Wenn im Juli das alljährliche Schrammel.Klang.Festival stattfindet, mutiert das sonst so beschauliche Städtchen Litschau im äußersten Norden des Waldviertels wieder zum Nabel der Weltmusik. Eine Erkundung der Gegend mit dem Fahrrad.
Auf dem kurzen Weg vom Busbahnhof hinauf zum «Theater- und Feriendorf Königsleitn» in Litschau begegnet mir niemand zu Fuß, aber doch das eine oder andere Auto. Erstaunlich viele haben Wiener Kennzeichen. Vermutlich sind das «Zweiheimische» – Menschen, die das Privileg genießen, weit weg von der hektischen Hauptstadt ein zweites, ruhigeres Zuhause zu haben. Die Kfz-Schilder der Einheimischen beginnen mit «GD». Die beiden Buchstaben stehen für den Bezirk Gmünd, doch es gibt auch andere Lesarten. «Ganz Droben» zum Beispiel. Für die Gegend um Litschau ist das besonders zutreffend, denn die Festivalstadt am idyllischen Herrensee ist die nördlichste Stadt Österreichs. Ein kurzer Blick auf die Landkarte genügt: Außer nach Süden hin ist Litschau in alle Himmelsrichtungen von der nahen Grenze umgeben. Sie zu überwinden, ist längst kein schwieriges Unterfangen mehr, aber als ich in den 1980er-Jahren hier erstmals die Gegend erkundete, war das anders. Ich erinnere mich an das mulmige Gefühl beim Anblick der vielen Warnschilder mit der Aufschrift «Achtung Lebensgefahr – Staatsgrenze!».
Aber zurück zur diesbezüglich viel erfreulicheren Gegenwart. Genau dort, wo der Schrammel.Klang seinen Festivalsitz hat, in Königsleitn, übernehme ich mein vorbestelltes E-Bike. «Wohin fährst du?», fragt mich Nicole an der Rezeption. Ich erzähle, dass ich vorhabe, als Erstes bei Schlag über die Grenze zu den Teichen bei Chlum zu radeln. «Einen besseren Vorschlag hätte ich dir nicht geben können, diese Strecke ist wirklich wunderschön!», gerät Nicole ins Schwärmen. Gemeinsam mit dem E-Bike überreicht sie mir eine Radkarte, auf der sie mir noch den genauen Standort ihres Lieblings-Fischrestaurants einzeichnet.
Fichten- und Schilderwald
Bis zur Grenze liegt nur die kleine Ortschaft Schlag auf meinem Weg, doch bereits auf diesen allerersten Kilometern meiner Fahrt stellt sich beim Anblick der wunderbar unspektakulären Landschaft typisches Waldviertel-Feeling bei mir ein. «Da gibt’s ja nix, dort oben!» höre ich noch den Bus-Chauffeur sagen, der mich von Göpfritz nach Litschau gefahren hat. Genau: Hier gibt es nichts, das stören würde: keine versiegelte Landschaft, keine Autokolonnen, keine lärmenden Menschenansammlungen! Nur Wiesen, Felder und Wälder. Und fröhliches Vogelgezwitscher. Trotzdem ist kaum etwas in dieser uralten Kulturlandschaft «unberührt» von Menschenhand. Am ehesten vielleicht die zahllosen Granitformationen, die wie extra fürs Foto arrangiert in der Gegend verstreut liegen.
Zwanzig Jahre nach der Eröffnung des Grenzübergangs bei Schlag für Radler:innen und Wanderer:innen im Jahr 1994 wurde die Straße L63 bis zur Staatsgrenze saniert. Ganz im Gegensatz zum Alten Zollhaus, auf dessen Fassade schon seit geraumer Zeit der Putz abbröckelt.
An der Staatsgrenze steht auf einer Lichtung im Fichtenwald ein kleiner Schilderwald. Zwei Informationstafeln springen mir besonders ins Auge: «Der Weg entlang der Lainsitz verbindet uns» steht zweisprachig auf der einen Tafel, die den 230 Kilometer langen Wanderweg von der Quelle der Lainsitz bei Karlstift bis zur Mündung in die Moldau bewirbt. Die andere Tafel bezieht sich auf das Biosphärenreservat Třeboňsko, dessen Landschaftsbild von hunderten Teichen bestimmt wird. Ein kleiner Vorgeschmack darauf erwartet mich bereits wenige Minuten hinter der Grenze: Ich stehe am östlichen Ufer des Hejtman-Badesees und bin überrascht von seiner Ausdehnung. Kilometerweit nur dunkelblaues Nass! Die Kirche von Chlum am gegenüberliegenden Ufer halte ich aus der Ferne für ein Schloss. Erst bei der Weiterfahrt am Südufer des Hejtman-Sees zeichnen sich die Umrisse der Wallfahrtskirche zu Mariä Himmelfahrt immer deutlicher ab, die der Basilika von Mariazell nachempfunden sein soll. Viel Ähnlichkeit kann ich allerdings nicht erkennen.
Direkt am Seeufer reiht sich ein Campingplatz an den nächsten. Entsprechend gut ausgebaut ist die touristische Infrastruktur im Städtchen Chlum u Třeboně. Mitten im Ort kreuzen sich verschiedene Fernradwege. Ich entscheide mich spontan für den 322er. Er führt entlang des Westufers des Hejtman-Sees zunächst nach Staňkov und zum gleichnamigen Teich, der noch größer ist als der Hejtman-See. Anschließend verläuft mein Radweg durch ein ausgedehntes Waldgebiet. Auf diesem 13 Kilometer langen Streckenabschnitt begegnet mir außer einer tschechischen Familie keine Menschenseele. Ein paar Kilometer oberhalb des nördlichsten Punktes von Österreich mündet der Radweg 322 in den 32er ein, dem ich nun nach Süden in Richtung Staatsgrenze folge.
Geschleifter Ort
Gegen 14 Uhr erreiche ich den Neumühler Teich. Gleich daneben steht das Waldhotel Peršlák, wo ich zum Mittagessen einkehre. Auf der Terrasse komme ich mit einem sportlichen Radfahrer aus dem Waldviertel ins Gespräch. Wir unterhalten uns über das südböhmische Grenzland mit seinen vielen Radwegen. Die 100-Teiche-Tour, die auch nach Třeboň führt, hat es ihm besonders angetan. Neben den vielen Teichen stehen dort riesige alte Bäume, die es im Waldviertel kaum mehr zu sehen gibt.
Das Waldhotel Peršlák hat eine interessante Geschichte. Das Gebäude wurde vor mehr als hundert Jahren für die Zollwache erbaut. Gleich daneben stand damals noch das Dörfchen Neumühl. Nach der Vertreibung der deutschsprachigen Einwohner:innen wurde der Ort 1953 geschleift. Er lag zu nahe an der österreichischen Grenze. Ein paar Ruinen erinnern an Zeiten, als hier deutsch und tschechisch sprechende Menschen friedlich zusammenlebten. Direkt daneben steht ein Relikt des Eisernen Vorhangs.
Nach dem Mittagessen folge ich einem kurzen Pfad, der mich zum nördlichsten Punkt Österreichs bringt. Er befindet sich genau an der Einmündung des Rottaler Bachs in den Neumühlbach. Von der tschechischen Seite blicke ich hinüber auf das Nordkap Österreichs! Gleich hinter dem Grenzstein mit der Inschrift «Ö» steht ein gelbes Wanderwegschild. Es zeigt in Richtung Rottal und Haugschlag. Genau dort möchte ich hin. Natürlich könnte ich gleich hier durch den knietiefen Bach waten, doch mit dem Fahrrad wäre das schwierig. Also zurück zum Hotel Peršlák und von dort zu einem schmalen Holzsteg, der mich von Tschechien wieder zurück nach Österreich bringt. Direkt auf meinem Weg liegt ein altes Bauernhaus, das zu einem schmucken Feriendomizil umgebaut wurde. Es ist das nördlichste Haus in unserem Land! Im weitläufigen Garten stehen mehrere Liegestühle.
156 km nach Wien
Bald stehe ich bei der «Europaeiche», auf der Wegweiser mit Entfernungsangaben montiert sind, die die Richtung in verschiedene europäische Großstädte zeigen. Nach Wien sind es von hier aus 156 Kilometer. Mein Ziel liegt deutlich näher. Durch die Streusiedlung Rottal führt mein Weg auf der wenig befahrenen Straße bis kurz vor Haugschlag stetig bergauf. Auf einem Aussichtsbankerl beim Golfplatz lege ich eine letzte Verschnaufpause ein. Von der nördlichsten Gemeinde Österreichs geht es dann zügig zurück nach Litschau. Diese kleine Erkundungstour hat mir das Warten aufs diesjährige Schrammel.Klang.Festival auf sehr angenehme Weise verkürzt!
Schrammel.Klang.Festival
7. – 9. & 14. – 16. Juli
www.schrammelklang.at