Das Lerchenfeld ist ein Begrifftun & lassen

Über eine Strasse, die kein Identitätsmarketing und kein Branding braucht

Lerchenfelder.jpg„Im Ort liegt auch ein Mehrwert. Das Lerchenfeld ist ein Begriff“, sagt Estela Tschernutter, die seit vielen Jahren eine derjenigen ist, die das Gesicht des Weltladens an der Lerchenfelder Straße mitbestimmt. Heuer feiert der Weltladen sein 20-jähriges Jubiläum. An einer Straße wie dieser seinen 20er begehen zu können, dazu gehört einiges: Durchhaltevermögen, Energie, Kreativität, Veränderungsbereitschaft, Kommunikation, nicht zuletzt ein ausdauernder Glaube an den Standort.

Europäische Geschäftsstraßen der zweiten oder dritten Ordnung haben es nicht leicht. Veränderte Einkaufsgewohnheiten und neue Bedürfnisansprüche ziehen und zerren an ihnen. Die gefühlte, oft hartnäckig zugeschriebene Abwärtsbewegung einer Straße in der allgemeinen Wahrnehmung hat ihre eigenen Indikatoren entwickelt. Sonnenstudios und internationale Call-Shops zählen dabei zu den Spitzenreitern der atmosphärischen Bewertungsskala. Solange wir einem europäischen Stadtideal anhängen, das urbane Geschäftigkeit, städtisches Flair und Lebendigkeit an der Erdgeschoßzone verortet, müssen wir uns über jede verhinderte Garage freuen. Der Mikrokosmos der Lerchenfelder Straße erzählt heute nicht nur von einem europäischen Phänomen der angestrengten Suche nach Urbanität, sondern auch für eine spezifische Herausforderung, wie Forscher in der Stadt sich heute anders aufeinander zubewegen müssen, um eine Geschichte zu erzählen, die sonst nicht erzählt werden würde.

Die Rede ist von Herkünften und Identitäten, von Energien und Nachbarschaften, die im Gesicht der Lerchenfelder Straße die zukünftige Entwicklung der Stadt bereits jetzt in aller Deutlichkeit erscheinen lassen. In der Nähe liegt die Diversität. So weit, so nah.

Nicht ein Mikrokosmos, sondern viele Mikrokosmen

Vor über einem Jahr haben Angela Heide und ich begonnen, dem was an dieser Straße liegt, nachzugehen. Unter dem Titel „Aufbruch in die Nähe“ sind wir im Rahmen des Projekts Lebendige Lerchenfelder Straße als Stadtforscherinnen in die Nähe aufgebrochen. Soll heißen: Wir sind in Geschäfte, Ateliers, Restaurants oder Konditoreien gegangen und haben gefragt, ob es die Bereitschaft gebe, mit uns zu sprechen. Wofür wir uns interessieren, das sind die vielen Orte, die in einem Ort stecken, die vielen anderen Orte entlang von Lebenswegen, in denen die Lerchenfelder Straße dann eine Station ist. So verknüpfen sich Stadt und Biografie, Mikrokosmos und Makrobewegungen, Nahversorgung und Globalisierung. Aber es ist eben nicht mehr nur ein Ort, sondern es sind die vielen Orte in ihrem Zusammenwirken, die Lebenswege und Städte charakterisieren. Eine erste Bestandsaufnahme entlang der Lerchenfelder Straße führt von Kritzendorf über Bangkok nach Zürich, von Ottakring über Mailand nach Togo, von Grein an der Donau über Blistrup nach Samarkand.

Wenn man die Heterogenität heutiger Städte ernst nimmt, geht es um Herkünfte und Verortungen, um Distanzen und um Ankommen.

Was also erzählt uns die Lerchenfelder Straße über die Gegenwart und die Geschichte der Stadt? Aber eigentlich lässt sich das ja alles so heute nicht mehr in der Einzahl denken, nur mehr in Pluralitäten. Also: Gegenwarten und Geschichten. Betrachtet man die Straße als Laboratorium urbaner Handlungsfähigkeiten, dann hat sie einiges mitzuteilen. In den individuellen Biografien derer, die heute und hier das Leben in der Erdgeschosszone am urbanen Laufen halten, stecken die weltweiten Verknüpfungen, die eine Stadt als Querungsort von Diversität auszeichnen. International, vielschichtig, widersprüchlich und voll der individuellen Überlebens- und Arbeitsstrategien ist die Lerchenfelder Straße von unterschiedlichsten Menschen geprägt, die sich als KleinstunternehmerInnen hier etablieren, als MigrantInnen eine neue Existenz aufgebaut haben oder seit Generationen im Familienbetrieb hier ein Geschäft haben. Nachbarschaft ist Zufall. Beim näheren Hinhören in den Gesprächen mit den Geschäftstreibenden ist die Lerchenfelder Straße nicht ein Mikrokosmos, sondern viele Mikrokosmen. Es sind die unmittelbaren Nachbarschaften, die das Gefühl, an der Straße gut zu Hause zu sein, ausmachen. Doch die Bereitschaft zur Kommunikation oder das Hinausdenken über die Türschwelle des eigenen Geschäfts sind letztlich immer Fragen des individuellen Engagements. Veränderung ist nicht nur eine zentrale Herausforderung für eine ganze Straße, sondern auch für die einzelnen Geschäfte.

Wo Konsalik die Regale beherrschte

Zurück zum Ort als Mehrwert, von dem Estela Tschernutter im Weltladen spricht. „Der Laden hier hat als Alternativladen begonnen. Eine Zeitlang dachten wir, es ist der falsche Ort. Wir überlegten, wie können wir einen Beitrag für den Ort hier leisten? Wir haben mit Grätzelarbeit begonnen und mit Stammkundenbetreuung, mit einem Saisonprogramm. Im Jahr 2004 haben wir renoviert, wir waren nicht mehr mit der Zeit. Es ist nicht gut, wenn der Ort leidet, wenn man an einem Ort ist. Wir haben Nachbarschaftskontakte geknüpft, die Mittagspause aufgehoben.“ Wolfgang Posautz, der seit einigen Jahren mit Bernhard Bastien eine Buchhandlung in der Mitte der Straße führt, die auch den Namen des Ortes auf dem Geschäftsschild führt, die Buchhandlung Lerchenfeld, beschreibt die Situation ähnlich: „Man kann Kontakt zu den Leuten aufbauen. Wir haben den Lesezirkel aufgebaut. Das haben wir als Event inszeniert, die Lesungen auch.“

Doch die Frage der Nachbarschaften betrachtet er nüchtern. „Es läuft dörflich ab. Hilfe und Unterstützung das sind romantische Vorstellungen, das kommt nicht vor.“ Man kennt seine Kunden, das betonen alle, die hier an der Straße tätig sind; man hat ein Verhältnis zu ihnen; man nimmt sich Zeit. Das Zeitmaß ist ein anderes als an globalisierten Geschäftsstraßen der Innenstadt, das wird betont. Reinhold Posch, der seit über 30 Jahren in der Nähe der Altlerchenfelder Kirche, die von vielen für ein übersehenes Architekturjuwel gehalten wird, seine von Büchern überquellende Buchhandlung führt, erinnert sich an städtische Topografien, die in den Köpfen der Wiener und Wienerinnen an der Zweierlinie eine Demarkationslinie zogen. „Früher hat es zwei Arten von Buchhandlungen gegeben: die Stadtbuchhandlung und die Vorstadtbuchhandlung. In der Vorstadtbuchhandlung gab es kein Suhrkamp und kein Dumont, da hat es nur Konsalik gegeben. An der Zweierlinie war die Demarkationslinie. Ich war die erste Expositur der Stadt heraußen.“ Heute sieht Reinhold Posch die Struktur der Straße als anonymisierte. Doch er selbst ist aufs Geschäftigste mit dieser Grüß-Gott-Straße, an der ihn viele kennen, verbunden. „So zu leben, als ob dies der Hauptlebensmittelpunkt ist, das beinhaltet Geschäftigkeit.“

Die Modedesignerin Philomena Christ, ebenfalls eine langjährige Lerchenfelderin, sieht die Dynamik von Veränderungen ebenfalls über einen Langzeitraum. „Anfang der 1990er, vor zehn bis fünfzehn Jahren, sind hier viele Geschäfte weggegangen. Nach dem Drumherum mit dem Umbau hat die Straße kein Respiro mehr gehabt. Die Fluktuation hat man tagtäglich gespürt, viele andere Geschäfte sind lang leer geblieben.“ Sie ist eine, die über ihre Türschwelle hinaus die Straße als ganze zu denken versucht. „Man kann Geschichten bewegen, wenn man den vollen Einsatz hat, für das Wohl der Gesamtheit.“

Befunde für auf oder ab schaffen jene Identifikation, die im Alltäglichen das Besondere aufblitzen lassen. Das letzte Wort soll die Damenmaßschneiderin Maria Edlinger haben: „Es ist ganz international hier. Ich finde es ist einfach eine Straße für diese Zeit, in der wir leben. So ist es in Wien eigentlich. Wieso sollte man sie verändern?“ Das Interessante am Lerchenfeld ist, dass hier mit dem Begriff nichts gebrandet oder inszeniert wurde, dass hier nicht Identitätsmarketing betrieben wird, sondern Diversität, Vielgestaltigkeit und die kreative Energie des Tagtäglichen aus den Herkünften der Erdgeschoßzone in die Straße strahlt.

PS: Dieser Text ist gewidmet der Blumenhändlerin Brigitte Fröhlich, die von 2. Jänner 1977 bis 31. Oktober 2009 einen bestimmten Abschnitt der Lerchenfelder Straße immer zum Duften brachte, und der Schmuckmacherin Passawee Zaki, die von 2004 bis 2009 hier täglich etwas Schönes machte.

Info:

Die Ausstellung Aufbruch in die Nähe. Wien Lerchenfelder Straße, kuratiert von Angela Heide und Elke Krasny, ist noch bis 15. November 2009 im Treffpunkt Lerchenfeld, Lerchenfelder Straße 141 zu sehen.

Das Projekt findet statt im Rahmen von Lebendige Lerchenfelder Straße.

www.lerchenfelderstrasse.at

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