Das Museum von AmerikaArtistin

Wie erzählt das amerikanische Museum Geschichte? Und was kann das österreichische Museum davon lernen? Cornelia Kogoj und Christian Kravagna waren in den USA unterwegs, um diesen Fragen nachzugehen. Interview: Lisa Bolyos, Porträts: Michael Bigus

Zwischen 2015 und 2018 habt ihr rund 80 Museen in den Südstaaten der USA besucht und jetzt ein Buch darüber geschrieben. Mit welchem Ziel vor Augen?
Cornelia Kogoj: Wir wollten lernen, welche Formen (afro-)amerikanische Museen, und zwar sowohl selbstverwaltete als auch offizielle, finden, um die Geschichte der USA darzustellen. Für mich waren Repräsentationsfragen in der eigenen Ausstellungspraxis in Wien – der Gastarbajteri-Ausstellung oder Romane Thana. Orte der Roma und Sinti im Wien Museum – immer zentral. Wie werden Minderheiten in Ausstellungen repräsentiert? Werden Mitglieder der Community herangezogen, um Material und Oral History zur Verfügung zu stellen, oder haben sie selbst kuratorische Aufgaben? Und wie stellen wir Stereotype dar, ohne sie zu reproduzieren?
Christian Kravagna: Wir arbeiten zwar in unterschiedlichen Feldern, haben aber beide ein Interesse an Repräsentations- und Museumskritik, an Kolonialismus und Schwarzer Kunst- und Kulturgeschichte. Ich wollte allerdings auch in die amerikanischen Südstaaten fahren, um mich auf die Spurensuche bestimmter Figuren zu begeben, die mich schon lange beschäftigen: in erster Linie Zora Neale Hurston, die für mich eine der großartigsten Künstler_innen überhaupt ist, und deren Heimatstadt Eatonville, Florida, die erste freie Schwarze Stadt der USA war.
Euer Buch heißt Das amerikanische Museum, ein sehr selbstbewusster Titel.
Christian Kravagna: Wir haben in Europa ja landläufig die Vorstellung, die Amerikaner_innen hätten keine Geschichte. Wir haben viele Jahrtausende hinter uns, und sie nicht. Sie sind jung und modern. Und obwohl das natürlich falsch ist, ist Folgendes dran: Das weiße Amerika will keine Geschichte haben, oder es will sich eine zurechtschneidern, die irgendwie erträglich ist. Denn eine Geschichte, die auf Genozid, Sklaverei, Rassismus, Unterdrückung und Ausbeutung beruht, ist unerträglich. Das Schwarze Amerika hingegen arbeitet seit der Befreiung aus der Sklaverei mit aller Kraft daran, die Geschichte zu schreiben – und zwar nicht nur «seine» Geschichte, sondern die amerikanische. Darum haben wir unserem Buch diesen Titel gegeben.
Cornelia Kogoj: «History must restore what slavery took away», hat der Historiker und Aktivist Arthur Schomburg gesagt, der schon Mitte der 1920er-Jahre zur Schwarzen Geschichte geforscht hat. Das African American Museum in Dallas, Texas, arbeitet zum Beispiel mit archäologischen Mitteln. Ein Friedhof im Schwarzen Stadtviertel Freedman’s Town wurde für den Bau eines Highways verschüttet – was übrigens typisch für den Umgang mit Schwarzen Stadtvierteln ist. In den späten 1980er-Jahren wurde mit klassischen Ausgrabungsarbeiten begonnen. In der Ausstellung geht es einerseits um das buchstäbliche Ausgraben, andererseits aber auch um das «Ausgraben der Geschichte», die man sich so wieder aneignet. Viele afroamerikanische Museumsbetreiber_innen haben betont: «Das hier ist kein Minderheitenmuseum, sondern eines, in dem es um die amerikanische Geschichte geht.» Oft tragen die Museen auch das Wort «national» im Namen, als Aufwertung und um zu sagen: Wir sind Teil dieser nationalen Identität. Diese Identifizierung mit der Nation führt manchmal auch zu Konflikten, wenn etwa das Museum der Buffalo Soldiers in Houston betont, dass die Schwarzen Soldateneinheiten die Nation mitaufgebaut und verteidigt haben – auch gegen die Native Americans. Der Gründer des Museums ist dafür sehr angegriffen worden, unter anderem von dem ebenfalls in Houston befindlichen American Indian Genocide Museum.
Die Geschichte der Verteidigung der Nation wird also erzählt, aber gibt es auch die ökonomische Geschichte des Aufbaus, vergleichbar mit jener der Gastarbeiter_innen, die also sagt: Ohne unsere Arbeit als Versklavte würde das alles hier gar nicht existieren?
Cornelia Kogoj: Dieses Amerika, die ökonomische Macht, die dann politisch zur Weltmacht wurde, basiert auf der Arbeit der Versklavten. Und das ist keine Randgeschichte, sondern die Grundgeschichte der Nation.
Christian Kravagna: Das Cotton Museum in Memphis, kein selbstorganisiertes, sondern ein Stadtmuseum, stellt diese Geschichte sehr gut dar: wie aus einer bestimmten Produktionsweise Wohlstand, Großstädte und eine Nation entstehen, aber auch die Wurzeln der afroamerikanischen Kultur, und dabei vor allem von Blues und Jazz, die im Cotton Bell entstanden sind.
Ihr habt sowohl selbstverwaltete als auch große, finanzstarke Museen besucht.
Cornelia Kogoj: Die meisten der Schwarzen Museen in den USA sind aus der Community entstanden, die ein Bedürfnis nach einem Erinnerungsort, einer Sammlung, einem Archiv hatte. Manche entstanden auch als Projekte im Kampf gegen Gentrifizierung. Und auch die Orte, an denen die Museen stehen, sind oft von erinnerungspolitischer Bedeutung: etwa das Motel, in dem Martin Luther King ermordet wurde, und das heute das National Civil Rights Museum von Memphis ist.
Christian Kravagna: Die selbstorganisierten Museen sind meistens klein, mehr oder weniger prekär und leben davon, dass Leute aus der Nachbarschaft oder auch von ihren Reisen in afrikanische Länder Objekte ins Museum bringen, was unter anderem dazu führt, dass die Museumserzählung nie abgeschlossen ist. Diese Museen sind dynamisch, offen und immer im Prozess. Die großen, offiziellen Museen hingegen entsprechen einem konventionellen Museumsbegriff, sie präsentieren meist eine fertige Erzählung, die sich höchstens verändert, wenn eine Neugestaltung stattfindet.
Cornelia Kogoj: In den selbstverwalteten Museen kommt man beim Besuch in direkten Kontakt mit den Gründer_innen oder Leiter_innen. Meistens sind das Frauen, ehemalige Aktivistinnen aus dem Civil Rights Movement, die die Objekte und Bilder durch ihre Erzählungen ergänzen.
Christian Kravagna: Sie begreifen ihre Museumsarbeit als Fortsetzung der Kämpfe der 1960er-Jahre. Elaine Turner, die Direktorin des Slave Haven Underground Railroad Museum in Memphis, hat viel Zeit im Gefängnis verbracht, weil sie in der Civil-Rights-Bewegung aktiv war. Dass ihr Museum heute die Geschichte der Sklaverei und der Underground Railroad in Memphis erzählt, ist eine Fortsetzung ihres Kampfes. Ging es in der Civil-Rights-Bewegung um Rechte, so geht es im Museum um Geschichtsbilder, und das ist höchst aktuell, denn auch in Memphis werden ehemalige Sklavenhändler mit Denkmälern geehrt.
Cornelia Kogoj: In den großen Museen endet die Geschichte oft mit dem Tod von Martin Luther King Jr. – und dann gibt es noch einen Epilog zu Obama. Zu allem, was dazwischen passiert ist, und zu den heutigen Problemen, der massenhaften Inhaftierung Schwarzer Männer in den amerikanischen Gefängnissen oder der Polizeigewalt, gibt es hingegen kaum Material. Die Geschichte des Civil Rights Movements ist hingegen Teil der Mainstreamgeschichte geworden. Wird sie dadurch nicht auch entpolitisiert? Das ist für uns eine wichtige Überlegung, wenn wir in Österreich fordern, dass Minderheitengeschichte Teil der österreichischen Geschichte wird.
Müssen Museen über Polizeigewalt und Gefängnisse reden, um politisch zu sein?
Christian Kravagna: Nein, natürlich ist auch Erinnerungspolitik politisch, wenn sie einer weißen musealen Geschichtsschreibung eine Geschichte der Widerstände, der Sklavenaufstände und Revolten entgegenstellt. Und auch Erinnerungspolitik kann gegenwärtige Bezüge haben, wenn sie zum Beispiel, wie in Charleston, South Carolina, ein Denkmal für den Freiheitskämpfer Denmark Vesey fordert.
An der German Coast von Louisiana werden ehemalige Plantagenhäuser zu historischen Stätten gemacht. Nur ein einzige, die Whitney Plantation, verhandelt auch Sklaverei. Wie kann das sein?
Cornelia Kogoj: In den weißen Plantagenmuseen, die man nur mit Führung besuchen kann, ist nie von Sklaverei die Rede, obwohl das ihre ökonomische Grundlage ist. Wenn wir nachgefragt haben, wo denn die Geschichte der Sklaverei dargestellt ist, dann war die Antwort immer dieselbe: Achso ja, die gab es schon, und das ist eigentlich ein trauriges Kapitel, aber unser Master war der beste von allen und hat seine Sklaven gut behandelt.
Ihr schreibt, dass man auf diesen Plantagen Urlaub machen und heiraten kann.
Christian Kravagna: Im Brautzimmer auf der Nottoway Plantation ist alles weiß, Decke, Boden, Klavier, alles. Diese Produktion von Whiteness tatsächlich auch in der Innenausstattung, passend zum Kleid und passend zu der Illusion vom weißen Amerika, kann man nur verstehen, indem man sich vergegenwärtigt, wie das weiße Amerika über die letzten 150 Jahre systematisch eine Scheinwelt konstruiert hat, und zwar vor allem durch die Kulturindustrie: Vom Winde verweht ist immer noch der erfolgreichste Film aller Zeiten. Die Schwarze Geschichte wird in den Plantagenhäusern radikal ausgeblendet, gleichzeitig ist das ganze Dienstpersonal für die Urlauber_innen afroamerikanisch. Es findet sich natürlich auch billiges Personal, weil die German Coast eine der ärmsten Gegenden der USA ist.
Was passiert an der German Coast heute wirtschaftlich?
Christian Kravagna: Bis ins frühe 20. Jahrhundert haben auch nach der Abschaffung der Sklaverei viele ehemals versklavte Menschen weiter auf den Zuckerplantagen gearbeitet. Sie hatten keine Ausbildung, keine Mittel, kein Land, also mussten sie als Sharecropper bleiben. In den frühen 20er-Jahren kam die Petroindustrie in die Region. Heute sind dort alle großen Konzerne ansässig, die wir kennen: BP, Dow, Monsanto, Shell und so weiter. Der Kontrast zwischen der imaginären Welt der revitalisierten Plantagenhäuser und den wenige hundert Meter weiter beginnenden Industrieanlagen, Industriebrachen und armen Siedlungen ist unglaublich. Das Gebiet wird Cancer Alley genannt, weil dort die höchsten Krebsraten der ganzen USA verzeichnet werden.
Habt ihr in den amerikanischen Museen auch Ausstellungspraktiken gefunden, die ihr für Österreich brauchbar oder mit Österreich vergleichbar findet?
Cornelia Kogoj: Mich haben die kleinen, selbstorganisierten Museen in den USA oft an den Peršmanhof in Kärnten erinnert, an dem Angehörige des SS- und Polizeiregiments 13 im April 1945 ein Massaker an einer kärntnerslowenischen Familie verübt haben und wo sich heute das Peršmanmuseum befindet: gegründet von der slowenischen Minderheit aus einer Notwendigkeit heraus, diese Geschichte zu erzählen, um den gängigen Erzählungen der Mehrheit etwas entgegensetzen.
Welche Notwendigkeiten der Geschichts­arbeit gibt es in den großen österreichischen Museen?
Christian Kravagna: Vor ein paar Jahren hab ich ein Seminar mit den Studierenden der Akademie der bildenden Künste zum kolonialen Erbe in diversen Wiener Museen gemacht, vom Technischen Museum übers Naturhistorische bis zum ehemaligen Völkerkundemuseum. Wenn man ins Naturhistorische Museum geht, wird man von Maria Theresia und ihrem Schoßhund empfangen, und die Museumserzählung ist die Geschichte, wie Maria Theresia oder ihr Ehegatte sie erzählt hätte – er hat ja begonnen, die naturkundlichen Sammlungen anzulegen. In dieses Museum werden Jugendliche und Kinder nur so hineingeschleust und werden dort mit einer Ideologie indoktriniert, die unfassbar ist: kolonial, imperialistisch, feudal, aristokratisch und gewaltsam. Die Idee, einfach alle Tiere irgendwo abzuknallen und hier auszustellen ist signifikant für einen bestimmten Weltbezug. Da hängen Trophäen, unter denen steht, Graf So-und-so hat das irgendwo in Afrika geschossen. Es wird nicht begriffen, dass wir seit 100 Jahren in einer Republik leben und darum ein republikanisches Museumsverständnis brauchen.
Cornelia Kogoj: Eines der wenigen Museen, das von diesem Verständnis getragen ist, ist das Haus der Geschichte, das ja auch die Gründung der Republik als Ausgangspunkt nimmt. Aber man sieht auch, wie wenig Raum der Ausstellung für diese Erzählung zugestanden wird; sozusagen eine größere Wohnung. Letztes Jahr haben wir Maurita Poole, die das Museum der Atlanta University leitet, zu einer Konferenz nach Wien eingeladen. Bei ihrem Wienbesuch war sie auch im Haus der Geschichte. Dass in diesem kleinen Raum die gesamte jüngere österreichische Geschichte repräsentiert wird, das hat sie doch, sagen wir mal, sehr überrascht.

Cornelia Kogoj ist Geschäftsführerin der Initiative Minderheiten
Christian Kravagna ist Professor für Postcolonial Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien.
Cornelia Kogoj, Christian Kravagna: Das amerikanische Museum. Sklaverei, Schwarze Geschichte und der Kampf um Gerechtigkeit in Museen der Südstaaten
Mandelbaum 2019, 268 Seiten, 18 Euro

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