Das letzte Männerstadionvorstadt

Gedanken, Erinnerungen, Anmerkungen und Mutmaßungen zum Grazer Fußballplatz Die Gruabn, die vor einhundert Jahren eröffnet worden ist. Von Martin Behr

Fotos: Friedrich Fischer SK Sturm

Die Gruabn. Schon dieser Name. Der Dialekt adelt lautmalerisch das Nicht-Perfekte, das, was nach herkömmlichen Vorstellungen nicht unbedingt ein Schmuckkästchen ist. Das Rohe also, das Elementare, das Erdige. Lässt es zumindest sympathisch klingen. Eine gewisse Vertrautheit schwingt mit. Gruabn reimt sich zudem kongenial auf «Buam», was wiederum die Arbeit für Texter von Sturm-Songs erleichtert. Wem fiele schon etwas Zündendes zu «Die Grube» ein? Die Gruabn, da denkt man von vorneherein an harte Bedingungen, Platznot und schwierige Bodenverhältnisse. Wer das gleichnamige Stadion von Sturm Graz je betreten hat, dem fallen zusätzlich ein: klassische englische Verhältnisse, also unmittelbarer Kontakt zwischen Spielern und Besuchern, grandios hitzige Stimmung, Fans, die auf Reklametafeln oder Hausdächer geklettert sind, um einen guten Blick auf das Spielfeld zu erhaschen, sowie eine Holztribüne, die Fußballerschweiß und Fanherzblut aus Jahrzehnten in sich aufgenommen hat. Die Gruabn – ein Kultstadion.
Ein Stadion, das als «Geltungssbau» zu klassifizieren wäre, ist der 1919 eröffnete Sturmplatz vulgo Gruabn sicher nicht. Zwar ist alles Notwendige vorhanden, aber eben in der Basisausführung und nicht in der Normal- oder Luxusvariante. Was schon bei der Größe beginnt: 100 Meter mal 65 Meter. FIFA und UEFA empfehlen immerhin 105 Meter mal 68 Meter. Klein, aber spannend: Ein gelungener Ausschuss des Goalies konnte direkt in eine Torchance münden. Misslungene Schüsse hingegen führten dazu, dass Bälle auf der Straße, auf dem Tennisplatz, im Messegelände oder im Grünen landen konnten. Die Distanz zwischen der Outlinie und dem Zuschauerzaun betrug gerade einmal eineinhalb Meter. «Eine Regenschirmlänge» in den Worten von Günter Klimkeit, dem Sportreporter der 2001 endgültig verblichenen Tageszeitung Neuen Zeit. Die Zahl der hier erfolgten Bierduschen für gegnerische Spieler beziehungsweise Schieds- oder Linienrichter war enorm hoch, allein bei einem falschen Abseitspfiff konnten schon mal zwei Dutzend Plastikbecher durch die Luft fliegen. Das ist keine verklärende Unmutsnostalgie. Das war Gruabn-Realität. Ein Stadion als Arena der Emotionen, der sich aufschaukelnden Gefühle und des Sich-Luftmachens einer weitgehend hermetischen Männerwelt: ein Epizentrum für virile Erregungen unterschiedlichster Art. Eines, in dem die sozialen Unterschiede sowie andere Klüfte unter den Männern (z. B. Alter oder Herkunft) aufgehoben schienen.
Ein Reservat männlicher Leidenschaft. «Wenn von Fußball die Rede ist, ist immer Männerfußball gemeint. Spielen Frauen das Spiel, muss ein «Frauen-» der Erklärung davorgesetzt werden. So gibt es die «Fußball-Weltmeisterschaft» und die «Frauen-Fußballweltmeisterschaft», schreiben Jonas Bens und Susanne Kleinfeld in Fußball. Macht. Politik. Interdisziplinäre Perspektiven auf Fußball und Gesellschaft. Jahrzehntelang galten Fußballplätze generell als Domänen des männlichen Geschlechts. In der Hochblüte der Gruabn waren Sitzplatz- wie Stehplatzränge, wie alte Fotografien belegen, weitgehend männlich konnotiert. Der typische Gruabn-Besucher trug in den 1950er- und 1960er-Jahren Anzug und Krawatte – ja, man ging zumindest auf den Sitzplatz gut gekleidet – später schwarze Kunstlederjacke und Jeans, trank zwischen zwei und vier Becher Bier und rief, wenn einer der Schwarz-Weißen gefoult wurde: «Härter werden!» Frauen galten innerhalb dieses quasi männerbündlerisch organisierten Fantums zumindest als ungewöhnlich. Mitunter auch als Störfälle. Der Fußballplatz erweise sich als Ort, der positive wie negative Emotionen zulasse, betont Eva Kreisky in Arena der Männlichkeit: «Hier kann Mann eben noch weinen, aber auch toben und wild um sich schlagen. Insofern stellt Fußball – neben bürgerlicher Ehe und Familie – in gewisser Hinsicht auch ein Reservat männlicher Leidenschaft dar.» Zu dem auch das Singen gehört. Die Kurve als sangesfreudiger Fanklub-Ballungsort existierte damals noch nicht, als beliebter Fangesang sollte sich erst allmählich – in Abwandlung an den Schlachtgesang für das ÖFB-Nationalteam zur Weltmeisterschaft 1978 – «Immer wieder SK Sturm» etablieren. Ebenfalls oft in der Gruabn gehört: «Schiawa»-Sprechchöre (in Richtung des Unparteiischen), «Schiri, du Oaschloch» oder verbale Unfreundlichkeiten wie «Tragts ihn aussi, bevor er zum Stinken anfangt» in jenen Fällen, wenn ein gegnerischer Spieler sich nach einem Foul am Boden krümmte. Nein, kinder- und familienfreundlich war der Gruabn-Besuch nicht wirklich. Weiblich ist die Gruabn nur im Artikel. Sonst: eine Bastion männlicher Fußballpassion. Hart und auch nicht wirklich herzlich. Das letzte Männerstadion.

Der erste Schluck Bier.

Die Zahl der Frauen und Mädchen, die Sturm-Heimspiele besuchten, stieg mit der Übersiedlung in das Arnold-Schwarzenegger-Stadion 1997 jedenfalls markant an. Verständlich. Nicht nur wegen der WC-Bedingungen, die auch für Männer in der Gruabn suboptimal waren. Letztere konnten wenigstens Wiesen und Büsche rund um den Kickplatz als Freiluft-Pissoir nutzen. Old-School-Fußballstadien wie die Gruabn tolerierten Frauen gerade einmal in folgenden Ausprägungen: Ticketverkäuferinnen, Bier- und Wurstsemmelverkäuferinnen, Fanartikelverkäuferinnen. Frauen, die ihre Männer begleiteten, waren die Ausnahme, solche, die allein auf den Platz gingen (ausgenommen die späte Zeit, als Markus Schopp, Ivica Vastić und Co Boygroup-Feeling verströmten) eine Seltenheit. Traditionell war die Sportarena ein Ort, an dem Buben zu Männern reiften, das Stadion übernahm Teile der gesellschaftlichen und familiären Erziehungsaufgaben. «Viele Kinder kamen dort zu ihrem ersten Schluck Bier, womöglich zur ersten Zigarette, auf alle Fälle aber zu ihrer ersten Mann-Erfahrung», schreibt Christian Zillner in Stadien der Auflösung. Der Heranwachsende konnte seinen Wortschatz vergrößern, begriff, warum Spieler bei einem Freistoß nicht den Kopf, sondern einen tiefer liegenden Körperteil mit Händen schützten und delektierte sich an den Vorzügen muskulöser Beine und breiter Schultern, eleganter Bewegung, Schnelligkeit und Kraft: «Man war hier Mann wie alle Männer, unübersehbar, und brauchte es nicht auch noch zu beweisen. Ein Fußballstadion glich dem Paradies, bevor Gott auf die Idee mit der Rippe kam.»
Die Gruabn in subjektiven Erinnerungen: verbale Scharmützel zwischen den Studierenden, die ihre Gratisplätze auf dem einstigen Studenten-Hochhaus am Hafnerriegel sichtlich genossen, und Sturm-Fans, die im kleinen Nordsektor standen und – für eine weit schlechtere Sicht – Eintritt zahlen mussten: «Scheiß Studenten! Kommt’s oba, traut’s euch eh net.» Dass im Nordsektor später auch der Gästesektor untergebracht war, ist aus heutiger Sicht undenkbar. Gerade mal bei Spielen gegen Rapid trennten einige wenige Polizisten die unterschiedlichen Fangruppen, die sich ob ihrer Herkunft Verbalduelle lieferten («Wir sind eure Hauptstadt, ihr Bauern» vs. «Wiener Schweine»). Regen bei Meisterschaftsspielen pflegte in der Gruabn Missstimmungen auf dem Stehplatz auszulösen: «Obi mit’m Schirm!» «Bist aus Zucker?» Aufgespannte Schirme verdeckten das bei Massenbesuch ohnehin schon eingeschränkte Sichtfeld. Massenbesuch? In dem für 11.000 Zuschauer_innen konzipierten Stadion konnten schon mehr als 13.000 Menschen Platz finden. Was zu Gedränge bei den Ausgängen und homophoben Bemerkungen führen konnte: «Was drängst denn so? Bist a Woarmer, oder was?» «Sag’ des no amal, dann tusch i dir eine.» Drohgebärden und Revierkampfattitüden also. Ziemlich weit weg von der Komfortzone. Weiter in den Reminiszenzen: Der Trompetenspieler, dessen Fanfare in kritischen oder höchst erfreulichen Spielsituationen immer von einem kollektiven «Attacke»-Schrei begleitet worden ist. Oder der Stadionsprecher Günther Schrey, der mit viel Herzblut zum Publikum sprach («Bitte rückt’s doch ein bisserl zusammen. Draußen stehen noch sooo viele Leute.») und in manchen Spielpausen selbstgebastelte Fußballspiele aus Holz verloste. Und: Werbeeinschaltungen via Lautsprecher für Bordelle, die nicht nur die Fantasie von Pubertierenden beflügelten und die Verfügbarkeit über das weibliche Geschlecht dokumentierten: «Neue Mädchen in der Haiti-Bar!»

Wiener Mafia.

In der Gruabn gab es permanent Interaktion zwischen dem Publikum und den Spielern. Zwischenrufe trafen hier noch auf offene Kickerohren, die Bandbreite der dargebrachten Emotionen changierte zwischen Verehrung («Super, Mandi!») und Verachtung («Weaner Saugfrast, du!»). Das Phänomen der direkten Einflussnahme von Publikum auf die Akteure, thematisierte der Autor Peter Handke in seinem Buch Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms: «Obwohl die Zuschauer sich körperlich außerhalb des Spielfelds aufhalten, sind sie wie die Spieler Aktivisten des Spiels, die zum Spiel gehören, und nicht die passiven, nur zuschauenden Zuschauer im Theater. Sie können, wie die entsprechende Wendung sagt, anfeuern. Wer könnte im Theater einen Hamlet zum Handeln anfeuern?» Die Gruabn, das war ein gewaltiger Dampfkessel, in dem die Empfindungen auf Siedetemperatur blubberten. Eine Menschenansammlung, die sich zu einer monströsen Individualität auswachsen konnte, die gemeinsam murmelte, sang, litt, stöhnte, seufzte, jubelte, kreischte, applaudierte, schrie. Der Einzelne ging auf im testosterongesteuerten Kollektiv, das ein klar strukturiertes Setting aufwies: Wir gegen den Rest der Welt. Will heißen: ein permanenter Behauptungskampf gegen die jeweiligen Gegner, deren Fans, gegen die Schiedsrichter, eine nebulose «Wiener Mafia» und nicht zuletzt gegen das Schicksal. Die Grazer, die immer und ewig Benachteiligten. Verschwörungstheorien sind der Kitt vieler hermetischer Gruppierungen.

Entproletarisierung der Stadien.

Das Zeitalter der Ökonomisierung des Stadions bedeutete auch für die in die Jahre gekommene Gruabn das Ende. Mit der Übersiedelung nach Liebenau folgte Sturm Graz – wenn auch in bescheidenen, provinziellen Ausformungen – dem Trend zur professionellen, familienfreundlichen Stadionanlage. Der moderne Fußball, wie er auch heute noch als Metapher für die Unterwerfung vor dem Kommerz genannt wird, strebt nach Durchformatierung. Also: Stadien mit einer auf Sicherheit bedachten Architektur, Sektorkontrollen, Security-Staffeln und dem Steward-System, einem Gastronomiebereich, der das Spiel von 90 Minuten auf einen mehrere Stunden umfassenden Event ausbaut, auf mehrere, streng hierarchische Kategorien im VIP-Club-Wesen, Skyboxen und so weiter. «Die Hierarchisierung und damit Entproletarisierung der Stadien begann mit dem Bau von Überdachungen, Haupttribünen, nummerierten Sitzplätzen, welche die egalitären Stehplätze ersetzten, und gipfelt gegenwärtig in der Schaffung von luxuriös ausgestatteten VIP-Bereichen», befindet Jan Tabor in Fußball. Macht. Politik. Interdisziplinäre Perspektiven auf Fußball und Gesellschaft.
Mit dem Gewinn an Professionalität (Komfort, Sicht auf das Spielfeld, Toilettenanlagen etc.) gingen aber auch der Charme des Unangepassten, Spontaneität und liebgewonnene Traditionen verloren. So wurden etwa unter Hinweis auf die Rasenqualität Vorspiele verunmöglicht, ebenso das gemeinsame Feiern von Fans und Spielern nach dem Match (man denke nur an das gemeinsame Tragen der Riesen-Überziehfahne am Spielfeld nach glorreichen Spielen in der Gruabn) und auch der Gratiseintritt in der letzten Viertelstunde gehörte am Ende der 1990er-Jahre der Vergangenheit an. Zum neuen Trend gehörte, dass Stadien nicht mehr Stadien heißen, sondern – auch wenn sie noch so klein und provinziell sind – «Arenen» genannt werden, deren Namen an Unternehmen verkauft werden. «Fußball ist Teil der Popkultur, und Popkultur ist heute der Wörtergenerator Nr. 1 – von den Vollidioten der Deutschland-sucht-den-Superstar-Branche, die die Boulevardblätter füllen, bis hin zu den skrupulösen Aufzeichnern und Kommentatoren jedes entlegenen Pop-Events», schreibt Klaus Theweleit in Tor zur Welt. Und die Fußballspieler sind Popstars, die mit Tattoos, exzentrischen Frisuren, Privatflugzeug und Selfie-Firlefanz Aufmerksamkeit erregen.

Disneyfizierung.

So wie Las Vegas vom Sündenpfuhl zur Familienmetropole mutierte, etablierte sich das Stadion als Ort einer Fußballshow. Mit Winke-Winke-Performances von Maskottchen (Im Fall von Sturm Graz: Ein Bär namens «Sturm-Hannes»), Gewinnspielen in der Pause und gastronomischer Begleitung vor und nach dem Spiel. International agieren Fußballarenen nicht selten im Kontext von Multiplex-Kinos, Einkaufszentren, Fanmuseen, Spielautomaten-Salons, Wettcafés oder Erlebnisgastronomie angesiedelt: «Bring your family». Die Präsenz von Frauen (im Fall von Bayern München und der Allianz-Arena bis zu 40 Prozent bei Heimspielen) führt zu einer Domestizierung der männlichen Subkultur. Die «ur-maskulinie Fußballinszenierung» sei mittlerweile im Niedergang begriffen, betont auch Eva Kreisky, zumal die «Stadien der Großklubs zu High-Tech-Arenen umgebaut werden: «Diese gigantomanischen Bauprojekte kosten enormes Geld. Die neuen Stadien werden in Arenen umbenannt und die Namenrechte der Vereine – der Finanzierbarkeit wegen – an kommerzielle Anbieter verkauft.» Wer sich gegen diese Entwicklung stemmt und zudem auch noch an lebenslange Vereinstreue glaubt, ist ein Fußballromantiker. Einer, der in Zeiten der fortschreitenden Kommerzialisierung ein Unbehagen verspürt. Die Reduktion auf die Statistenrolle inmitten einer ebenso umsatzträchtigen wie keimfreien globalen Eventkultur auf dem grünen Rasen lässt jene – die diese noch erlebt haben – von den alten Tagen träumen. Von den Buam des SK Sturm in der Gruabn.

Der Autor ist neben Herbert Troger und Christian Wiedner Mit-herausgeber von Mythos Gruabn. 100 Jahre Sturmplatz (336 Seiten, 34,90 Euro, ab dem 10. Mai auf shop.sksturm.at erhältlich). Sein Beitrag für dieses Buch wurde hier in leicht gekürzter Fassung wiedergegeben.
Das GrazMuseum zeigt eine Ausstellung mit dem Titel Die
Gruabn. Das Herz von Sturm (von 26. April bis 23. Juni).
www.grazmuseum.at