«Das schmeißen wir alles weg»vorstadt

Aus Protest gegen die Lebensmittelverschwendung und Konsumgesellschaft «dumpstern» oder «containern» immer mehr Menschen und retten noch essbare Nahrungsmittel – besonders gern die von Supermärkten weggeschmissenen. Clara Schwöllinger (Text und Fotos) begleitete einen Mülltaucher.

Langsam füllt sich der Asphaltboden des spärlich belichteten Müllraums mit geretteten Lebensmitteln. Pflücksalat, unbehandelte Orangen und Mohnkuchen. Ein intensiver Geruch von verfaulten Himbeeren liegt in der Luft. Es ist kalt. Wolf Hoog (47) «taucht» erneut in eine der fünf großen schwarzen Restmülltonnen, in dem er sich zuerst abstützt und dann in die große Tonne kippen lässt. Er fischt einen weiteren Müllsack heraus, dieses Mal ein schwarzer, sehr schwerer. «Der ist vom Billa, das spürt man», sagt Hoog, während er den Müllsack mit seinen dreckigen, nassen Händen knetet. Der Inhalt: schätzungsweise vierzig Packungen Billa Kokosbusserl. Das Ablaufdatum zeigt den 09. 02. 2019 [gefunden im November 2018, Anm. d. Red.].

Wolf Hoog kommt ursprünglich aus Linz, ist gelernter Ergotherapeut und führt einen etwas anderen Lebensstil. Er lebt «freegan» und verzichtet somit weitgehend auf Konsum. Hoog dumpstert (leitet sich von «dumpster», englisch für Müllcontainer, ab) stattdessen schon seit vielen Jahren und ernährt sich hauptsächlich von Lebensmitteln aus dem Müll, die Supermärkte wegschmeißen, obwohl sie noch essbar sind. Und kredenzt diese auch den Gästen seines nach Terminvereinbarung geöffneten Café Hoog, einem «freeganen Begegnungsort», wie es auf der Website heißt. «Am Anfang war es eine Ergänzung zu dem, was ich normal einkaufe, aber es wurde dann immer mehr. Jetzt muss ich mich bemühen, dass es nicht mehr als 90 Prozent werden», erzählt Hoog.

Sonntagsspaziergang.

Ausgerüstet mit Wander-Rucksack, Müllsäcken und einem, ebenfalls gedumpsterten, hellblau-weißen Einkaufstrolley geht Hoog meist sonntagnachmittags containern. Da sind die Geschäfte geschlossen und er bringt die Verkäufer_innen, die in dem jeweiligen Supermarkt arbeiten, nicht in den Gewissenskonflikt, ob sie dagegen einschreiten sollten oder nicht. Er hatte immer drei unterschiedliche Müllräume in der Nähe seiner Wohnung, bei welchen er sich regelmäßig bediente. Allerdings wurden dort vor kurzem die Schlösser gewechselt. Jetzt ist ein Müllraum in der Nähe des Augartens mit fünf Restmülltonnen, einer Biotonne und zwei Altpapiertonnen, mit Supermarkt- und Haushaltsmüll seine Nahrungsmittelquelle.

In seiner Wohnung angekommen wäscht Wolf Hoog die gedumpsterten Lebensmittel gründlich, da es immer wieder vorkommt, dass Nahrungsmittel ausrinnen. Auch dieses Mal geht er mit bis zum Rand gefüllten Rucksack und Trolley nach Hause. Die Ausbeute: geschnittene Gurken und Paprika, Salate, Kaffee, Bananen, Kiwis, Orangen, Zitronen, Milch, Mascarpone, diverse Kuchen und Aufstriche, Kokosbusserl, Brot und sogar Blumensträuße. Mit einem Schmunzeln im Gesicht erzählt Hoog, dass er ab und an auf wahre Schätze stößt. Einmal habe er sogar Kaviar gedumpstert.

Laut einer Studie des WWF aus dem vergangenen Jahr über Lebensmittelverschwendung fallen in Österreich jährlich 577.000 Tonnen an vermeidbaren Abfällen an. Ein häufiger Grund ist das sogenannte Mindesthaltbarkeitsdatum, das im Gegensatz zum Verbrauchsdatum kein empfohlenes Wegwerfdatum anzeigt. Dadurch werden irrtümlicherweise teils noch essbare Lebensmittel entsorgt. «Die Menschen fühlen sich wie die Krone der Schöpfung und wissen aber nicht, ob sie etwas nun essen dürfen oder nicht, wenn eine Zahl draufsteht. Obwohl sie nur so was wie eine Garantie ist», meint Wolf Hoog. Doch nicht nur Privatpersonen, sondern auch Lebensmittelkonzerne entsorgen genau aus diesem Grund täglich Unmengen an Nahrungsmitteln.

Schauplatz Brotregal.

Zwei Verkäuferinnen einer Supermarktfiliale in Wien-Simmering antworten auf die Feststellung, dass an einem Montagabend um 18 Uhr noch das gesamte Brotregal gefüllt sei und die Frage, was nach Ladenschluss mit der nicht verkauften Ware passiere, ganz direkt mit: «Das schmeißen wir alles weg. Nicht einmal wir dürfen uns etwas mitnehmen, das gilt als Diebstahl. Wenn wir etwas wollen, müssen wir es bezahlen.» Der Müllraum in dieser Filiale befindet sich in einem abgeschlossenen Bereich, es wäre also auch nicht möglich, dort dumpstern zu gehen. Viel zu viel würde weggeschmissen werden, und nur selten hole sich der Bäcker das alte Brot zurück, um daraus beispielsweise Brösel zu machen, erzählen die Frauen. «Der Mensch richtet sich alles selber. Wir sind selber schuld, dass es so ist», sagt eine der Verkäuferinnen mit einem Kopfschütteln.

Voll im Trend.

Dumpstern wurde in den letzten Jahren immer beliebter – die Community findet immer mehr Anhänger_innen: Alleine für Wien gibt es auf Facebook bereits zwölf Dumpster-Gruppen, welche in Bezirken aufgeteilt sind und wo jede_r, der_die Interesse hat, «Müll-Luft» zu schnuppern, beitreten kann. Die Hauptgruppe zählt bereits rund 4000 Mitglieder und wächst täglich. Auf diesen Seiten tauscht man sich mit anderen Dumpsterern aus, verschenkt gerettete Lebensmittel, plant die nächsten nächtlichen Dumpster-Aktionen und kann sogar Generalschlüssel erwerben, mit welchen man sich Zutritt zu Müllräumen der Supermärkte Wiens verschaffen kann. Einen Schlüssel für den Wiener Einheitszylinder (WEZ 2000), wie ihn die Müllabfuhr und die Feuerwehr verwenden, gibt es um 18 Euro, einen Zentral-Schlüssel (auch Z-Schlüssel oder Postschlüssel genannt) um acht Euro oder das Set um 25 Euro. Der Z-Schlüssel schließt sogar österreichweit, außer in Vorarlberg, doch der Wirkungsgrad des WEZ 2000 wird immer geringer: Supermarktketten stellen immer öfter auf elektronische Zutrittssysteme um.

Eine Frage des Zutritts.

Ob Dumpstern legal oder illegal ist, hängt in erster Linie davon ab, wie man sich Zutritt zum jeweiligen Müllraum verschafft. «Ist ein Müllraum abgesperrt und es wird etwas, beim Versuch, die Tür zu öffnen, beschädigt, gilt das als ganz normaler Einbruchsdiebstahl (§ 129 StGB). Es können bis zu drei Jahre Gefängnis drohen», so ein Beamter der Polizeidienststelle Simmering. Allerdings hatten die Polizist_innen dieser Dienststelle noch nie einen derartigen Fall.

Ist man im Besitz eines Generalschlüssels und betritt einen Müllraum ohne etwas zu beschädigen, kann das mit einem widerrechtlich nachgemachten Schlüssel, wie einem WEZ 2000, strafbar sein. Einen Postschlüssel anfertigen zu lassen, ist hingegen legal, da das Patent abgelaufen ist. Grundsätzlich ist aber zu klären, ob es sich bei dem Herausnehmen von weggeschmissenen Lebensmitteln um Diebstahl handelt: Müll gilt in Österreich rechtlich gesehen als «gewahrsamsfreie Sache», auf die jemand verzichtet hat, also herrenloses Gut. Ausnahme hierbei ist Retourware, welche sich für gewöhnlich nicht in Müllcontainern, sondern in Plastiksteigen mit Rückschein befindet. Sollte man diese mitnehmen, würde man rechtlich gesehen einen Diebstahl (§ 127 StGB) begehen. Ansonsten handelt es sich um eine rechtliche Grauzone und es muss im Einzelfall überprüft werden, ob ein strafrechtliches Delikt vorliegt, oder nicht.

Unerreichbar.

Ärger bereiten rücksichtslose Dumpsterer weniger der Polizei als viel mehr den rücksichtsvollen Mülltaucher_innen wie Wolf Hoog, wenn sie aus Angst und Stress, erwischt zu werden, Müllsäcke willkürlich aufreißen. So wird das Dumpstern für andere erschwert. Mehr noch: Es macht es teilweise unmöglich, herausgefallene Lebensmittel am Boden der Müllcontainer zu erreichen.

www.cafe.hoog.at