Ein subjektiver Bericht vom Volksstimmefest
Erstes Septemberwochenende in Wien. Victor Halb (Text und Fotos) schlenderte über die Jesuitenwiese und warf einen Blick in die Archive.
Der liebe Gott muss Kommunist sein. Dauerregen war prognostiziert, mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit, aber jetzt kommt sogar die Sonne heraus. Das Volksstimmefest ist Wiens schönstes Fest. So steht es auf dem Plakat. Zu einem schönen Fest gehört, dass man sich nicht nur die Kante gibt. Als Einstieg nehme ich die «Initiativenstraße».
Dass die Mieten leistbar sein müssen, am besten dadurch, dass die Löhne steigen und die Mietkosten sinken, kann ich nur unterschreiben. Den machtvollen Streiks im Herbst gegen 12-Stunden-Tag und 60-Stunden-Woche sehe ich jetzt mit noch mehr Zuversicht entgegen. Ich habe gegen die Legalisierung von Hanf nichts einzuwenden und unterstütze das Bedingungslose Grundeinkommen für alle. Weiters habe ich noch eine kostenlose Rechtsberatung durch einen Anwalt in Anspruch genommen, meine Pensionssituation betreffend.
Vereinzelt fliegen Kinder im Kettenkarussell. Grellbunte Riesenluftballons schwanken im Wind. Zum Glück gibt es kein Kinderschminken. Aber der Nachwuchs kann, eingespannt an langen Gummibändern, auf den Trampolins ein wenig zum Kosmonauten oder zur Kosmonautin werden. Im Autodrom glitzern die Şkodas und Wartburgs in der Sonne. Überwiegend wird kindgerecht und rücksichtsvoll gefahren.
Streitfrage.
Ob das Volksstimmefest tatsächlich das schönste Fest Wiens ist, darüber lässt sich streiten. Jedenfalls ist es das traditionsreichste. 1946 zusammen mit der damals noch täglich erschienenen Volksstimme ins Leben gerufen, ist es die Mutter aller Wiener Parteifeste. In den Glanzzeiten des Kalten Kriegs war das Fest regelmäßig von 100.000 bis zu 228.000 Menschen besucht worden. Und zwar nach Angaben der Polizei! Bei der beliebten Tombola zur Finanzierung des Fests hatte man zuerst Haushaltsgeräte gewinnen können, dann waren Fahrräder und Mopeds die Hauptpreise, schließlich Reisen und bis zu fünf Autos. Die Praterfeuerwerke wurden quasi ebenfalls hier erfunden. Die sozialistischen Bruderländer und Schwesterparteien hatten zum Kulturprogramm und angeschlossenen Sportfest entsandt, was damals Rang und Namen hatte. Kosmonauten, Kosmonautinnen. Karel Gott. Der Schachweltmeister Karpow hatte mehrmals hier gespielt. Das Boxturnier war lange der Termin im österreichischen Boxkalender gewesen. Es hatte ein Radkriterium Rund um die Jesuitenwiese gegeben. Und als dem sowjetischen Gewichtheber Juri Wlassow beim Volksstimmefest 1963 ein Weltrekord gelungen war, schaffte es das ansonsten konsequent totgeschwiegene Kummerlfest sogar einmal, in den bürgerlichen Medien erwähnt zu werden, wenn auch nicht mit seinem Namen: «Bei einem Wiesenfest im Prater …»
Ein langsamer, stetiger Wandel, eine organische Entwicklung von Jahr zu Jahr war die Regel, und es gab Brüche. Zum Beispiel, was das Musikprogramm angeht: Mit einem Wettbewerb für junge Bands öffnete sich das Fest seit 1964 immer mehr für Rock-, Jazz- und Popmusik, was bis dahin von der volkstümelnden Fraktion in der KPÖ als «prowestlich dekadent» abgelehnt worden war.
Die Nahrungsversorgung hat sich ebenfalls verbessert seit den 1950er-Jahren. Soll ich mir vielleicht einen Veggieburger geben? Denn ein großes Transparent an dem Stand gibt zu bedenken: «Wenn Schlachthöfe Glaswände hätten, dann gäbe es sie nicht mehr» – und evoziert damit unangenehme Bilder vor meinem inneren Auge. Das verdirbt mir den Appetit, leider auch auf den Veggieburger.
Markttaktisch ist das eher ungeschickt, denke ich mir, für einen Essensverkauf zu werben mit Ekelassoziationen. Und dass es andererseits mit der permanent beklagten Verkommerzialisierung des Volksstimmefests nicht weit her sein kann, wenn selbst die kommerziellen Standl, die mit ihrer Platzmiete einen Großteil der Festkosten tragen, derart die Botschaft, in diesem Fall die vegetarische, vor eine verkaufsfördernde Appetitanregung stellen.
Gespräch unter Freunden.
Und ich genehmige mir einen Asado-Fleischspieß von den Paraguayos, schräg gegenüber, und dazu einen Plastikbecher Bier, und setze mich zu meinen imaginären Freunden.
«Das ist schon verdammt viel Old School hier», sagt der Neuerer. «So kann man Inhalte heute nicht mehr verkaufen.» –
«Am besten ganz weglassen, die Inhalte», sagt der Zyniker. «Inhalte sind out. Die Leute wollen nur noch mit dem reinen inhaltsleeren Spektakel geblendet und manipuliert werden. Nur so kannst du die Leute heute noch erreichen.» –
«Ich sehe das als Wellenbewegung», sagt der Dialektiker. «Es kommt auch wieder eine Zeit, in der sich die Leute für unsere Inhalte interessieren werden. Durch das Tal müssen wir durch. Wir müssen zeigen, dass es uns auch gegen den Zeitgeist immer noch gibt.» –
«Ich finde es schön», sagt der Familienmensch, «dass man hier all die Leute trifft, die man sonst das ganze Jahr über nicht sieht.» –
«Das ist mir zu wenig», sagt der Politiker. «Wir sollten schon auch Impulse setzen in die Gesellschaft.» –
«Ihr geht mir auf die Nerven mit eurer Diskutiererei», sagt der Hedonist. «Es ist ein Fest, nicht mehr und nicht weniger. Feste sind zum Feiern da, Punktum! Und prost!»
Der liebe Gott mag Kommunist sein, aber der Hl. Petrus erweist sich auch heuer wieder als reaktionäres Arschloch. Ab vier Uhr nachmittags zieht ein schweres Gewitter auf und es schüttet wie aus Kübeln. Wer keinen Unterstand findet, muss das Weite suchen.
Ein Festzelt muss her, in Zukunft. Was die Innengestaltung angeht, da ergäbe dies viele neue Möglichkeiten. Ein Museumsparcours durch die Geschichte der Linken? Mit Kino, Ausstellungen, Konzertbühne und kleinen gemütlichen Separées, für politische Gespräche?
Ich komme auch am morgigen Sonntag wieder her. Denn man mag vom Volksstimmefest halten, was man will – wegen der Denkanstöße, die es einem mitgibt, gehört es auf alle Fälle zu den schönsten Festen in Wien. Und eines ist unzweifelhaft klar: Es wäre wirklich schade, wenn es das Volksstimmefest eines Tages nicht mehr geben würde.