Das Unsichtbare sichtbar machenArtistin

Auf der Straße, unter der Brücke – ohne Wohnung in Wien

Die Doku «Zu ebener Erde» zeigt ein respektvolles und differenziertes Bild von Obachlosigkeit. Mit den Filmemacher_innen Birgit Bergmann, Steffi Franz und Oliver Werani sprachen Christina Steinle und Jenny Legenstein. Das Foto vom Film-Team machte Lisbeth Kovačič.

Plastikfolie als Nässeschutz, Pappe als Wärmedämmung, ein Schlafsack als Bett – wer in der Stadt ohne festen Wohnsitz lebt, improvisiert, um sich vor Feuchtigkeit, Kälte und Blicken zu schützen. Die Langzeitdoku Zu ebener Erde gibt Einblicke in Lebensrealitäten auf der Straße und porträtiert mehrere Menschen ohne Obdach in Wien: Fredl, ein Ex-Soldat, stromert durch die Straßen auf der Suche nach Pfandflaschen, Hedy biwakiert versteckt im Wienerwald, wenn es ihre Zeit zulässt, besucht sie Museen und Vorlesungen, Micha hat zwar inzwischen ein eigenes Zimmer, er erinnert sich an seine Zeit ohne Dach über den Kopf, Katka und Laco sind ein Paar aus der Slowakei, wo ein Auskommen für sie unmöglich ist, hier können sie sich mit Betteln über Wasser halten, für eine Wohnung reicht es natürlich nicht, nur im Winter finden sie in Notschlafstellen Unterschlupf.

Birgit Bergmann, Steffi Franz und Oliver Werani haben die Protagonist_innen ihrer Doku über einen längeren Zeitraum mit und ohne Kamera immer wieder aufgesucht und sie in ihrem Alltag begleitet, Gespräche mit ihnen geführt und stellen sie als eigenständige Persönlichkeiten vor, deren Gemeinsamkeit Obdachlosigkeit bzw. ehemalige Obdachlosigkeit darstellt. Gründe, die zur jeweiligen Situation geführt haben, kommen teilweise zur Sprache, Dinge wie soziale Herkunft, Krankheit, traumatische Erlebnisse, Sucht … spielen eine Rolle. Es geht aber nicht darum, Lebensgeschichten aufzurollen, Stichworte genügen, um die Komplexität der Biografien erkennbar zu machen.

AUGUSTIN: Obdachlosigkeit ist ein Dauerthema, weil es sie leider immer (noch) gibt. Was war der Auslöser für euch, sich damit filmisch auseinanderzusetzen?

Steffi Franz: Es war als Thema damals präsent durch die Stadtparkräumung. (Am 1. 4. 2015 räumte die Polizei Obdachlosenlager im Wiener Stadtpark. Anm.)

Birgit Bergmann: Wir hatten vorher zwei Filme über Wagenplätze gemacht, wo wir selbst auch gewohnt haben (Treibstoff, 2013 und Dreck ist Freiheit, 2014, Anm.). Dann waren wir auf der Suche nach einem neuen Thema, und Obdachlosigkeit war ein Thema, wo wir gesagt haben, das interessiert uns sehr. Es hat ja auch mit dem Thema Wohnen zu tun, daher war es naheliegend, sich damit zu beschäftigen.

Oliver Werani: Außerdem waren wir verwundert, dass es über Obdachlosigkeit in Wien nicht schon einen Film gibt. Es gibt viele Reportagen, aber einen Kinofilm oder eine Langzeitdoku gab es noch nicht.

AUGUSTIN: Was war eure Absicht, was wollt ihr mit Zu ebener Erde zeigen?

Oliver Werani: Eigentlich wollten wir das Unsichtbare sichtbar machen. Man sieht zwar die Menschen, aber nimmt man sie auch wirklich wahr? Ihnen eine Stimme geben, das wollten wir. Wir wollten sie begleiten und ihre Geschichten erfahren.

AUGUSTIN: In den Szenen mit Katka und Laco wird etwas deutlich, das typisch für die Situation wohnungsloser Frauen ist. Nämlich, dass sie sich in Beziehungen zu Männern begeben oder darin bleiben, obwohl sie für sie eigentlich sehr unangenehm sind, um Schutz und Unterstützung zu haben.

Steffi Franz: Das ist bei den beiden eine ganz komplexe Coabhängigkeit. Irgendwie brauchen sie sich und unterstützen einander, und irgendwie ist es aber nicht gut. Es ist sehr schwierig.

Birgit Bergmann: Das ist bei vielen Frauen so. Wir haben mit mehreren Frauen und Sozialarbeiterinnen gesprochen, dass es kein Einzelfall ist. Dass man glaubt, dass man den Partner braucht, um zu überleben oder besser zu überleben.

Steffi Franz: Es stellt sicher auch einen Schutz dar. Wir haben auch ein Interview gemacht mit Katka und Eva, das ist auch eine slowakische Frau, die kurz in dem Film vorkommt. Sie haben uns Geschichten erzählt, was sie erlebt haben auf der Straße.

Birgit Bergmann: Eva war mit einer anderen Frau auf der Straße, was sie erzählt hat, was Männer mit ihnen machen, lässt verstehen, warum Katka mit Laco zusammen ist. Das passiert ihr jedenfalls mit ihm nicht. Es ist echt schwierig als Frau auf der Straße.

AUGUSTIN: Hedy, die zweite weibliche Hauptperson im Film, scheint allein sehr gut zurechtzukommen.

Steffi Franz: Es war sehr, sehr schwer neben Katka noch eine Frau zu finden, die in dem Film mitmachen wollte. Da haben wir sehr lang gesucht. Dann haben wir über das Frauenwohnzentrum der Caritas die Hedy gefunden.

Birgit Bergmann: Wir haben dort eine Hausführung gekriegt. Frau Loibl, die Leiterin, hat uns das Haus gezeigt und in die Runde Anwesender geworfen: Die wollen einen Film machen, gibt´s eine Frau, die mitmachen würde? Und alle haben den Kopf geschüttelt, aber eine Frau hat sich dann umgedreht und gesagt: Das wär was für die Hedy.

Steffi Franz: Ich war an einem anderen Tag wieder dort und Hedy kam hin und hat mich angesprochen. Sie hat mich eigentlich niedergequatscht, aber ich war sehr glücklich, und wir hatten eine super Protagonistin.

AUGUSTIN: Mich hat eure Haltung gegenüber den Leuten sehr beeindruckt. Wie kommt diese Haltung zustande?

Oliver Werani: Es ist eigentlich ganz selbstverständlich, dass wir den Menschen auf Augenhöhe begegnen wollten. Das war uns von Anfang an klar, aber auch, dass wir nichts beschönigen wollen. Das heißt ja auf Augenhöhe. Wenn man so viele Monate und Jahre mit Menschen in irgendeiner Form zusammenarbeitet und Zeit verbringt, entstehen emotionale Bindungen, es entstehen vielleicht sogar sowas wie freundschaftliche Gefühle, oder vielleicht sogar ein schlechtes Gewissen, wenn man sich abends ins Bett legt und weiß, die Katka schläft unter der Brücke.

Birgit Bergmann: Ich glaube, das ist eine generelle Haltung, die wir im Leben haben, jedem Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Das versuchen wir, egal unter welchen Umständen dieser Mensch lebt. Das ist unsere Grundhaltung. Sonst könnte man sowas gar nicht machen.

AUGUSTIN: Zu ebener Erde zeigt verschiedene Einrichtungen wie den Louisebus, die Gruft, Essensausgaben, das sind aber mehr oder weniger punktuelle Unterstützungsangebote für Menschen in Armut. Was wäre eurer Meinung nach etwas, das für wohnungslose, obdachlose Menschen ingesamt hilfreich wäre?

Oliver Werani: Man müsste das System ändern. Ich glaube, wir müssen weg von der patriarchalen, neoliberalen Gesellschaft. Alles andere wird immer wieder Obdachlosigkeit und Armut hervorrufen. Ich will nicht einer Einrichtung, einer Sozialarbeiterin sagen, was sie tun soll oder tun kann, weil da wird so viel getan und da sind so viele Ideen, die brauchen meine Ideen nicht. Ich bin Filmemacher und das will ich auch bleiben.

Steffi Franz: Ich glaube auch, solange es nicht zu einer radikalen Umverteilung kommt, bleibt alles bei einer Symptombehandlung. Danach schaut es jetzt eher nicht aus.

 

Zu ebener Erde

Obdachlos in Wien.

Ein Dokumentarfilm von

Birgit Bergmann, Steffi Franz, Oliver Werani

Ab 28. September im Kino

Am 10. Oktober freuen wir uns auf die Vorführung des Films in Kooperation mit dem AUGUSTIN im Stadtkino im Künstlerhaus (1., Akademiestraße 13).

Im Anschluss daran findet ein Podiumsgespräch zum Thema «Wohnungs/los in Wien» mit den Filmemacher_innen statt. Moderieren wird Ruth Weismann (Redaktion AUGUSTIN).

Beginn: 19.30 Uhr

www.zuebenererde.at

 

Auch die aktuelle Ausgabe von AUGUSTIN TV widmet sich dem Film «Zu ebener Erde».

Abrufbar in der Oktothek:

www.okto.tv/de/oktothek/episode/21268