Das „Neunerhaus“ füllt sich mit Lebentun & lassen

Zwang ist entbehrlich

Das ehemalige Salesianer-Lehrlingsheim Ecke Hagenmüllergasse/ Lechnerstraße im 3. Bezirk ist zum „Neunerhaus“ mutiert – zu Wiens freiestem Obdachlosenquartier. Noch gerät man mitten in eine Baustelle, wenn man das Haus betritt. Doch der Großteil der Zimmer ist bereits bezogen. Die Anmeldeliste übersteigt die Kapazität. Bewohner Hans Rauscher und Hausleiter Hannes Lorenz boten dem AUGUSTIN Einblicke in eine Bleibe ohne Zwangsbetreuung.Im Stiegenhaus hängt eine Tafel. „Verhalten im Brandfall: 1. Alarmieren. 2. Retten. 3. Löschen.“ Solche Regeln können sogar AnarchistInnen gelten lassen. Sie spiegeln die in 1000 Jahren Feuerwehrkultur gereifte Rationalität wieder. Abgesehen davon ist das „Neunerhaus“ das wohl unregulierteste unter Wiens Obdachlosenheimen. Es kommt mit so wenig Regeln aus, dass es legitim ist, von einer neuen Qualität der Wohnungslosenhilfe in Wien zu sprechen. Darum hat die Stadtverwaltung auch lange gebraucht, bis sie das aus einer Bürgerinitiative entstandene Projekt letztlich akzeptierte und finanzielle Unterstützung anbot – unterscheidet sich das „Neunerhaus“ doch eklatant von den Obdachlosen-Kontroll-Anstalten der herkömmlichen Art.

Der Rauscher Hans zum Beispiel, der Anfang Februar das „Neunerhaus“ bezog, genießt die Differenz. „Hier bin ich ein freier Mensch. Ich kann gehen wann ich will und kommen, wann ich will“, sagt der 40jährige Niederösterreicher, den eine Scheidung vor 15 Jahren ins gesellschaftliche Out warf. Schon die „Hüsn“, mit der Hans zum AUGUSTIN-Interview erscheint, ist ein Zeichen der ungewohnten Freiheit im „Neunerhaus“: Niemand verbietet hier Alkoholkonsum. Im Rückblick erscheint ihm die „Meldemannstraße“, wo er die vergangenen zwei Jahre übernachtete, „wie ein Gefängnis“ – in dem er sich freilich hauptsächlich von unleidlichen und randalierenden „Mitgefangenen“ gepeinigt fühlte. Aber schon auch von der Hausordnung. „In der Meldemannstraße musst du nämlich um acht Uhr früh raus. Und du musst spätestens um 23 Uhr wieder zur Stelle sein. Tagsüber ist die Anwesenheit nur im Aufenthaltsraum gestattet.“

Ob Hans hier für immer bleibt, ist seine Sache

Im „Neunerhaus“ ist das alles anders. Hans Rauscher kann, wenn er will, in seinen eigenen vier Wänden dem lieben Gott den Tag stehlen. Und er kann seine vier Wände sogar mit einer Partnerin teilen.

Dann wird’s allerdings eng in seinem Kämmerchen. Ein Bett, ein Kleiderkasten, zwei Nachtkästchen, ein Tischchen und ein Schreibtisch stehen in dem Zwölf-Quadratmeter-Raum, von dem Hans, der Ex-Obdachlose, nicht weiß, ob er eine Dauerlösung ist oder eine Durchgangsstation, ein Sprungbrett zur Gemeindewohnung. Aber das ist ganz allein seine Wahl. Auch hierin unterscheidet sich das „Neunerhaus“ von den herkömmlichen Wohnungslosen-Anstalten. „Die BewohnerInnen können sich hier häuslich einrichten, ihre Wurzeln schlagen und auch hier alt werden. Es gibt keinen Druck auf eine möglichst schnelle `Integration`“, erläutern Hedi Scheiner und Markus Reiter vom Vorstand des „Neunerhaus“-Trägervereins. Noch weiß Hans ja nicht, wie sich das Zusammenleben in seinem Stockwerk gestalten wird, ob die Mitbewohner zu Hawerern werden oder ob sie ihn wenigstens in Ruhe lassen: Davon wird er es abhängig machen, ob er für immer bleibt.

Die Miete, rund 2000 Schilling, wird Hans aus seinem Notstandsgeld selber begleichen müssen, es sei denn, das Sozialamt springt mit Beihilfen ein. „Denen muss ich aber klar machen, dass das Grundstück in Dürnstein, das ich am Hals habe, nichts wert ist. Es ist eine unverwertbare Gstettn.“

Natürlich werden die oben erwähnten Brandfallregeln nicht die einzigen „Gesetze“ des „Neunerhauses“ bleiben. Die im Zusammenleben kumulierten Erfahrungen werden sich auch hier zu Normen verdichten. Aber es werden selbstverfasste Normen sein. Im „Neunerhaus“ soll es demokratischer zugehen als in den amtlichen oder kirchlichen Obdachlosenheimen.

„Es wird Hausversammlungen geben“, kündigt Hannes Lorenz an. Der diplomierte Sozialarbeiter, der bisher beim Psychosozialen Dienst, in der Alkoholikertherapie in Kalksburg, in der Notschlafsstelle für Jugendliche und zuletzt in der Aids-Hilfe arbeitete, ist seit 1. Jänner 2001 vom „Neunerhaus“-Verein als Heimleiter angestellt. Sein Auftrag lautet, in die Tat umzusetzen, was im Konzept des Trägervereins als Zielsetzung formuliert ist: „Die Menschen, die im Haus wohnen, werden nicht `verwaltet`, sondern sollen zur Selbstorganisation befähigt werden“.

Zoologie des „Neunerhauses“

Aber wie macht man einsame Wölfe zu partizipierenden Mitbewohnern, wie ermuntert man und Männer und Frauen, die jahrzehntelang verwaltet wurden, zur Selbstorganisation? Und wie gestaltet man den Hausfrieden, wenn man Trinken gestattet – und Haustiere erlaubt? Zu einem „Himmelfahrtskommando“ habe er sich gemeldet, ätzten Bekannte, als sie von Hannes Lorenz‘ Bewerbung fürs „Neunerhaus“ erfuhren. Es ist keine Himmelfahrt geworden, so kann der Hausleiter nach den ersten Wochen resümmieren.

Selbst die befürchtete Invasion der Haustiere ist ausgeblieben. „Wir haben bisher zwei Hunde, zwei Katzen und ein Aquarium im Haus“, berichtet der Sozialarbeiter. Vierbeiner grundsätzlich zu tolerieren, ist ein wesentliches „Neunerhaus“-Anliegen. Denn bisher waren HundebesitzerInnen aus den Notquartieren ausgeschlossen. Und sollte das Haus dereinst zoologisch außer Rand und Band geraten, ist eben die Hausversammlung als Legislative gefragt.

Auf solchen Versammlungen sollen auch die Bewohner-Vertreter gewählt werden. Diese sind dann, so stellt sich Hannes Lorenz das vor, Teil des Leitungsteams. Weiters will der Hausleiter Stockwerksversammlungen anregen – Kleingruppen von sechs bis acht BewohnerInnen, die die Konflikte des Zusammenlebens möglichst gemeinsam zu bewältigen haben.

Lorenz sieht sich nicht in erster Linie als „Betreuer“. Doch er will sich engagieren, um Entfaltungsmöglichkeiten für die HausbewohnerInnen zu erweitern. Gemeinsam mit ehrenamtlich tätigen SozialarbeiterInnen soll rund um das „Neunerhaus“ ein Mitmach-Angebot auf künstlerischen, sportlichen und geselligen Feldern entstehen.

So können AUGUSTIN-LeserInnen das „Neunerhaus“ unterstützen: mit Geldspenden an das Konto (siehe Kasten), mit Gebrauchsgegenständen für die Wohnungseinrichtung und die entstehenden Gemeinschaftsräume. „Wir bräuchten zum Beispiel Wuzzelautomaten, Tischtennistische, Kühlschränke, Elektroherde, Waschmaschinen und Bettzeug“, listet Hannes Lorenz den Bedarf auf. Der Bedarf an Möbel sei bereits gedeckt.

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