Das WahrheitspulverDichter Innenteil

In seiner heruntergekommenen Wohnung, inmitten von Laborgeräten, wachte M. spät am Nachmittag auf. In der vorangegangenen Nacht war ihm der große Durchbruch gelungen, eine neue Entdeckung, die die Geschichte der Menschheit verändern würde.

Illustration: Karl Berger

Das neue Produkt war nach 20-jähriger unermüdlicher Forschungsarbeit endlich fertig. Er nannte das unscheinbare Pulver «Wahrheitspulver». Es befähigte jeden, der davon nahm, die Gedanken der Leute in seiner Nähe zu lesen. Damit würde er die wahren Gefühle und Gedanken seiner Umgebung immer kennen und nie mehr getäuscht werden. Das wird auch das Ende jeder Illusion sein und seinem Besitzer eine unendliche Macht verleihen.

Wie so viele große Wissenschaftler vor ihm wählte M. sich selbst als erstes Versuchsobjekt. Er mischte eine kleine Portion Pulver mit Wasser, trank es und ging dann hinunter auf die Straße. Es dunkelte schon und ein junger Mann kam ihm entgegen. Als er einige Meter von ihm entfernt war, sah M., wie sich im Gehirn des jungen Mannes der Gedanke bildete, ihn niederzuschlagen und zu berauben. Er brauchte dringend den nächsten Schuss Heroin. Er hielt das Klappmesser in seiner Manteltasche schon griffbereit. M. lächelte ihn demütig an und bat um eine milde Gabe, da er seit Tagen nichts gegessen habe. Er sah klar, wie sich im Kopf seines Gegenübers die Raubabsicht auflöste und Wut ausbreitete. Der junge Mann gab M. einen verächtlichen Stoß und schritt weiter. Ein ungeheurer Triumph durchfuhr M. und er lachte laut – das erste Mal in seinem Leben. Er lachte über die Welt, die ihn nicht kannte und die bald etwas erleben würde. Niemand hätte in diesem älteren, unscheinbaren Mann, der im Winter und im Sommer den gleichen von Motten zerfressenen Mantel und zwei verschiedenfarbige Socken trug und in einer trostlosen Einzimmer-Wohnung in einer Mietskaserne hauste ein Genie vermutet, das gerade eine große Entdeckung gemacht hatte.

M. summte fröhlich das Lied «Die Gedanken sind frei …» und dachte dabei: «Mit dieser Freiheit ist jetzt aber Schluss!»

Die Hausmeisterin im Stiegenhaus wich entsetzt vor dem laut singenden M. zurück. Zu Hause warf er sich auf sein schmutziges Bett und fiel in einen süßen Schlaf.

Das bisherige Leben von M. war erfolglos verlaufen. Er wuchs bei seiner Mutter, einer alkoholkranken Kellnerin, auf. Seinen Vater kannte er nicht.

In der Schule störte und schwänzte er

M. galt als fauler Einzelgänger. In der Schule störte und schwänzte er nur und landete schließlich auf der Sonderschule. Seine hohe Begabung für die Naturwissenschaften bemerkte lange niemand. Als Drogerielehrling holte er die Matura an der Abendschule nach, schloss ein Chemiestudium mit Auszeichnung ab und arbeitete 25 Jahre bei einem großen Chemiekonzern.

Durch zahlreiche kleinere Erfindungen steigerte er den Umsatz der Firma. Doch sein Vorgesetzter gab alle diese Erfindungen als seine eigenen aus. M. sah weder Ruhm noch Geld. Als er endlich seinen Mut zusammennahm und gegen seinen Chef rebellierte, wurde er mit 50 Jahren fristlos entlassen. Seit zehn Jahren lebte er nun von der Sozialhilfe und arbeitete wie besessen an seiner neuen Erfindung.

M. sah weder Ruhm noch Geld

Sein Privatleben verlief genauso trostlos. Da er mehr Interesse an Substanzen und Stoffen als an seinen Mitmenschen hatte, gingen die wenigen Beziehungen mit Frauen nach kurzer Zeit in die Brüche. Eine Frau überredete ihn nach einer kurzen Affäre zur Ehe. Die beziehungsgeschädigte Frau hielt diesen unattraktiven Mann für einen verlässlichen Partner, der sie mangels Alternative nie betrügen oder verlassen würde. Die Ehe ging schief. M. kümmerte sich weder um sie noch um die zwei Kinder, die während der fünfjährigen Ehe geboren wurden. Die Frau ging dauernd fremd, doch M. bemerkte das nicht, weil er nur für seine Arbeit lebte. Die Frau ließ sich schließlich scheiden. Die Vaterschaftstests bewiesen, dass M. unmöglich der Vater der Kinder sein konnte. Er war sehr erleichtert, da er keine Unterhaltszahlungen zu leisten hatte. Von nun an lebte er allein und widmete sich nur mehr der Forschung. Freunde hatte er nie, seine Kollegen mochten ihn nicht. Die Hausparteien fanden ihn unheimlich. Das Gerücht ging um, er wäre ein entlassener Sexualstraftäter. So machten die Nachbarn einen weiten Bogen um ihn. Nur ein einziger Nachbar grüßte ihn immer freundlich. Er war ein junger Versicherungsangestellter und wollte ihn zu einer Lebensversicherung überreden. Diesen Mann wählte M. als sein nächstes Versuchsobjekt aus.

Am nächsten Abend lud er ihn zu einem Kaffee ein und gab vor, an einer Lebensversicherung interessiert zu sein, und verwickelte ihn in ein persönliches Gespräch. Der junge Mann erzählte strahlend von seiner baldigen Hochzeit. Seine Verlobte käme aus Moldawien. Er lernte sie vor zwei Monaten in einem Lokal kennen, wo sie als illegale Tellerwäscherin schuftete. Es wäre für sie beide die große Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Der junge Mann war in Eile – er hatte noch am gleichen Abend ein Rendezvous mit seiner Verlobten. M. unterschrieb schnell den Versicherungsvertrag und schüttete dabei unbemerkt eine Portion Pulver in den Kaffee seines Nachbarn.

Am nächsten Abend wartete er gespannt auf die Rückkehr des jungen Mannes. Doch er kam nicht wie gewohnt nach Hause. In der Früh kamen zwei Polizisten und befragten die Hausbewohner. M. erfuhr, dass der junge Mann in der vorangegangenen Nacht Selbstmord begangen hatte. Nach einem heftigen Streit mit seiner Verlobten ging er ins Wasser.

«Jede Erfindung erfordert seine Opfer», dachte sich M. Ein schlechtes Gewissen plagte ihn nicht, denn er hatte keines.

In seiner alten Firma

Das Pulver wirkte also bei jedem Menschen. Jetzt musste es M. der Welt bekannt machen. Am nächsten Tag erschien er in seiner alten Firma. Die Sekretärin ließ ihn nicht zum Direktor. Doch M. wartete geduldig auf dem Gang, bis der Direktor aufs WC ging, und stellte sich ihm dann in den Weg. Da er keinen anderen Weg sah, M. loszuwerden, willigte der Direktor schließlich ein, ihm fünf Minuten seiner kostbaren Zeit zu schenken. M. schilderte seine Erfindung und der Direktor hörte ungläubig zu. M. schlug ihm vor, das Produkt an sich selbst zu testen. Der Direktor lehnte entrüstet ab: So ein Produkt hätte sicher furchtbare, noch unbekannte Nebenwirkungen. Eine Person in so einer wichtigen Position wie er könne ein solches Risiko doch nicht eingehen. Darauf nahm M. selbst etwas vom Pulver, doch nicht einmal das beruhigte den Direktor. Schließlich einigten sie sich, die Substanz an der bosnischen Putzfrau auszuprobieren.

Der Direktor rief sie herein. Er würdigte ihren langjährigen Dienst in der Firma und stellte eine Gehaltserhöhung in Aussicht und bot ihr etwas Slibowitz mit dem Pulver an. Die Putzfrau war sehr überrascht. In den 25 Jahren ihrer Tätigkeit hatte der Direktor noch nie mit ihr auch nur ein Wort gesprochen und eine Gehaltserhöhung hatte sie auch noch nie bekommen. Sie trank den Slibowitz aus und wurde gleich wieder zu ihrer Arbeit zurückgeschickt. Der Direktor versprach, die Putzfrau zu beobachten und M. am nächsten Tag anzurufen.

M. verließ die Firma und fuhr siegessicher nach Hause. Unterwegs fand er es lustig, in der Straßenbahn in die Köpfe der Leute zu schauen und ihre Gedanken zu lesen, ohne dass sie es bemerkten.

Unser gemeinsames Produkt wird uns weltberühmt machen!

Am nächsten Tag rief er in der Firma an. Der Direktor war aufgeregt: Die Bedienerin hatte ihre Arbeit noch am Vortag verstört verlassen und am nächsten Tag telefonisch gekündigt. Nie wieder wollte sie mit solchen Leuten zusammenarbeiten. Ihr seien die Augen plötzlich aufgegangen und der Charakter ihrer bisherigen Kollegen klar geworden. Der Direktor bat M. größere Mengen vom Pulver zu erzeugen und in die Firma zu bringen. Die Firmenleitung interessiere sich brennend dafür. Plötzlich duzte er M.

«In der Zukunft werden wir wieder zusammenarbeiten. Du übernimmst die Produktion des Pulvers und ich das Marketing. Unser gemeinsames Produkt wird uns weltberühmt machen», sagte er am Telefon.

M. stürzte sich in die Arbeit und erzeugte große Mengen des Pulvers. Er arbeitete unermüdlich bis spät in der Nacht. Im Morgengrauen zündete er eine Zigarette an und legte sich auf sein Bett. Bald fiel er in einen tiefen Schlaf. Er träumte vom Ruhm und vom Geld, das er aber mit niemandem teilen würde.

Die Zigarette fiel auf den schmutzigen Teppich. Das Feuer breitete sich schnell aus, es gab mehrere Explosionen im Labor. Das alte Mietshaus brannte vollständig ab. Die Hausbewohner konnten von der Feuerwehr gerettet werden. Mit Ausnahme von M. Er erstickte an Rauchgasen. Nur seine verkohlte Leiche wurde gefunden. Das Wahrheitspulver verdampfte vollständig.

«Er hätte uns alle umbringen können!», sagte die Hausmeisterin der Kronen Zeitung, «Ich ahnte schon immer, dass er ein Monster ist.»

M. verschwand aus der Erinnerung der Menschen. Nur der Konzerndirektor trauerte ein Leben lang um ihn.