwedische Bikergruppe bekam dann nochmals das Buh der Kollegenschaft ab, nachdem der Guide erklärt hatte, es gäbe da ein keines Problem mit dem Weinfass: Die schwedischen Eroberer hätten es zur Gänze leergetrunken.

So unterhaltsam kann Regionalkunde sein. Die Rocker, die zu Pfingsten 2017 Nikolsburg zudröhnten, können nun den Text verlassen, denn sie werden Pfingsten 2018 eine ganz andere Ecke Europas heimsuchen, und 2019 eine wieder ganz andere und 2020 vielleicht keine mehr, weil die Harley-Religion sich weigern wird, einen EU-Beschluss umzusetzen, der nur noch Elektro-Harleys zulässt.

Der langen rhetorischen Einleitung kurzer Sinn: Nikolsburg und Umgebung ist auch für Leute, die eine Harley Davidson nicht einmal vom Hörensagen kennen, sehr, sehr spannend. Ich greife vier potenzielle Erlebnisse des regionalen Schauplatzes heraus: dass Erlebnis der Stadt und seiner Geschichte; das Erlebnis der Pollauer Berge; das Erlebnis der Teichkunst; das Erlebnis des südmährischen Weines.

Die Stadt also

Sie ist von Wien aus auch öffentlich gut erreichbar. Nach Břeclav verkehren Züge, und von dort aus gibt es eine langsame (etwa 90 min.) und eine schnelle Busverbindung (etwa 30 min.) nach Mikulov. Die langsame ist vorzuziehen, weil sie die oder den Reisende_n durch ein Dutzend Orte schleift, die man sich alle merken will, weil sie sich alle als potenzielle künftige Ausflugsziele anbieten. Österreichische Tourist_innen – vor allem solche, die aus 8000-Einwohner_innen-Städtchen kommen – staunen über die Mikulover Beisldichte, wenn sie sie mit dem gastronomischen Angebot ihrer Heimatgemeinden vergleichen. Manche der deutschsprachigen Tourist_innen haben eine seltsame Beziehung zur Stadt. Sie sind die Urenkel, Enkel, Söhne und Töchter der nach dem Zweiten Weltkrieg vertriebenen Deutschen. Meistens suchen sie vergebens nach den Häusern ihrer Vorfahren. Aufgrund der Beneš-Dekrete wurden 1030 Häuser und 1298 Grundstücke zwischen 1945 und 1946 enteignet. Baulücken entstanden, die zum Teil auch heute noch solche sind. Mehr als sieben Jahrhunderte lang war Mikulov «in deutscher Hand». Sie gehörte den Hochadelsgeschlechtern Liechtenstein und Dietrichstein. Mehr als neun Jahrhunderte lang wurde in Nikolsburg in der Regel deutsch geredet. Heute kriegt man in den Zeitungskiosken der Stadt nicht einmal die «Kronen Zeitung». Der schönste Teil Nikolsburgs ist für mich der Gaisberg (Kozí hrádek), ein Stadtviertel mit Pflastersteingassen, mit ruhig gelegenen Pensionen und Ferienwohnungen – und mit dem jüdischen Friedhof, der der größte in Tschechien ist und der schönste Europas. Früher hat er Tanzberg geheißen; das Treiben der wilden Weiber zur Walpurgisnacht ist dort vom Katholizismus unterbunden worden.

Die Berge also

Pollauer Berge nennen sie die Deutschen. Nicht zu verwechseln mit Pöllau! Pálava ist das tschechische Wort für die Pollauer Berge. Nicht zu verwechseln mit Palaver. Obwohl der Zustand und die Zukunft Pálavas Anlass für viele Palaver war und weiter sein wird. Denn die Hügelkette, die unmittelbar mit dem Heiligen Berg am Rande von Mikulov beginnt und nördlich davon im Thaya-Stausee ihre Begrenzung findet, ist von vielen Seiten her bedroht. Zum Beispiel von einer Gewalt, die uns unter dem Namen STRABAG bekannt ist. Wie gerne würde sie beim Bau der mährischen Fortsetzung der Weinviertelautobahn zum Zuge kommen. Die Gemeinden des Landschaftsschutzgebietes wehren sich gegen die Autobahn.

Die Natur im Pálava verhält sich nicht so, wie sie sich laut meinen geographieseitigen Notizen aus dem Gymnasium verhalten sollte. Wenn der Mensch nicht eingreife, werde ganz Mitteleuropa mit der Zeit zu Wald. An dieses Eingebläute kann ich mich noch gut erinnern. Die Pollauer Berge aber müsste man auf eine vergewaltigende Weise aufforsten, wenn man die eigenartige Karst-Waldsteppe loshaben will, die hier vorherrscht.

Die gesammelten Teiche also

Wie fast die gesamte südliche Tschechische Republik weist auch das nationale Naturreservat Lednické rybníky, sechs Kilometer von Nikolsburg entfernt, ein raffiniert angelegtes System von Teichen auf, die einerseits zu vor allem binnentouristisch benutzten Zentren wurden, andrerseits wichtige Vogelschutzgebiete sind. Der Nesyt, einer der sechs hintereinander aufgefädelten Teiche, ist der größte Mährens. Alle sechs wurden an der Jahrhundertwende vom 14. und 15. Jahrhundert gegraben und hatten die Funktion von Fischteichen. Neben dem Tourismus bringt auch das Fischgeschäft die Teiche in Gefahr. 2008 kam es zu einer extremen Population von Giebeln, karpfenartigen Fischen. In einem der sechs Seen lebten plötzlich zwei Millionen Exemplare dieser Art. Lange Zeit bildete das Südufer dieser Teiche die niederösterreichisch-mährische Grenze. Die «Karpfengrenze» ersetzt auf eine friedliche Weise den ehemaligen Eisernen Vorhang. Polen, Tschechien, Weißrussland und Rumänien sind die größten Karpfenproduzenten und spüren, dass der Karpf als Speisefisch im Westen aus der Mode kommt. Viele teichwirtschaftliche Akteur_innen versuchen, die wirtschaftlichen Probleme durch touristische Events zu kompensieren. Die Abfischfeste Ende Oktober locken sowohl im Waldviertel als auch in Südmähren viele Städter_innen in die Teichzonen.

Die Weine also

Weinverkostungslokale gibt es in Nikolsburg in einer Dichte, die etwa der von Kebabständen in Wien entspricht. Südmähren ist nämlich d i e Weinregion Tschechiens (in dieser Region werden mehr als 90 Prozent des tschechischen Weines produziert), und das Gebiet um Nikolsburg ist eines der Hauptanbaugebiete. Mehr noch als im benachbarten Niederösterreich kann die Umgebung Nikolsburgs als Veltlinerland bezeichnet werden. Der Grüne Veltliner ist hier ebenso populär wie das böhmische Bier. Anders als in der tschechischen Hauptstadt, wo eher dem Bier gehuldigt wird, was den Ruf des Pragers, der Pragerin in Südmähren nachhaltig beschädigt hat. In Mikulov hört man oft folgende Weinkategorisierung: Wir in Südmähren unterscheiden drei Qualitätsstufen von Wein. Den guten Wein, den mittelmäßigen Wein – und den Wein, den wir nach Prag liefern. Mährische Bobos sollen immer mehr zum Konsum von Chardonnay neigen – wohl deshalb, weil dieser Name postmoderner klingt als Grüner Veltliner, ätzen die Fans des letzteren.

Apropos biken. Nirgends wurde mir mehr bewusst als hier in Mikulov, dass die Biker_innen genau das Gegenteil von den Bikern darstellen. Die Biker_innen, die mit dem Fahrrad, repräsentieren das gemäßigte, zivilisierte Patriarchat (vorne radelt der Papa, dazwischen das Kind, hinten die Mama), während die Biker für die fraglose Herrschaft der Männer und des Gottes der Beschleunigung stehen. Die Männer und Frauen des linken Motorradclubs Kuhle Wampe mögen mir diesen kleinen pädagogischen Schematismus verzeihen …