Das Märchen von Hartz IVtun & lassen

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Ein Schuhputzer am Bahnhof, eine Bäckerin, ein Sänger und ein Bub aus Afrika. Im Film «Le Havre» des Regisseurs Aki Kaurismäki erzählen sie ihre Geschichte von unten. Aufmerksam, verzweifelt und widerständig. Ein Märchen?«Immer mehr Menschen werden über unwürdige und entwürdigende Arbeit in den Arbeitsmarkt integriert», analysiert Klaus Dörre, Professor an der Universität Jena. Der renommierte Soziologe warnt vor dem «Modell Deutschland» und seinen Konsequenzen für Menschen am unteren Rand der Gesellschaft. Deutschland habe den raschest wachsenden Niedriglohnsektor Europas. «Seit den 1980er Jahren erleben wir einen Fahrstuhleffekt nach unten, der in Deutschland eine prekäre Vollerwerbsgesellschaft hervorgebracht hat.» Prekarität frisst sich mittlerweile vom Rand in die Mitte hinein. Die Mehrzahl der Menschen im Niedriglohnsektor verfügen über eine abgeschlossene Berufsausbildung. «Prekär» heißt ja wörtlich nicht nur «unsicher», sondern lateinisch eigentlich «auf Widerruf gewährt», «auf Bitten erlangt». Da steckt der geringe Umfang an Kontrollchancen und Handlungsspielräumen bereits im Begriff. Das beschreibt ein abhängiges und freiheitsbeschränkendes Verhältnis.

Ein weiteres Märchen entlarvt Dörre in seinen Studien: Prekäre Beschäftigung ist kein Sprungbrett in den sogenannten ersten Arbeitsmarkt. Nur 12 % steigen in bessere Arbeitsverhältnisse um. Man fällt schnell hinein und kommt umso schwerer wieder heraus. Es entstehen vielmehr Drehtüreffekte, «zirkulare Mobilität» vom schlechten Job zum schlechten Job.

Hartz IV hat auch keine neue Arbeit geschaffen. Das Arbeitsvolumen bezahlter Arbeit ist in Deutschland gesunken. Dieser Rückgang ist aber nicht gleich verteilt. Ein sinkendes Arbeitsvolumen wird durch atypische Beschäftigungsverhältnisse auf immer mehr Schultern verbreitert – Teilzeitbeschäftigung, Geringfügigkeit, Leiharbeit. Zehn bis 15 Prozent der im globalen Norden lebenden Menschen werden somit aus dem Umfeld halbwegs gesicherter Erwerbsarbeit ausgeschlossen.

Dörre weist auf ein zentrales Problem in: «Wer rund um Hartz IV verdient, ist gesellschaftlich nicht mehr respektiert.» Prekarität hat «die Schwelle der Respektabilität verändert» und «den Druck auf die Leute erhöht». Hartz IV ist die Verschiebung der Schwelle der Respektabilität nach unten. Die Betroffenen werden gesellschaftlich missachtet. Hartz IV ist wie ein Hamsterrad, das Leute unter der Sphäre der Anerkennung hält. Die Prekaritäts-Logik verlangt jene qualitativen Ansprüche an Arbeit und Leben aufzugeben, die motivieren und zu Engagement befähigen. Das Leitbild von Hartz IV klagt etwas ein, das es in seiner Praxis zertrümmert. Das alles ist praktisch für jene, die wollen, dass alles so unfair bleibt, wie es ist: Die Verachtung für die «Unterschicht», die da produziert wurde, verhindert jede Form der Aufmerksamkeit, Einfühlung, Solidarität.

Wer den Film «Le Havre» gesehen hat, entdeckt darin ein Gegenbild zur Stigmatisierung und Missachtung der «Unterklasse». Hier treten Armutsbetroffene und Prekarisierte mit Eigenschaften auf, die ihnen sonst beständig abgesprochen werden: solidarisch, findig, klug, strategisch, sorgend und verantwortungsvoll. Kein Märchen. Wir brauchen eine andere Perspektive.