«Das Wechselmodell kann Konflikte triggern»tun & lassen

Die geplante Neuregelung des Kindschaftsrechts will die gemeinsame Verantwortlichkeit der Eltern betonen. Der Augustin hat mit dem deutschen Psychologen und Autor von Trennungskinder Claus Koch gesprochen und ihn gefragt, was die betroffenen Kinder brauchen.

INTERVIEW: DAGMAR WEIDINGER

Im türkis-grünen Regierungsprogramm steht eine Novelle des Kindschaftsrechts. Diese könnte bald in Begutachtung gehen. Betreuungspflichten sollen nach einer Trennung automatisch zu je mindestens einem Drittel zwischen den Eltern aufgeteilt werden. Damit verbunden sind die gleichen rechtlichen Entscheidungsmöglichkeiten für beide Elternteile (momentan noch als Obsorge bezeichnet).

Kritische Stimmen aus den Reihen der Gewaltschutz- und Frauenvereine ­sehen in der neuen Novelle Kooperation auf Zwang, die nicht funktionieren ­könne. Dies würde wiederum zu einer Verlängerung der Gerichtsverfahren ­sowie zu vermehrter Strittigkeit führen. Was ­sagen Sie als Psychologe dazu?
Claus Koch: Die Rechtsprechung tendiert seit einigen Jahren dazu, das Doppelresidenzmodell durchsetzen zu wollen. Es gibt diesbezüglich eine Empfehlung des Europarats, und auch in Deutschland plädiert der Bundesgerichtshof dafür, dem nachzukommen. Das mag passen für Eltern, die auch nach der Trennung als Eltern gut ­miteinander kooperieren können. Wir sprechen dann von erfolgreichem Co-Parenting. Wir ­sehen jedoch, dass etwa ein Fünftel aller Trennungskonflikte eskalieren und es zu sogenannten strittigen bzw. hochstrittigen Verläufen kommt. Es ist eine Illusion zu glauben, dass Eltern, die sich im Streit trennen, danach ­sofort ein ­kooperatives Modell leben können. In meiner ­Praxis erlebe ich, dass das Wechsel­modell bei strittigen Eltern zu ständigem Streit führt. Dann kommt es zu Vorwürfen wie «Du erlaubst in deiner Woche zu viel» oder «Wenn das Kind die Woche bei dir ist, kommt es verstört zu mir zurück». Man muss sich darüber im Klaren sein, dass ein Wechselmodell – ob nun in der Aufteilung 50:50 oder 1/3 zu 2/3 – viele Konflikte triggern kann.

Befürworter:innen gleichteiliger Betreuungsmodelle argumentieren mit dem Vorhandensein vieler Studien in Ländern wie Belgien, Dänemark oder Skandinavien …
Tatsächlich liegen bislang noch keine aussagekräftigen, die jeweiligen Modelle untereinander vergleichenden Langzeitstudien vor, denn dazu ist das Wechsel­modell einfach zu neu. Die meisten Studien aus Skandinavien oder Dänemark wurden außerdem in Familien durchgeführt, die von sich aus im Sinne des Co-Parentings die Doppelresidenz wählten. Die hoch konflikthaften Fälle werden also ausgeklammert. Genau für diese Familien bräuchte es jedoch eine Rechtsprechung, die rasch und klar im ­Sinne des Kindeswohls entscheiden kann.

Wie geht es den betroffenen Kindern?
Streit muss an sich nichts ­Negatives sein. Kinder können auch in solchen Situ­ationen etwas lernen. Streiten ihre Eltern jedoch ständig, empfinden Kinder starke Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Wir wissen aus der Stressforschung, dass Kinder ­relativ widerstandsfähig in Bezug auf ­kürzere Stressphasen sind. Besteht dieses Stresslevel über ­Jahre, zermürbt das die ­resilientesten Kinder. Psychoso­matische Beschwerden wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder ­erhöhte Ängstlichkeit können die Folge sein. Diese Kollateralschäden nimmt man in Kauf, wenn man versucht, kooperative Modelle auch in strittigen Fällen durchzusetzen. Im Übrigen zeigen sämtliche vorhandenen Studien, dass sich Hochstrittigkeit, besonders wenn sie zu gerichtlichen Auseinandersetzungen führt, negativ auf die psychische Gesundheit der Kinder auswirkt, mit Folgen bis ins Erwachsenenalter.

Aber könnte nicht gerade die «geteilte elterliche Betreuung» zur Entspannung der Konflikte führen, da Rechte und Pflichten möglichst gerecht aufgeteilt werden sollen?
Das halte ich für ziemlich praxis- und alltagsfern. Kinder können ja auch krank werden oder ein Elternteil muss aus beruflichen Gründen eine Geschäftsreise machen, sodass dieser in seiner Zeit ein Betreuungsproblem hat. Eltern, die sich nach wie vor gut verstehen, können sich in so einem Fall leicht einigen. «Du hast eine Geschäftsreise, also übernehme ich das Kind noch etwas länger», heißt es dann. Unter strittigen Eltern kommt sofort der Vorwurf: «Du und deine Geschäftsreisen! Immer muss ich wegen dir meine Pläne ändern!» Die Kinder werden dann nicht selten einfach zum anderen Elternteil hinübergeschaufelt, der sie dann bei seiner Mutter oder seiner Schwester parkt. Das wiederum passt dem anderen natürlich überhaupt nicht usw.
In der Vergangenheit wurde immer wieder gesagt, Väter ohne «verbrieftes Recht» würden sich aus der Betreuung zurückziehen. Befürworter:innen der Novelle glauben, Väter durch diese Neuregelung fix für die Betreuung ihrer Kinder ins Boot holen zu können.
Was stimmt, ist, dass die Anordnung eines Residenzmodells im Falle von Hochstrittigkeit dazu führen kann, dass sich ein Elternteil stark benachteiligt fühlt. Wer das Kind weniger hat, sieht sich als Verlierer, der übergangen oder sogar ausgeschlossen wurde. Ich erlebe, dass dies gerade bei Vätern häufig zu verdeckten oder offenen Aggressionen den Müttern gegenüber, bis hin zu Misogynie führt. Das müsste auf jeden Fall vermieden werden.

Wie kann das gelingen?
In strittigen Fällen plädiere ich für das Residenzmodell, da es im Alltag das einzig praktikable ist. Kinder brauchen in solchen Situationen zuallererst ein Basislager, einen sicheren Hafen. Das Hin- und Herziehen zwischen Eltern, die sich streiten, erzeugt noch mehr Stress, als wenn die Kinder bei einem Elternteil bleiben. Das ist allerdings eine rein pragmatische Lösung – nach dem ­Motto: Was schadet den Kindern immer noch am wenigsten? Längerfristig sehe ich auch beim Residenzmodell einen gewissen Spielraum, der sich nutzen lässt und der helfen kann, die Aggressionen auf der Seite dessen, der sich benachteiligt fühlt, abzubauen. Was ich vorschlagen würde, wäre eine Art «Residenzmodell +». Das würde bedeuten, dass Kinder nicht nur jedes zweite Wochenende beim nicht-hauptbetreuenden Elternteil verbringen, sondern zum Beispiel zusätzlich den Freitag oder Montag bleiben. Das ermöglicht es dem Kind auch, die Alltagsrealität des anderen Elternteils kennenzulernen.

Dass Kinder den nicht hauptbetreuenden Elternteil auch zumindest einen weiteren Tag unter der Woche sehen, wird in Österreich in vielen Fällen bereits gelebt. Nun soll es zu einer Ausweitung der Betreuungszeit kommen, sodass jeder Elternteil mindestens ein Drittel der Zeit mit dem Kind verbringt. Dies entspricht in der Praxis einer Aufteilung von 2,5 zu 4,5 Tagen pro Woche, was wiederum rund 9 Wechsel pro Monat bedeuten würde. Ist das sinnvoll, und wenn ja, ab welchem Alter?
Wir haben viele Studien aus Skandinavien zum Co-Parenting, die besagen, dass kooperative Modelle am besten im Alter von sechs bis zwölf Jahren funktionieren. Das «Residenzmodell +» oder Wechselmodell wäre also für diese Altersgruppe am ehesten denkbar. Kinder bis zum Schulanfang haben noch viel zu starke Verlustängste. Gehen die Eltern in dieser Zeit auseinander, fragen sie sich: Wer bleibt jetzt für mich da? Wenn der eine geht, kann ja auch der andere gehen. In der Pubertät wiederum sagen viele Jugendliche: Ich habe keinen Bock mehr auf das Hin- und Herziehen. Die Peergroup gewinnt in dieser Zeit immer mehr an Bedeutung. Selbständige Kinder können dann außerdem von sich aus den anderen Elternteil besuchen.

Welche Faktoren spielen noch eine ­Rolle, wenn es um die Aufteilung der ­Betreuungszeit geht?
Das Wichtigste ist die Beziehung, die das Kind vor der Trennung zu beiden Elternteilen hatte. War das Kind zum Beispiel bis zum Alter von sechs Jahren hauptsächlich bei der Mutter, weil der Vater beruflich viel unterwegs war, ist das eine andere Situation, als wenn der Vater immer schon viel betreut hat. Außerdem spielt das Naturell des Kindes eine ­Rolle. Jedes Kind reagiert anders auf eine Trennungssituation. Es gibt Kinder, die sich emotional stark mit dem einen oder anderen Elternteil verbunden fühlen, sie sind vielleicht insgesamt ängstlicher und anhänglicher und suchen mehr Nähe. ­Andere Kinder wiederum sind autonomer und selbstbewusster. All das muss in eine Lösung einbezogen werden. Leider haben viele Gerichte nicht die Zeit, sich so intensiv mit sämtlichen Faktoren auseinanderzusetzen.

Claus Koch arbeitet seit 40 Jahren als Diplompsychologe und Bindungsexperte u. a. in der Beratung und Therapie von Trennungsfamilien. Er ist Autor des Buches Trennungskinder (Patmos 2019).

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