Meister der Unauffälligkeit
Franz K., Gemeindebediensteter im niederösterreichischen Loosdorf, hatte sein Erweckungserlebnis als Jenischer im Urlaub in Oberitalien. Auf einem Straßenmarkt in einer Kleinstadt kam er mit einem italienischen Händler ins Gespräch. Erst nach einer Viertelstunde intensiver Verhandlungen und durchaus gelungener Kommunikation stellte Franz K. mit einigem Erstaunen fest, dass er ja kein Wort Italienisch könne und sein Gesprächspartner kein Deutsch. Trotzdem hatte die Verständigung ganz prächtig geklappt, ohne dass man Hände oder Füße, also Gestik und Pantomimik zu Hilfe nehmen hätte müssen.Der Grund für diesen überraschenden Kommunikationserfolg: Der Loosdorfer hatte einfach mehr oder weniger automatisch Wörter und Wendungen benützt, die er in seiner Kindheit von seinen Großeltern gehört und bis dahin für eine Art von spleenigen Loosdorfer Dialekt gehalten hatte – und war seltsamerweise verstanden worden: Die weithin unbekannte und an keiner Schule, keiner Universität gelehrte Weltsprache „Jenisch“, europäische Lingua franca der Fahrenden seit dem späten Mittelalter, hatte wieder einmal zugeschlagen.
In aller Öffentlichkeit derart „Jenisch zu baaln“, also Jenisch zu sprechen hätte Franz K. noch vor wenig mehr als sechs Jahrzehnten eine einfache Fahrt ohne Retourbillett nach Auschwitz oder in ein anderes KZ eintragen können. Als angebliche „Asoziale“, „verwahrloste Jugendliche“ „Zigeunermischlinge“, „Kriminelle“, gerieten nämlich in der NS-Ära viele Jenische in die Fänge des braunen Terrorapparates, etwa des „Kriminalbiologischen Institutes der Sicherheitspolizei im Reichssicherheitshauptamt“ und hatten mit dem Schlimmsten zu rechnen. Nicht erst durch diese brutale Verfolgung im SS-Staat sind die Nachkommen der Jenischen, deren Zahl allein in Österreich, Deutschland, der Schweiz und Frankreich auf einige Hunderttausend geschätzt wird, Meister der Mimikry, der bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Unauffälligkeit, ja der Tarnung, inmitten einer Gesellschaft, die ihren Vorfahren durch Jahrhunderte eher unfreundlich gesonnnen war.
Denn die tiefe Abneigung, ja der Hass der Obrigkeiten auf die umherziehenden und damit kaum der staatlichen Kontrolle zu unterziehenden Jenischen ist nicht erst eine Erfindung der NS-Ära. 1857 etwa richtete das k. k. Bezirksamt Melk eine Denkschrift an die „hohe Staatsverwaltung“ und forderte darin nichts weniger als die Auflösung der damaligen Pfarrgemeinde Sitzenthal bei Loosdorf und die Vertreibung ihrer jenischen BewohnerInnen: „Der Existenz dieser lebensunfähigen Gemeinde Sitzenthal in ihrer jetzigen Gestaltung [ist] ein Ende zu machen. Wenn an der Stelle dieser beinahe heidnischen Vagabundenhorde das Dorf von wenigen, aber fleißigen ArbeiterInnen-Familien bewohnt wäre, welche reichlichen Erwerb fänden, so würde dieses Dorf statt einer Landplage eine Wohltat für unsere an fleißigen Handarbeiten ohnedies großen Mangel leidende Gegend [sein].“
„Der gränzenlosesten Faulheit überlassen“
Dieses Dokument des Hasses – das 1865 in den „Blättern für Landeskunde von Nieder-Oesterreich“ publiziert worden ist, was als Zustimmung maßgeblicher Schichten zu den wüsten Ausführungen der beamteten AutorInnen gedeutet werden kann – richtete sich mit aller Schärfe gegen die heutige Loosdorfer Katastralgemeinde Sitzenthal: „Das Dorf zählt 21, größtenteils elende Hütten und Häuser, und außer den paar Quadratklaftern Grund, worauf dieselben erbaut sind, gehört dazu auch nicht das kleinste Stück Hausgrundbesitz. Dennoch kann man, so unglaublich dies scheinen mag, die jeweilig anwesende Bevölkerung von Sitzenthal auf beinahe 200 Seelen annehmen, während die Zahl der in diese Gemeinde zuständigen, welche aber wegen des vagabundierenden Lebens derselben schwer zu eruieren ist, gegen 600 Köpfe betragen soll.“ „Schwer zu eruieren“ für die Obrigkeit blieben die Jenischen bis heute, misstrauisch gegen die „Gadschi“, gegen die Nicht-Jenischen, die nie auch nur das geringste Verständnis für die Mühen eines Leben auf der Landstraße aufbringen konnten. Auch die in gesicherter, bürgerlicher Existenz lebenden, in der Geschützten Werkstätte ihres Bezirksamtes werkenden Melker JuristInnen hatten für die gänzlich andere Lebensform nur Verachtung und Verleumdung übrig: „[…] fast die ganze Bevölkerung besteht aus herumziehenden Strazzensammlern, ein Geschäft, welches ziemlich einträglich sein könnte. Da diese Leute jedoch von Kindheit an, an ein müßiges Vagabundenleben gewöhnt sind, so betreiben sie auch dieses Geschäft nur so lange, bis sie etwas Geld verdient haben, womit sie dann nach Hause zurückkehren, und sich, so lange das Geld reicht, der gränzenlosesten Faulheit überlassen…“ Im übrigen dürfte mit dem mühseligen Sammeln von Lumpen noch keiner wirklich wohlhabend geworden sein, einträglicher war da wohl der gehobene Verwaltungsdienst in einer Bezirkshauptmannschaft noch allemal.
„Dasein Gottes meist gänzlich unbekannt“
Gingen die NS-Behörden gegen die Jenischen vor allem auf Basis einer verworrenen und pseudowissenschaftlichen Rassenlehre vor, so schützte die k. k. Obrigkeit vor allem religiös-moralische Argumente vor, um Zwangsmaßnahmen gegen die jenischen Untertanen ergreifen zu können: Wie der Herr Pfarrer von Loosdorf als Seelsorger bezeugen kann, ist in Sitzenthal die Zahl unehelicher Kinder bei weitem überwiegend, Konkubinate gibt es bei weitem mehr als Ehen, ja es gibt mehrere Beispiele von 2 bis 3 unehelichen Generationen. Dabei kommen häufig blutschänderische Verhältnisse in den nächsten Verwandschaftsgraden vor. Die meist unehelichen Kinder werden von ihren lüderlichen Eltern von Geburt an in der Welt herumgeschleppt; von Schul- und Kirchenbesuch oder von Religionsunterricht ist fast durchgehends keine Rede. In gänzlicher Unwissenheit, unter den empörendsten Beispielen von Roheit und Unsittlichkeit wachsen diese Kinder auf, und werden von ihren Eltern bloß in Betteln und Stelen unterrichtet.“
Gegen diese Freiheiten setzte der damalige Staat seine Machtmittel ein: „Bei den häufig stattfindenden nächtlichen Streifungen in Sitzenthal fand man oft in einer Stube bei 20 Personen jeden Alters und Geschlechtes untereinander fast alle ohne Bekleidung beisammen, wie dies von dem Gemeindevorstande bestätigt werden kann. Bei der herumziehenden Lebensweise der Eltern ist auch ein Schulbesuch und Religionsunterricht der Kinder nicht leicht mit gesetzlichen Mitteln zu erzwingen, und wenn Brautleute aus Sitzenthal zur Religionsprüfung kommen, so sind ihnen die allgemeinsten Grundwahrheiten der christlichen Religion, z. B. das Dasein Gottes meist gänzlich unbekannt. […]. Daß bei einer solchen Erziehung die Bevölkerung seit jeher den Kriminalgefängnissen reichlichen Tribut liefert, ist natürlich, und die Polizei- und Kriminalakten des ehemaligen Landgerichtes Schallaburg, in dessen Sprengel Sitzenthal gehört, werden hierfür den besten Beleg liefern.“
Franz Jansky, der Sammler bedrohter Wörter
Die heutigen Jenischen sind in der Regel längst sesshaft – und damit unsichtbar geworden. Ihre althergebrachte Sprache und Kultur pflegen sie wie schon seit jeher unter sich, „Gadschi“, also Nicht-Jenische, sind weitgehend ausgeschlossen. „Dunkel ist die Herkunft der so genannten Jenischen, vergessen ihr Schicksal, mysteriös ihre Ausdrucksweise, meinte etwa der Münsteraner Germanist Klaus Siewert, der sich der nicht gerade einfachen Erforschung eines Idioms widmet, das zweifellos die unbekannteste europäische Sprache darstellt und zahlreiche Lehnwörter aus dem Hebräischen und Jiddischen, dem Roma und Sinti und aus vielen weiteren Sprachen, darunter dem Deutschen enthält. 1990 begann der Loosdorfer Lehrer Franz Jansky Ausdrücke und Wendungen, die er vor allem von seinen SchülerInnen gehört und zunächst überhaupt nicht verstanden hatte, zu dokumentieren und zu sammeln. „Als „Zuagroasta“ […] wuchs ich nicht mit der jenischen Sprache auf. Ich stieß aber als Loosdorfer und Loosdorfer Lehrer, den Sprachen und andere Kommunikationsformen sehr interessierten, immer wieder auf das Jenische: Es wurde im Wirtshaus, auf dem Sportplatz, in der Schule und auf der Straße gesprochen – überall dort eben, wo Leute zusammenkommen.“ 1991 gab Jansky seine Wörtersammlung in Form eines kleines, photokopierten Heftes mit dem Titel „Noppi Gadschi, Jenisch baaln“ (Nicht Deutsch, sondern Jenisch reden) heraus -und musste sich daraufhin von Ewiggestrigen anonyme Morddrohungen gegen sich gefallen lassen. Mittlerweile hat seine Schrift schon mehrere Auflagen erlebt, und die Gesamtzahl der verkauften Exemplare übersteigt die Zahl der Loosdorfer Bevölkerung bei weitem. Jenisch ist in, meint Franz Jansky, das Schweigen der Jenischen gehört der Vergangenheit an, jedenfalls in Loosdorf. Eine stets an den Rand der Gesellschaft gedrängte, auch materiell immer marginalisierte Bevölkerungsgruppe, die jahrhundertelang als Goschpflanzer (Korbflechter), Gsiwalpflanzer (Siebmacher), Johner (Musikant), Schrenzierer (Hausierer), Ketterlpflanzer (Pfannenflicker), Dachlingpflanzer (Regenschirmmacher), Ketterlschrenzierer (Geschirrhändler) und Straznsammler (Fetzensammler) über die Landstraßen ziehen und dort ein bitteres Dasein fristen musste, ist am Ziel ihrer langen Reise angekommen. Einige ihre Nachkommen sind jetzt übrigens selbst Juristen im Staatsdienst.