Das Volk des Engels Pfautun & lassen

Entsetzen in der jesidischen Community in Wien

Augustin-Verkäufer Muraz wäre fassungslos, wenn ihn jemand als «Ungläubigen» bezeichnete. Er ist unter den in Wien lebenden Jesidinnen und Jesiden eine Art Priester. Aus der Sicht der Milizen des «Islamischen Staates» sind die Jesiden nicht nur Ungläubige, sondern auch Teufelsanbeter. Die Angriffe der IS-Milizen seit Beginn August dieses Jahres haben Zehntausende von Jesiden aus dem Irak und aus Syrien zur Flucht gezwungen. Jesidinnen und Jesiden aus Wien gaben dem Augustin Nachhilfeunterricht …

Foto: Mehmet Emir

Normalerweise steht Flit Babayan bei Taufen und Begräbnissen den Jesiden in Österreich als Pir zur Seite (Pir, wörtlich «alter, weiser Mann», ist im türkisch-persischen Raum der Titel eines spirituellen Meisters). Seit Tagen jedoch kümmert er sich auch um Trauernde: Die Nachricht, dass die IS-Milizen die kurdisch sprechende religiöse Minderheit der Jesiden massiv angegriffen haben, hat auch in Wien für großes Entsetzen unter den hier lebenden Jesid_innen gesorgt. Die siebenfache Mutter Xalida Yusiv hat relativ schnell erfahren, dass ihre Brüder und Schwestern auf der Flucht sind: Obwohl die IS-Milizen Wertgegenstände und Handys eingesammelt haben, ist es Xalidas Bruder gelungen, ein Handy zu verstecken. Auf der Flucht in die Berge benachrichtigte er auch seine Schwester, die seit einem Jahr in Österreich lebt. «Alte Menschen und Kranke, die zu schwach sind, um zu marschieren, blieben in den Dörfern zurück», erzählt Xalida mit Tränen in den Augen. Auch sie sind von der Außenwelt abgeschnitten. Khefshi Mito Qasim, deren Eltern ebenfalls in ?engal leben, hat seit Beginn des Angriffs keine Nachricht von ihren Verwandten erhalten.

Die schwarz angezogenen Frauen lassen Xalida und Khefshi nicht allein, die sich Sorgen um ihre Familienmitglieder im Nordirak machen. Seit Anfang August befinden sich laut UN rund 200.000 Menschen auf der Flucht vor IS-Kämpfern, die das mehrheitlich von Jesiden bewohnte Gebiet ?engal eingenommen haben.

«Die Massaker an Jesiden haben eine lange Tradition», meint Pir Babayan. Die Anhänger der monotheistischen Religion bilden eine der ältesten Einwohnergruppen des Nahen Ostens. Sie werden seit Jahrhunderten aufgrund ihrer Religionsphilosophie diskriminiert, wobei sie sowohl von ihren muslimischen als auch von ihren christlichen Nachbarn in der Region als «Teufelsanbeter» diffamiert werden. Ungeachtet dessen, dass Jesiden den Begriff «Teufel» als Gegenpart zum allmächtigen Gott nicht akzeptieren, sind sie den Vorwürfen, den Satan zu verehren, ausgesetzt.

Ein Engel, der sich weigert, vor dem Menschen zu knien

Wegen der religiösen Verfolgungen und als Schutz vor ihrer Umgebung schotteten sich die Jesiden ab, «was zur Entstehung vieler erfundener und falscher Berichte und über sie geführt hat», schreibt die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Göttingen, Khanna Omarkhali, in ihrem Aufsatz «Jesidismus» im Handbuch der Iranistik. Dies ist einer der Gründe, weshalb die Religion bis heute nur mündlich weitergeben wird. Die Entstehung des Jesidentums kann nicht genau datiert werden. Omarkhali betont jedoch, dass es sich um eine Religion mit Elementen aus anderen Religionen und Ritualen aus alten indoiranischen Glaubenslehren handelt.

Ein blauer Pfau ist das Smbol der Gemeinschaft – er steht für Tawusi Melek, den Engel Pfau. Jesiden, die an einen Gott glauben, ehren den Engel Pfau als Oberhaupt von insgesamt sieben Engeln, den Gott mit allen irdischen Angelegenheiten beauftragte. In der Mythologie der Jesiden weigerte sich Engel Pfau, vor dem ersten Menschen zu knien. Im Gegensatz zu den abrahamitischen Religionen bestand er damit den Test Gottes, niemanden außer Gott zu verehren und anzubeten. Somit ist er kein gefallener Engel und symbolisiert keinesfalls das Böse – ganz im Gegenteil: Das Jesidentum kennt keine Personifizierung des Bösen. Der Mensch hat einen freien Willen und trägt die Verantwortung für seine Taten; das Böse existiert also nur im Menschen selbst.

Eine weitere Besonderheit des Jesidentums ist, dass es weder ein Paradies noch eine Hölle kennt. Jesiden glauben an die Seelenwanderung. Wenn also ein Jeside etwas Böses tut, so kommt er – nach jesidischem Glauben – nochmals auf die Erde und bekommt somit eine weitere Gelegenheit, um Gutes zu leisten.

1000 Jesidinnen und Jesiden in Österreich?


Der Augustin-Verkäufer Muraz Afo Avdalyan kann die Trauer, Angst, Wut und Sorge jener, deren Familien in ?engal leben, gut nachvollziehen. Als Scheich (ähnlich wie Pir ein spiritueller Titel) kümmert sich Avdalyan für die religiösen und geistlichen Fragen der Jesiden in Österreich. Er führt Zeremonien wie die Taufe der Neugeborenen oder Hochzeit der frischverheirateten Paare durch, schlichtet Konflikte unter Jesid_innen und ist allgemein für die Aufrechthaltung und Weitergabe des jesidischen Glaubens und der Tradition zuständig. Avdalyans Großeltern mussten ihre Heimat in der heutigen Türkei fluchtartig verlassen und entkamen einem Massaker. «Das Traurige daran ist, dass damals Kurden die zurückgelassenen Häuser ihrer jesidischen Landsleute plünderten», so Avdalyan. Der Angriff des IS-Terrormilizen scheine jedoch die Kurden zu vereinen. So kämpfen heute Peschmergas aus dem irakischen Kurdistan und Guerillas aus dem syrischen und türkischen Kurdistan in ?engal gegen den IS.

Die Mehrzahl der Jesid_innen sprechen das nordkurdische Kurmandschi. Die Anzahl der Jesid_innen wird auf 800.000 Anhänger_innen weltweit geschätzt. Ein Großteil lebt heute im Gebiet um ?engal im Norden des Iraks. Aufgrund vieler Verfolgungswellen während der osmanischen Zeit flüchteten viele Jesid_innen nach Kaukasien, insbesondere nach Georgien und Armenien. Die massiven Repressionen Anfang der 80er-Jahre gegen die sie führte zu einer Flüchtlingswelle aus der Türkei nach Europa. Sie sind in Vereinen organisiert, die jedoch nicht offiziell eingetragen sind. Aziz Süleyman, der Vorstand des Vereins «Jalyed Ezidi» schätzt die Zahl der in Österreich lebenden Jesiden auf 500 Personen und in ganz Österreich auf 1000.

Hülya Tektas

Info:

Solidaritäts- und Verkaufsausstellung für die Jesid_innen in Kurdistan

Café Solin

Währinger Gürtel 162/2

1090 Wien