Das «Von-Natur-aus-faul»-Klischeetun & lassen

Schon 1955 schlug Erich Fromm ein Grundeinkommen vor

Erich Fromm, der große Denker, der die Theorien Freuds mit dem Marxismus vermählen wollte, sollte 31 Jahre nach seinem Tod wieder intensiver gelesen werden. Klaus Widerström, Sozialphilosoph und Sozialpsychologe, Vorstandsmitglied der Tübinger Fromm-Gesellschaft, nannte in einer Veranstaltung im Rahmen der Grundeinkommens-Woche (mehr davon auf Seite 6) einen von vielen Gründen, sich erneut dem deutsch-amerikanischen Intellektuellen zuzuwenden.

Der «Geist unserer heutigen Industriegesellschaft» bestehe darin, dass der Mensch sich «in einen homo consumens verwandelt» hat, der sich durch «einen grenzenlosen Hunger nach immer mehr Konsum auszeichnet.» So Erich Fromms Diagnose der Gesellschaft der Sechzigerjahre. Seit dieser Zeit lässt sich meines Erachtens eine gewisse Entwicklung weg von einer plumpen Konsumgläubigkeit feststellen. Dennoch ist die grundsätzliche Ausrichtung auf maximalen Konsum für weite Teile der Gesellschaft noch immer dominant, denn darauf basiert schließlich das kapitalistische Wirtschaftssystem.

«Man müsste», so Fromm, «in der Industrie weitgehend von der Produktion von Gütern für den individuellen Verbrauch zur Produktion von Gütern für den öffentlichen Verbrauch übergehen Anders gesagt, sollte man den Nachdruck auf die Produktion von Dingen legen, die der Entfaltung von innerer Produktivität und Aktivität des Einzelnen dienen. Ein solcher Übergang … zum optimalen Konsum würde drastische Veränderungen in den Produktionsmustern und außerdem eine radikale Verminderung der Werbung … erforderlich machen» (1966). Man könnte ohne weiteres von einer revolutionären Neuausrichtung der Arbeitswelt sprechen, die er hier fordert, und die unser ganzes Leben verändern würde.

Wären Effizienz, Produktivitätssteigerung und maximaler Profit nicht mehr die alles entscheidenden Kriterien, dann wären viele der praktischen Vorschläge Fromms realisierbar. Hier eine Auswahl, die sich auf die Sphäre der Arbeit

bezieht. Fromm empfiehlt zum Beispiel:

das Arbeiten in kleinen eigenverantwortlichen Gruppen (was in den Sechzigerjahren noch die seltene Ausnahme war)

eine wirksame aktive Mitbestimmung aller Arbeitnehmer im Unternehmen

eine gemeinsame Betriebsleitung

die Veränderung der Besitzrechte an Produktionsmitteln zugunsten der Arbeitnehmer

eine deutliche Reduzierung der Arbeitszeit (die übrigens schon 1965 in der BRD bei durchschnittlich 40 Stunden lag), aber auch

ein Mitspracherecht der Verbraucher bei der Produktion usw.

Als Bertrand Russell anarchistelte

In logischer Verbindung und sozusagen verzahnt mit diesen und anderen Vorschlägen also nicht etwa isoliert schlägt er dann ein «garantiertes Existenzminimum» vor. An anderen Stellen nennt er es «garantiertes Jahreseinkommen» oder bezeichnet es als «jährliches Mindesteinkommen».

Erstmals unterbreitet Fromm die Idee eines «garantierten Existenzminimums» in seinem Buch «Wege aus einer kranken Gesellschaft» im Jahre 1955. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es bis zu diesem Zeitpunkt nach meinen Recherchen kaum eine öffentliche Diskussion über ein die Existenz sicherndes und dazu bedingungsloses Grundeinkommen. Lediglich 1942 gab es in England, als man im britischen Parlament ein neues Sozialversicherungssystem diskutierte, einen Vorschlag mit einem vergleichbaren Tenor.

Fromm hat sich darauf nirgends bezogen, so dass wir davon ausgehen können, dass ihm dieser Vorschlag nicht bekannt war. Somit dürfen wir Erich Fromm tatsächlich als einen wichtigen Initiator der Diskussion zu einem Grundeinkommen betrachten! Als einzige Quelle nennt Fromm in «Wege aus einer kranken Gesellschaft» den Philosophen Bertrand Russell in einer Fußnote, ohne ihn jedoch zu zitieren. Russell hatte in seinem Buch «Wege zur Freiheit» bereits 1918 Sozialismus und Anarchismus analysiert und dort seinerseits diverse Sozialisten und Anarchisten zitiert. Am Ende des Buches kommt Russell hauptsächlich die Ideen des Anarchisten Petr Kropotkin aufgreifend zu folgendem eigenen Vorschlag: «Wir sahen, dass es keinen vernünftigen Grund gibt, die lebenswichtigen Güter nicht allen kostenlos zu liefern … Man könnte leicht verordnen, dass alles, was über die (kostenlose) Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse hinausgeht, nur diejenigen erhalten sollen, die arbeitswillig sind.

Einfacher formuliert, läuft unser Vorschlag auf Folgendes hinaus: Jedem, ob er arbeitet oder nicht, sollte ein kleines, zur Befriedigung der Grundbedürfnisse erforderliches Einkommen sicher sein. Dies wäre das Fundament.» Viele der Pro- und Contra-Argumente und deren Einschätzung sind bei Fromm und Russell sehr ähnlich.

Wer das Recht auf Leben ernst nimmt …

Mit Beginn der Sechzigerjahre setzte in den USA allerdings eine breite Diskussion ein. Es war insbesondere der US-Ökonom Robert Theobald, der diese Diskussion in Gang brachte. Ihm ging es vor allem um die Bekämpfung der Armut in den von ihm erwarteten Zeiten zunehmender Arbeitslosigkeit. 1966 gab Theobald eine Aufsatzsammlung mit dem Titel «The Guaranteed Income» als Buch heraus, in dem neben vielen anderen auch Erich Fromm mit seinem bekannten Aufsatz zu den psychologischen Aspekten eines garantierten Einkommens vertreten ist.

Wie nun sieht Erich Fromms Vorschlag zu einem «garantierten Existenzminimum» im Detail aus? Man findet Einzelheiten dazu in «Wege aus einer kranken Gesellschaft» (1955), in dem Aufsatz «Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Einkommens für alle» (1966), in «Die Revolution der Hoffnung» (1968) sowie in «Haben oder Sein» (1976).

Fromm bringt zwei verschiedene Varianten der Realisierung seines Vorschlags zu einem Existenzminimum in die Diskussion:

Die Zahlung eines garantierten und bedingungslosen Mindesteinkommens (in Geld);

Das Angebot einer kostenlosen Zurverfügungstellung von Gebrauchsgütern und Dienstleistungen.

Letztgenannte Variante sei zwar «radikaler und daher weniger akzeptabel», jedoch bereite sie weniger Widerstände, weil sie wie er damals meinte «innerhalb des gegenwärtigen Systems» durchführbar sei. Man könne damit beginnen, zunächst die wichtigsten Grundnahrungsmittel kostenlos abzugeben, später dann «sämtliche Gebrauchsgüter, insofern sie zur minimalen materiellen Grundlage … gehören».

Die ausführlichen Analysen Fromms beziehen sich allerdings hauptsächlich auf seinen ersten Vorschlag einer regelmäßigen Geldzahlung. Für die Betrachtung der Details sind folgende Fragen hilfreich:

Was waren Fromms Hauptmotive für ein garantiertes Existenzminimum?

Welche Empfehlungen gibt er zu Einführung und Gestaltung?

Was sagt er zu Höhe und Dauer der Leistung?

Welche Einwände Dritter erwartet er?

Wie ist seine Einschätzung der Kosten für die Gesellschaft?

Welche Probleme sieht er und

Wie sind die Realisierungsvoraussetzungen und -chancen?

Als erstes Hauptmotiv für seinen Vorschlag nennt Fromm das «Prinzip , dass der Mensch unter allen Umständen das Recht hat zu leben. Dieses Recht auf Leben» schließe «Nahrung und Unterkunft, medizinische Versorgung und Bildung» usw. ein und sei ein «dem Menschen angeborenes Recht, das unter keinen Umständen eingeschränkt werden darf», nicht einmal im Hinblick darauf, ob der Betreffende für die Gesellschaft «von Nutzen ist».

Auch «Freiheit» ist ein Motiv; ein garantiertes Existenzminimum wäre seiner Meinung nach «nicht nur der Anfang einer echten Vertragsfreiheit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, es würde auch den Freiheitsbereich in den zwischenmenschlichen Beziehungen im täglichen Leben ungemein vergrößern», weil «der fundamentale Zwang wirtschaftlicher Gründe in den gesellschaftlichen und privaten Beziehungen beseitigt und jedem seine Handlungsfreiheit wiedergegeben wäre».

Strikt gegen einen Bedürftigkeitsnachweis

Als drittes Motiv spricht Fromm bereits damals von einer zu erwartenden «strukturbedingten Arbeitslosigkeit», die das Gefühl der Unsicherheit der Menschen verstärke und «für die allermeisten nur sehr schwer zu ertragen» sei. Gerade jetzt wieder in Zeiten der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise lässt sich diese Beobachtung ohne weiteres bestätigen.

Wichtig erscheint Fromm, dass niemand einen «Bedürftigkeitsnachweis» zu erbringen braucht, weil «das ganze Prinzip nichts mehr wert wäre, wenn wir bürokratische Methoden einführten, die den Nachweis verlangten, dass der Betreffende tatsächlich sein Zeit gut verwendet.» Damit wäre auch vermeidbar, dass Betroffene «gedemütigt» würden.

Zur Höhe des Existenzminimums meint Fromm: Notwendig sei «ein Einkommen, das die Grundlage für eine menschenwürdige Existenz ist». Er nennt keine Beträge, gibt aber doch einen Anhaltspunkt: Es «müsste deutlich unter dem niedrigsten Arbeitslohn liegen, um bei den Arbeitenden nicht Groll und Empörung hervorzurufen.» Allerdings «müsste das gegenwärtige Lohnniveau gleichzeitig beträchtlich angehoben werden», wenn eine «bescheidene, aber ausreichende materielle Existenz» sichergestellt werden solle.

In «Wege aus einer kranken Gesellschaft» sieht Fromm eine zeitliche Begrenzung der Zahlung als erforderlich an. Er schreibt dort, dass es «auf zwei Jahre, begrenzt bleiben solle, um nicht eine neurotische Haltung zu erzeugen, bei der der Betreffende sich sozialen Pflichten jeder Art entzieht.» In seinen späteren Texten greift er diesen Punkt meines Wissens nicht mehr auf.

Als Hauptargument gegen ein Existenzminimum erwartet Fromm den Einwand, «dass niemand mehr arbeiten wollte, wenn jeder einen Anspruch auf dieses Existenzminimum hätte», dass also «die Arbeitsmotivation beeinträchtigt würde». Er hält dagegen, dass zum einen die Ansicht «von der der menschlichen Natur eigentümlichen Faulheit» falsch sei und zum anderen «der materielle Anreiz keineswegs das einzige Motiv ist, um zu arbeiten und sich anzustrengen.»

Vielmehr seien «Interesse an der Arbeit Stolz auf die eigene Leistung … und Streben nach Anerkennung» ebenso wichtige Motive. Schließlich ist es außerdem offensichtlich, dass «der Mensch unter den Folgen von Untätigkeit leidet». Das Klischee, dass der Mensch von Natur aus faul sei, ist nichts weiter, als «ein Schlagwort, das zur Rationalisierung der Weigerung dient, auf das Bewusstsein der Macht über die Schwachen und Hilflosen zu verzichten.»

Nicht der in Wien gehaltene Vortrag Widerströms, sondern ein 2009 für die Erich-Fromm-Gesellschaft gehaltenes Referat wird hier in gekürzter Fassung wiedergegeben. Weitere Infos: www.erich-fromm.de